Böses Denken: Die normative Kraft von Dichotomien

Dualismen werden oft als böses Denken zurückgewiesen, böse deshalb, weil sich mit der Binarität vielfach Hierarchisierungen und Normalitätsvorstellungen verbinden, aus denen Normen werden.[1] Das ist in der Tat ein Problem. Das Problem folgt aber nicht aus Dualismen als solchen, sondern aus der sozialen Praxis ihrer Verwendung.

Die dualistische Struktur ist für das kognitive System attraktiv.

»Es scheint, daß die Existenz einer großen Zahl von Antonymen und komplementären Ausdrücken im Wortschatz natürlicher Sprachen mit einer allgemein menschlichen Neigung zusammenhängt, Erfahrung und Urteil zu ›polarisieren‹, in Gegensätzen zu denken.«[2]

Auch wenn man nicht so weit geht, wie der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson, einen »dyadischen Instinkt« anzunehmen[3], so darf man doch davon ausgehen, dass die Ordnung der Welt mit binären Schemata ein allgemein verbreitetes psychisches und soziales Phänomen darstellt. Anscheinend entfalten solche Schemata eine Eigendynamik. In »Legitimation durch Verfahren« hat Niklas Luhmann vor bald 50 Jahren die Tendenz zur Generalisierung von Konflikten festgestellt nach dem Motto:

»Was der Gegner ist, hat und macht, erscheint dann als in jedem Falle verwerflich; wer sein Freund ist, kann nicht mein Freund sein.«[4]

Wir haben alle Carl Schmitts berühmt-berüchtigte Formel im Ohr, die das Politische auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführt.

»… daß die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind«.[5]

Das große Echo dieser Formel, zeigt, wie die Eigendynamik von Dichotomien rhetorisch verwendbar ist.

Die Eigendynamik nimmt ihren Ausgang von der kognitiven Attraktivität von Zweiteilungen und Polarisierungen. Aber sie setzt sich fort in der sozialen Praxis. Anfängliche Asymmetrien, die sich wie auch immer herausgebildet haben, werden durch soziale Praxis verstärkt oder gar generalisiert. Was den pädagogischen Wert von Antonymen begründet, nämlich der Umstand, dass sie so geläufig sind, macht Gegensatzpaare zu Elementen jener iterativen Performativität, die mit dem practice turn der Soziologie zum dominierenden Erklärungsmodell für Diskriminierungen geworden ist. Dieses Erklärungsmodell trägt heute die Überschrift des Othering[6].

Am Beispiel der Antonyme lässt sich gut zeigen, was soziale Praxis bewirken kann. In einer Vorlesung oder Übung könnte der Dozent wohl die Hörer bitten, ihm verschiedene Begriffspaare zuzurufen. Besser noch, er würde dazu auffordern, dass sich jeder zwei oder drei Begriffspaare notiert, um das Ergebnis vergleichen zu können. Da käme vielleicht folgende Sammlung heraus:

Groß und Klein

Recht und Unrecht

Gut und Böse

Mensch und Tier

Mann und Frau.

Sehr wahrscheinlich würde das Experiment ergeben, dass alle Teilnehmer diese Paare in derselben Reihenfolge benannt haben. Wir verwenden Gegenbegriffe in typischer Reihenfolge und dabei ist der jeweils erste Begriff markiert. Er trägt einen Akzent. Wir fragen: Wie groß bist Du? und nicht etwa: Wie klein bist Du? Und die Antwort lautet entsprechend: Ich bin 1,70 groß (und nicht 1,70 klein). Anscheinend liegt auf dem jeweils erstgenannten Begriff eine relative Wertung.

Die Frage liegt nahe, ob eine Diskriminierung bereits in der Begriffsbildung angelegt sein kann oder ob es sich um ein sekundäres psychisches und in der Folge soziales Phänomen handelt. Niklas Luhmann hat die Frage mit der These von der Asymmetrie der Begriffsbildung beantwortet und die Antwort am Beispiel der Geschlechterdifferenz ausgeführt.[7]

»Anscheinend gibt es Gründe, Unterscheidungen nicht völlig seitenneutral zu handhaben, sondern durch eine leichte Präferenz für die eine Seite zu markieren. Man denke an berühmte Fälle wie: Subjekt/Objekt, Figur/Grund, Zeichen/Bezeichnetes, Text/Kontext, System/Umwelt, Herr/Knecht. «[8]

Die »herkömmliche Reihenfolge« von »Mann und Frau« wäre danach eine Folge der Primärunterscheidung zugunsten des Mannes. So scheint also männliche Herrschaft schon begrifflich in der Geschlechterdifferenz angelegt zu sein. Das entspricht durchaus den Vorstellungen einer großen Fraktion des Feminismus. Aber da werden Ross und Reiter verwechselt oder vielmehr, um es mit einem Antonym zu sagen, Form und Inhalt.

[Fortsetzung folgt.]


[1] In diesem Eintrag wird ein Abschnitt aus dem Vortrag über Gegenbegriffe, Dichotomien und Alternativen in der Jurisprudenz ausformuliert.

[2] John Lyons, Einführung in die moderne Linguistik, 8. Aufl. 1995, S. 480.

[3] Edward O. Wilson, Consilience. The Unity of Knowledge, 1998, S. 167.

[4] Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 101.

[5] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, zitiert nach der Ausgabe von 1963, S. 26.

[6] Die Literatur ist unerschöpflich. Als Nachweis habe ich einen Text ausgewählt, der die Dichotomie im Titel trägt: Halleh Ghorashi, Rethinking Diversity Beyond Dichotomies of Self-Other, in: Sabine Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Jahrbuch für Europäische Ethnologie, Dritte Folge 12, 2017, 169-182.

[7] Frauen, Männer und George Spencer Brown, Zeitschrift für Soziologie 17, 1988, 47-71, S. 48.

[8] Ebd. S. 50.

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