Was Juristen über Wissen wissen müssen

Der Begriff des Wissens ähnlich schwer zu fassen wie der des Rechts.[1] Es fehlt an einer allgemein geteilten Definition. Die Tendenz geht dahin, den Wissensbegriff so aufzulösen, dass alles und jedes mit ihm verknüpft werden kann. Wenn man die Reihe der Komposita aus der Einleitung Trutes zu dem von H. C. Röhl herausgegebenen Sammelband[2] aufruft, kann einem schnell schwindelig werden: Wissenserzeugung, Wissensdistribution, Wissensinfrastruktur, Wissenssoziologie, Wissensforschung, Allgemeinwissen, Sonderwissen, Entscheidungswissen, Wissensbestand, Wissenskontext, öffentliches und nichtöffentliches Wissen, Experten- und Laienwissen, Erfahrungs-, Fakten-, Regel- und Rezeptwissen, explizites, formalisiertes und informelles Wissen, Wissensordnung, Wissensqualität, Wissensregime, Wissenshierarchie, Wissensgrundlage, Wissensasymmetrie und nicht zuletzt Wissenschaft und Nichtwissen.[3]

Um nicht in die Tiefen der Philosophie und Erkenntnistheorie einzutauchen, verenge ich das Thema auf satzförmiges (propositionales) Wissen. Wissen kann also alles zum Inhalt haben, was durch Sprache transferierbar ist. Ich lasse damit phänomenologisches Wissen (ich weiß, wie sich Schmerz anfühlt) und implizites Wissen außer Betracht. Polanyis berühmtes Dictum »one can know more than one can tell« kehren wir um: Wir können mehr als wir wissen.

»We know a person’s face, and can recognize it among a thousand, indeed among a million. Yet we usually cannot tell how we recognize a face we know. So most of this knowledge cannot be put into words.«[4]

Es kommt zunächst nicht darauf an, ob der Inhalt der Sätze richtig oder falsch, wahr oder gerechtfertigt, plausibel oder absurd ist. Intersubjektive Transferierbarkeit heißt nämlich nicht, Transmissibilität der Akzeptanz einer Proposition ihrem Inhalt nach, sondern lediglich Möglichkeit des gleichsinnigen Verständnisses. Zur weiteren Eingrenzung des Themas bewährt sich die Verwendung von Gegenbegriffen[5].

Wissen und Information: Man unterscheidet Zeichen, Daten und Informationen. Nackte Zeichen – die Buchstabenreihe oder die Zahlenreihe, einzelne Bits oder Bytes, die nach dem ASCII-Standard oder Unicode arrangiert sind oder als Pixel einen Bildpunkt definieren – stehen für sich. Sie werden zu Symbolen, wenn sie in einer Weise zusammengefügt sind, dass sie zu Bedeutungsträgern werden, die in Sätzen verwendet werden können wie Worte oder Bildzeichen. Zeichen werden zu Daten, wenn sie mit Sachverhalten beliebiger Art verknüpft sind. Daten als solche haben noch keinen Verwendungsbezug. Es handelt sich um Informationen im Speicher- und Transportzustand.[6] Daten enthalten potenziell Informationen. Werden Daten als Informationen wahrgenommen, so werden sie zu Wissen. Informationen treten zunächst vereinzelt auf. Aus Wetterdaten erhalte ich die Information, dass es 11. 11. 2024 um 12 Uhr in Düsseldorf geregnet hat. Eine solche isolierte Information wird man kaum als Wissen ansprechen. In der Regel werden erst viele singuläre Informationen zu relevantem Wissen zusammengefügt. So ergibt sich aus einzelnen Wetterinformationen Klimawissen. Der Wissensbegriff ist also auf Steigerung oder Vermehrung angelegt, indem möglichst viele Informationen kombiniert werden.

Daten, Information und Wissen sind auch Rechtsbegriffe. Doch findet man in keiner der einschlägigen Vorschriften universelle Definitionen. Art. 4 Nr.1 DSGVO und § 1 BDSG definieren nicht eigentlich, was Daten sind, sondern qualifizieren bestimmte Daten als personenbezogen. § 2. IFG betrifft informationshaltige Daten im Speicherzustand, ebenso § 2 III UIG. Dagegen geht es in § 5 TMG um bestimmte Inhalte als Information. Als Information in diesem Sinne kann man auch Geschäftsgeheimnisse i. S.von § 2 I 1 GeschGehG einordnen. § 312f III BGB spricht von »digitalen Inhalten, die nicht auf einem körperlichen Datenträger bereitgestellt wurden«. Das entspricht § 202a II StGB. Danach sind Daten, die gegen das Ausspähen geschützt sind, »nur solche, die elektronisch, magnetisch oder sonst nicht unmittelbar wahrnehmbar gespeichert sind oder übermittelt werden«. Diese Definition passt auch auf Daten, die in § 12a EGovG als offene qualifiziert werden.

Objektiv(iert)es Wissen und subjektives Wissen (Kenntnis): Wissen, so sagt Schrader, sei personaler Natur, nämlich von Menschen wahrgenommene, verstandene Information. Er weist darauf hin, dass das BGB z. B. in § 1472 II Wissen und Kenntnis synonym verwendet.[7] In rechtlichem Zusammenhang kommt es in der Regel nicht auf das irgendwo vorhandene Wissen, sondern auf subjektives Wissen = Kenntnis bestimmter Personen von bestimmten Tatsachen an. Nur subjektives Wissen kann moralisch und rechtlich zugerechnet werden. Nur für subjektiv vorhandenes Wissen gilt scientia potestas est (Francis Bacon): Wissen ist Macht. Aber Wissen ist grundsätzlich nicht an Personen gebunden. Es wird auf vielfältige Weise personenunabhängig gespeichert und transportiert. Von objektiviertem Wissen kann man sprechen, wenn es irgendwie in wiedergewinnbarer Form geäußert worden ist, und sei es auf Keilschrifttafeln, die nur Archäologen entziffern können. Der Gegenbegriff verweist in diesem Zusammenhang also nicht auf »Objektivität«, sondern nur darauf, dass das Wissen irgendwo auf der Welt durch Zeichen oder Symbole als Information festgehalten und so zum Objekt geworden ist.

Privates und externalisiertes Wissen: Nicht mitgeteilte Gedanken oder Beobachtungen (»Ich habe die Idee, dass … ; »ich wollte nicht, dass mein Schlag tödlich ist«, »ich fürchte mich vor der Zukunft«, »ich habe einen Blitzeinschlag gesehen«) bleiben privat. Gedanken müssen erst externalisiert werden, so dass sie von anderen wahrgenommen werden können, um als Wissen relevant zu werden. Normalerweise geschieht die Externalisierung durch einen Kommunikationsakt des Wissensträgers, also durch Wort, Schrift oder andere Zeichen. In juristischem Zusammenhang ist oft privates als subjektives Wissen relevant. Es wird gelegentlich auch durch Indizien zugänglich gemacht oder es wird durch eine Pflicht zur Kenntnisbeschaffung ersetzt, wie in § 932 II BGB.

Wissen und Unwissen: Von Unwissen zu reden macht nur Sinn, wenn Wissen unabhängig von subjektivem Wissen vorhanden ist. Wenn man weiter fragt, gerät man schnell in die Abgründe der Erkenntnistheorie. Jedenfalls lässt sich Unwissen nur behaupten, wenn andere mindestens über subjektives Wissen verfügen, dass sie für wahres Wissen halten.

Wissen und Irrtum: Irrtum (z. B. in § 119 II BGB) setzt Wissen als Gegenbegriff voraus. Das Begriffspaar macht jedoch nur für empirisches Wissen Sinn. Empirisches Wissen ist nicht unbedingt Faktenwissen, jedenfalls nicht im Alltagsverständnis dieses Begriffs. Normen, Werte und Religion sind als solche keine Fakten. Aber was über diese drei gesagt oder geschrieben wird sowie die Überzeugungen anderer sind doch Fakten, die man wissen kann. Insoweit ist Wissen über Normen, über ihren Inhalt und ihre Geltung, empirisches oder Faktenwissen, über das man irren kann.

Wahres und falsches Wissen: Die Wahrheitsfrage zielt auf den Inhalt der Sätze, die als Wissen zirkulieren. Radikaler Skeptizismus will uns sagen, dass praktisch alles, was wir zu wissen glauben, angezweifelt werden könne. Es lohnt es sich nicht, hier in die Wahrheitstheorien einzusteigen. Wir gehen davon aus, dass mindestens Sätze mit analytischem, logischem und empirischem Gehalt wahrheitsfähig sind. In juristischem Zusammenhang geht es meistens um die Frage, ob empirisches Wissen wahr oder falsch ist. Der Empirie zugänglich ist schon die Externalisierung des Wissens auf einen Wissensträger und die anschließende Wahrnehmung. Hier zeigt sich wieder das Phänomen der Sprachstufen. Es gibt also wahres Wissen über falsches Wissen, so wenn wir erfahren, dass Menschen annehmen, der Klimawandel sei allein durch Sonnenfleckenaktivitäten verursacht.

Wissen und Überzeugung: Aus der Kenntnis von Begriffskonstruktionen, Konzepten und Normen folgt nicht unmittelbar deren Billigung oder gar Übernahme. Analoges gilt für Wissen über Religion und Kultur.

Wissen und Glauben: Zu Propositionen (Behauptungsätzen) kann man unterschiedliche Einstellungen haben. Wissen kommt nur bei solchen Propositionen in Betracht, die man für wahr halten kann. Glauben kann man auch Sätze, von denen klar ist, dass sie sich nicht beweisen lassen. Man kann aber auch an beweisbare Sätze glauben, ohne dass der Beweis erbracht ist.

Sicheres und unsicheres Wissen: Sicherheit oder Unsicherheit kann sich auf Kenntnis oder auf den Gegenstand des Wissens beziehen. Ich weiß mit Sicherheit, dass die Erde rund ist, bin aber unsicher, wer das als erster behauptet hat. Ich weiß sicher, dass unsicher ist, wie sich das Covid-19-Virus ohne den Lockdwon ausgebreitet hätte.

Eigenes Wissen und übernommenes Wissen: Empirisches Wissen im engeren Sinne kommt aus eigener Anschauung und Erfahrung. Das meiste Wissen wird jedoch übernommen. Für die eigene Lebenswelt hat man vielleicht noch den Eindruck, man kenne sie aus Erfahrung. Doch der Eindruck täuscht. Schon meinen Lebenslauf kenne ich zum Teil nur aus Berichten von Eltern und Verwandten. Das Weltwissen dagegen stammt mehr oder weniger vollständig aus sekundären, tertiären oder noch weiter entfernten Quellen. Man lernt es mehr oder weniger planmäßig in Familie und Schule, aus Büchern und anderen Medien oder beiläufig im Umgang mit anderen Menschen. Die Qualität dieses Wissens wird in der Regel gar nicht hinterfragt. Sie ergibt sich unmittelbar aus der sozialen Beziehung zur Wissensquelle. Das Recht begegnet dem sekundären Wissen mit Vorsicht. Aus dem Common Law kennt man die hearsay-rule, die es verbietet, Wissen aus zweiter Hand als Beweismittel zu verwenden, da der Gegner den Sprecher nicht ins Kreuzverhör nehmen kann.

Aktuelles und abrufbares Wissen: Was Menschen als Wissen aufnehmen, bleibt nur zu einem kleinen Teil präsent. Das meiste verschwindet in der Erinnerung. Von dort lässt es sich mehr oder weniger genau abrufen, kann aber auch ganz verloren gehen. In juristischem Zusammenhang entsteht dann oft die Frage, ob ein Mensch verpflichtet ist, seiner Erinnerung aufzuhelfen, sei es mit individueller Anstrengung, sei es mit Hilfe extern gespeicherten Wissens wie Notizen, Akten oder Dateien.

Persönliches Wissen und Akten- oder Datenwissen: Rechtlich relevante Kenntnisse werden typischerweise planmäßig in Akten und Dateien zur Wiedergewinnung festgehalten, von Privaten meist nur in wichtigeren Angelegenheiten. Arbeitsteilige Organisationen müssen solche Informationen schon deshalb speichern, damit unterschiedliche Personen darauf zugreifen können. Viele Aufzeichnungen, Akten und Dateien müssen auch von Rechts wegen vorgehalten werden, etwa für Steuer- und Bilanzzwecke. Was in den Akten ruht, ist denen, die darüber verfügen, nicht immer alles bekannt. Wieweit Aktenwissen rechtlich relevantes Wissen darstellt, hängt daher von Aufzeichnungs- und Wiedergewinnungspflichten ab.

Triviales und relevantes Wissen: Normalerweise will niemand wissen, dass ich heute zum Frühstück genau drei Tassen Kaffee ohne Milch und Zucker getrunken habe. So gibt es unendlich viel irrelevantes und kaum weniger triviales Wissen. Triviales Wissen kann aber im Rechtsstreit schnell relevant werden. Der Hausverkäufer, der morsche Stellen im Gebälk gesehen hat, muss von dieser Information dem Käufer Mitteilung machen, will er eine Mängelhaftung vermeiden.

Einzelfallwissen und gesammeltes Wissen: Vor Gericht streitet man sich meistens um Einzelfallwissen: Hat A am 2. Januar bei XY ein paar Schuhe bestellt? Ist B am 3. Januar auf der XY-Straße mit seinem PKW über 50 kmh gefahren? Hat C drei Kinder, die als Erben in Betracht kommen? In Unternehmen und Behörden wachsen aus vielen solcher Einzelfälle Datensammlungen. Diese Daten werden schon als solche, wenn man sie zur Kenntnis nimmt, zu Wissen. Sie können darüber hinaus ausgewertet werden, um generelles Wissen zu erzeugen. Im Hintergrund stehen detaillierte Rechtsnormen, welche die Sammlung und Verwendung solcher Daten regeln.

Einzelfallwissen und generelles Wissen: Wissenschaft, von der Geschichte einmal abgesehen, interessiert sich für generelles Wissen, das heißt für solches, das sich nicht in einem Ereignis erschöpft, wie es die folgenden Sätze beschreiben: Am 1. Mai hat es geregnet. V hat K am 1. Mai den PKW verkauft. In juristischen Zusammenhängen kommt es dagegen oft auf Einzelfallwissen (Kenntnis) an. Wusste V, dass der verkaufte PKW einen Mangel hatte? In der Literatur unterscheidet man gerne zwischen Wissen, dass, Wissen, warum und Wissen, wie (z. B. Wohlrapp). Wissen, dass ist Einzelfall- oder gesammeltes Wissen. Generelles Wissen antwortet auf die Warum-Frage. Die Frage Wissen, wie ist zweideutig. Sie erwartet als Antwort den Verweis entweder auf unreflektiertes Können oder auf Verfahrensregeln. Das forensich relevante Einzelfallwissen wird auch als Zustands- oder Tatbestandswissen bezeichnet. An die Unterscheidung von Einzelfallwissen und generellem Wissen lässt sich die Differenzierung von (Wissen über) Falltatsachen und Rechtstatsachen anknüpfen.

Individuelles und soziales Wissen: Soziale Erkenntnistheorie (Social Epistemology) betont die soziale Konstituierung und Vernetzung von Wissensbeständen. Danach ist Wissen kein gesicherter Bestand, der bei Bedarf abgerufen wird. Wissen wird vielmehr im Prozess gesellschaftlicher Kommunikation ständig neu konfiguriert. Mit Alvin Goldman kann man drei Ebenen der Wissenskonsolidierung unterscheiden, nämlich die individuelle Ebene, die Gruppenebene und die Systemebene. Epistemologie ist als Erkenntnistheorie die Lehre vom richtigen Wissen. Wissenssoziologie fragt aus empirischer Sicht, wie sich subjektive Wissensbestände in der Gesellschaft entwickeln. Social Epistemology ist die Erkenntnistheorie des kulturellen Konstruktivismus, die behauptet, dass die Suche nach einem objektiv wahren oder richtigen Wissen verfehlt sei, weil Wissen von vornherein nur als soziales Phänomen in Betracht komme. Wer dagegen die Frage nach empirischer Wahrheit nicht verwirft, zieht die Wissenssoziologie zu Rate, um zu klären, wie sich subjektives Wissen in den Köpfen der Menschen bildet, das dann als soziales Wissen seine Wirkung tut.

Instrumentelles und wertbildendes Wissen: Wissen kann im Rahmen der Zweck Mittel-Relation dazu dienen, bestimmte Handlungsziele zu erreichen. Wissen ist also erforderlich, um Recht als Mittel zum Zweck einzusetzen. Dazu gibt es viele Überlegungen, woher die Entscheidungseinstanzen – Parlamente, Behörden, Gerichte – ihr Sachwissen beziehen. Es liegt jedenfalls nicht einfach so, dass man zu jeder Aufgabe das notwendige Wissen irgendwo nachschlagen oder einen Experten fragen könnte. In diesem Zusammenhang aber wichtiger: Bevor man Wissen instrumentell einsetzt, muss man sich ein Ziel gebildet haben. Die Zielbildung hängt ihrerseits von Wissen, insbesondere über den Ausgangszustand, ab. Zwar beruht die Zielbildung letztlich auf einem Werturteil. Doch dieses Urteil stützt sich auf vielerlei Wissen.

Wissensdurst und Wissenverbote: Wissen ist eine positive Ressource, denn nicht zuletzt gilt: Wissen ist Macht. Eine lange Reihe von Rechtsnormen regelt daher den Erwerb, die Organisation und die Weitergabe von Wissen. Verboten ist z. B. die Forschung an Embryonen. Geboten ist die Geheimhaltung bestimmter Wissensbestände, verboten folglich ihre Weitergabe. Weitgehende Verbote betreffen insbesondere die Datensammlung zur Gewinnung von Wissen.

Fakten- und Normenwissen: Für die folgenden Abschnitte sei noch einmal wiederholt, dass auch das Wissen über die Existenz von Normen als Faktenwissen in Betracht kommt. Insofern gibt es empirisches Wissen über das (positive) Recht, und zwar sowohl als objektives Wissen wie auch subjektiv als Rechtskenntnis.

»Wissen und Recht« sind keine Antonyme, sondern eine Verlegenheitsüberschrift wie law & something, »Recht und Gesellschaft«, »Recht und Kultur« usw. Es gibt praktisch kein Rechtsthema, das man nicht in irgendeiner Weise aus einer Wissensperspektive behandeln könnte. Das demonstriert, gekonnt und mit vielen Nachweisen, Laura Münkler in dem einleitenden Beitrag »Wissen − ein blinder Fleck des Rechts?«, um eine Forschungslücke und damit Bedarf für den von ihr herausgegebenen Sammelband »Dimensionen des Wissens im Recht« (2019) zu begründen.


[1] Mein Favorit aus der allgmeinen (d. h. , nicht auf das Recht bezogenen Literatur, ist Duncan Pritchard, What is this Thing Called Knowledge?, 5 Aufl. 2023.

[2] Hans Christian Röhl (Hg.), Wissen – zur kognitiven Dimension des Rechts, 2010.

[3] Wer es komplizierter will, lese Helmut F. Spinner, Das modulare Wissenskonzept des Karlsruher Ansatzes der integrierten Wissensforschung, in: Karsten Weber u. a. (Hg.), Wissensarten, Wissensordnungen, Wissensregime, 2002, 13-46.

[4] Karl Polanyi, The Tacit Dimension, 1966, S. 4.

[5] Vgl. Klaus F. Röhl, Gegenbegriffe, Dichotomien und Alternativen in der Jurisprudenz, Rechtsphilosophie 2022, 96–118.

[6] Angelina Zier, Investitionsschutz für Maschinendaten, 2022, S. 9.

[7] Paul Tobias Schrader, Wissen im Recht, Definition des Gegenstandes der Kenntnis und Bestimmung des Kenntnis-standes als rechtlich relevantes Wissen, 2017, S. 12 Fn. 81.

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Die Juristische Methodenlehre von Francis Lieber. Teil 2: Construction als loyaler Umgang mit dem Gesetz

Lieber schrieb seine Methodenlehre nicht nur für Juristen, sondern auch für Politiker und Laien. Jeder Bürger kommt in die Lage und sollte imstande sein, Gesetze zu verstehen.

» … every citizen of a free country is not only permitted to form his opinion upon all prominent features of his government, fundamental laws, public men, and important measures, but it is his duty to do so.« (S. 76)

Im Vorwort des Buches bezieht Lieber sich auf eine aktuelle Auseinandersetzung um die amerikanische Verfassung und betont, »to find some firm and solid foundations of right and morality, in the rolling tides of party actions«, wolle er eine politische Ethik (für den Umgang mit der Verfassung) schreiben. Denn ohne eine Methode, die auf guten Glauben (good faith) gebaut sei, würden Rechtstexte zu »desperate weapons in the hands of the disingenuous«.

Zunächst gilt es, noch einmal klarzustellen: Liebers Ansatz würde man heute kommunikationstheoretisch nennen. Kommunikation besteht für Lieber in der erfolgreichen Übertragung von Gedanken durch Worte oder andere Zeichen von einer Person zu anderen. Interpretation beschränkt sich darauf, den Gehalt solcher Kommunikation zu ermitteln. Ziel der Textinterpretation ist für Lieber eine schlechthin subjektive Interpretation:

»Understanding or comprehending a speaker or something written, means attaching the same signification or sense to the words which the speaker or writer intended to convey.« (S. 23)

Die einzig richtige Bedeutung des Textes ist, was der Autor ausdrücken wollte.

»The sole legitimate object of all interpretation is to find out the true sense and meaning, not to impart them; but since this true sense is occult, we may be bound to use various means to arrive at it to the best of our ability, and according to the conscientious desire of finding the true sense.« (S. 66)

Es geht also um das, was in der Literatur als speakers meaning oder utterer‘s meaning geläufig ist.[1] Man kann daher Interpretation im Sinne Liebers nicht als semantische oder als Wortauslegung einordnen. Auch wenn solche Interpretation auf die sozial übliche Bedeutung abstellt und den sprachlichen und sozialen Kontext heranzieht, so geschieht das doch nur, um die vom Sprecher intendierte Nachricht zu erfassen. Lieber ist, wenn man so will, Regelskeptizist, freilich aus anderen Gründen als die modernen Regelskeptiker, hält er doch eine gelingende Kommunikation auch über Regeln grundsätzlich für möglich. Aber die Kommunikation mit dem Gesetzgeber bleibt aus vielerlei Gründen immer unvollkommen, so dass Anwender des Gesetzes praktisch immer durch construction nachhelfen muss. Ich bleibe bei dem englischen Begriff construction, weil »Konstruktion« in der (post-)modernen Methodenlehre nicht bloß, wie bei Lieber, die wohlwollend konstruktive Ergänzung der Interpretation, sondern einen konstruktivistischen Umgang mit Normtexten meint, der Interpretation im Sinne des Verstehens dessen, was der Regelautor sagen wollte, für unmöglich, aber mindestens für unwichtig hält.

Construction ist zunächst Textergänzung, läuft aber oft auf Rechtsfortbildung hinaus.

»Construction is the drawing of conclusions respecting subjects, that lie beyond the direct expression of the text, from elements known from and given in the text – conclusions which are in the spirit, though not within the letter of the text.« (S. 56)

Lieber betont wiederholt, dass construction, weil sie sich vom Text entfernt, gefährlich sei. Sie steht deshalb unter dem Gebot der Loyalität zum Text:

»For the very reason that construction endeavors to arrive at conclusions beyond the absolute sense of the text, and that it is dangerous on this account, we must strive the more anxiously to find out safe rules, to guide us on the dangerous path.« (S. 64)

Construction muss sich mehr oder weniger vom Text entfernen. Dafür verwendet Lieber das Bild konzentrischer Kreise, die sich um den Text legen, und auf denen die Lösung möglichst nahe am Mittelpunkt gesucht werden soll. Vorbildlich ist insoweit § 7 des Österr. AGBGB.[2]

»Construction is either close, comprehensive, transcendant, or extravagant, similar to the corresponding species of interpretation.« (77)

Anders formuliert:

»In the most general adaptation of the term, construction signifies the representing of an entire whole from given elements by just conclusions. Thus it is said, ›a few actions may sometimes suffice to construe the whole character of a man‹. (S. 61)

Da ist zunächst das Lückenproblem:

»Construction is likewise our guide, if we are bound to act in cases which have not been foreseen, by the framers of those rules, by which we are nevertheless obliged, for some binding reason, faithfully to regulate, as well as we can, our actions respecting the unforeseen case.« (S. 56)

»If the codes of some countries declare, that if in certain cases the judge can find no law precisely applicable, he shall be guided by the spirit of the provisions enacted for those cases, whicli resemble most that under consideration, they authorize construction according to the first part of our first definition.« (60)

Grundsätzlich ist alo Analogie das Mittel der Wahl:

»Analogy, or rather parallel reasoning in this signification of construction, is the essential means of effecting it.« (S. 59)

Dazu wird in einer Fußnote Analogie bestimmt als Proportionalität genau in dem Sinne wie sie bei Aristoteles definiert war[3], allerdings ohne Aristoteles zu erwähnen. Wo Analogie nicht hilft, muss man auf allgemeine Prinzipien zurückgehen, soweit sie sich erkennen lassen. Im Zweifel kann man davon ausgehen, dass Moral als das höchste Prinzip einschlägig ist.

»If the text is itself a declaration of the fundamental principles, which we are bound to follow in a certain sphere of actions, and of certain fundamental forms, which are to regulate our actions, in this case, construction signifies the discovery of the spirit, principles, and rules, that ought to guide us according to the text, with regard to subjects, on which that declaration is silent, but which nevertheless belongs to its province. (S. 58f)

»For instance, morality is one of the chief ends of all human life; without it no state can exist. This is the superior principle.« (59)

Eine teleologische Betrachtung kann helfen zu erkennen, was der Autor der Norm kommunizieren wollte.

»It is, as will be seen presently, construction alone which saves us, in many instances, from sacrificing the spirit of a text or the object, to the letter of the text, or the means by which that object was to be obtained, and without construction, written laws, in fact any laws or other texts, containing rules of actions, specific or general, would, in many cases, become fearfully destructive to the best and wisest intentions, nay, frequently, produce the very opposite of what it was purposed to effect. (S. 57f)

Construction ist sodann erforderlich, wenn innerhalb von Gesetzen oder zwischen Verfassung, Gesetzen und Präjudizien Widersprüche aufscheinen.

»Or there may exist principles or rules of superior authority, and the problem of construction then is to cause that which is to be construed to agree with them. In this case the principles and rules of superior authority are ›the subjects that lie beyond the direct expression of the text›‹ mentioned in the definition.(59)

Or if a law be passed, parts of which are contrary to the fundamental law of the state, it is called construing the law, when the proper judges declare these parts to be invalid.« S. 60«

Und immer wieder: Das alles hat nach Treu und Glauben zu geschehen:

»The proper principles of construction are those which ought to guide us in good faith and conscience.« (S. 58)

Man könnte meinen, Lieber habe Philipp Hecks berühmte Formulierung, der Richter schulde dem Gesetzgeber »denkenden Gehorsam«[4] vorweggenommen. Heute wird die Hecksche Formel nur noch als rechtshistorische Reminiszenz zitiert, wenn an die Interessenjurisprudenz erinnert wird. Das hat auch etwas damit zu tun, dass das Wort »Gehorsam« vielen Menschen heute schwer über die Lippen geht und dass die Formel sich in der Nazizeit leicht missbrauchen ließ. In der Sache kenne ich jedoch keine bessere Kurzformel für die Probleme einer Methodenlehre, die die Gesetzesbindung ernst nimmt. Vielleicht wird die Formel eher akzeptierbar, wenn wir mit Hilfe Liebers von loyale Auslegung sprechen.


[1] Herbert Paul Grice, Utterer’s Meaning, Sentence-Meaning, and Word-Meaning, Philosophy, Language, and Artificial Intelligence: Resources for Processing Natural Language 1988, 49–66.

[2] Die Vorschrift lautet: Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall noch zweifelhaft; so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden.

[3] Vgl. den Eintrag Vollständige (kognitive) und normative Analogien vom 31. Mai 2022.

[4] Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 1914, 1–318, S. 20; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 106f..

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Die Juristische Methodenlehre von Francis Lieber.  Teil 1: Die Interpretation

Nachdem Francis Lieber im vorhergehenden Eintrag als Person vorgestellt wurde, nun zum Inhalt seiner Methodenlehre. Ich zitiere aus der Buchausgabe, die 1839 im Verlag von Charles C. Little und James Brown in Boston erschien. Der vollständige Titel lautet:

»Legal and Political Hermeneutics, or Principles of Interpretation and Construction in Law and Politics, with Remarks on Precedents an Authorities.«[1]

Lieber schrieb seine Methodenlehre nicht nur für Juristen, sondern auch für Politiker und Laien. Jeder Bürger kommt in die Lage und sollte imstande sein, Gesetze zu verstehen.

» … every citizen of a free country is not only permitted to form his opinion upon all prominent features of his government, fundamental laws, public men, and important measures, but it is his duty to do so.« (S. 76)

Im Vorwort des Buches bezieht Lieber sich auf eine aktuelle Auseinandersetzung um die amerikanische Verfassung und betont, »to find some firm and solid foundations of right and morality, in the rolling tides of party actions«, wolle er eine politische Ethik (für den Umgang mit der Verfassung) schreiben. Denn ohne eine Methode, die auf guten Glauben (good faith) gebaut sei, würden Rechtstexte zu »desperate weapons in the hands of the disingenuous«. Deshalb wolle er seine Überlegungen nunmehr systematisch in einem Buch zusammenfassen.

Das erste Kapitel des Buches beginnt mit einem Absatz von dem Roberta Kevelson sagt, man habe den Eindruck, hier spreche Peirce:[2]

»There is no direct communion between the minds of men ; whatever thoughts, emotions, conceptions, ideas of delight or sufferance we feel urged to impart to other individuals, we cannot obtain our object without resorting to the outward manifestation of that which moves us inwardly, that is, to signs. There is no immediate communion between the minds of individuals, as long as we are on this earth, without signs, that is, expressions perceptible by the senses.« (S. 13) …

»Signs, in this most comprehensive sense, would include all manifestations of the inward man, and extend as well to the deeds performed by an individual, inasmuch as they enable us to understand his plans and motives, as to those signs used for the sole purpose of expressing some ideas ; in other words, the term would include all marks, intentional or unintentional, by which one individual may understand the mind or the whole disposition of another, as well as those which express a single idea or emotion … .« (S. 14)

Und so geht es weiter:

»The signs which man uses, the using of which implies intention, for the purpose of conveying ideas or notions to his fellow-creatures, are very various, for instance, gestures, signals, telegraphs, monuments, sculptures of all kinds, pictorial and hieroglyphic signs, the stamp on coins, seals, beacons, buoys, insignia, ejaculations, articulate sounds, or their representations, that is phonetic characters on stones, wood, leaves, paper, &;c., entire periods, or single words, such as names in a particular place, and whatever other signs, even the flowers in the flower language of the East, might be enumerated.

These signs then are used to convey certain ideas, and interpretation, in its widest meaning, is the discovery and representation of the true meaning of any signs, used to convey ideas.« (S. 17)

Lieber nahm damit vieles vorweg, was inzwischen Linguistik und Semiotik beigebracht haben; er nahm auch den Gedanken des sozialen Wandels auf, wenn er schrieb:

»A code is not a herbarium, in which we deposit law like dried plants. Let a code be the fruit grown out of the civil life of a nation, and containing the seed for future growth.« (S. 44)

Vor allem aber: Lieber unterschied zwischen Textauslegung (interpretation) und Konstruktion (construction) als Methode, zu Entscheidungen zu gelangen, wo der Text selbst nicht zu einem Ergebnis führt. In solchen Fällen sei eine vernünftige und flexible, von den hinter den Texten stehenden Prinzipien geleitete Entscheidung (conclusion) notwendig.

Zunächst aber erörtert Lieber Ziel und Möglichkeiten der Textinterpretation und begründet, warum der Text oft nicht zu einem Ergebnis führt, wie es Bürger und Juristen brauchen. Ziel der Textinterpretation ist für ihn eine schlechthin subjektive Interpretation:

»Understanding or comprehending a speaker or something written, means attaching the same signification or sense to the words which the speaker or writer intended to convey.« (S. 23)

Die einzig richtige Bedeutung des Textes ist, was der Autor ausdrücken wollte.

»The sole legitimate object of all interpretation is to find out the true sense and meaning, not to impart them; but since this true sense is occult, we may be bound to use various means to arrive at it to the best of our ability, and according to the conscientious desire of finding the true sense.« (S. 66)

Diese Bedeutung herauszufinden, ist aber gar nicht einfach, und das Ergebnis der Bemühungen führt nicht immer zum Ziel.

Die Kapitel I, II und IV des Buches befassen sich mit der Textauslegung. Die Ergebnisse werden in neun Grundregeln zusammengefasst (S. 120). Hier die wichtigsten:

    1. A sentence, or form of words, can have but one true meaning.
    2. There can be no sound interpretation without good faith and common sense.

Das wird besonders deutlich, wenn Lieber Interpretationen aufzählt, die die Ermittlung der einzig richtigen Textbedeutung verfehlen. In seiner Begrifflichkeit orientiert sich Lieber hier dabei an dem zeitgenössischen Standardwerk der theologischen Hermeneutik, nämlich an der erstmals 1762 erschienenen »Institutio Interpretis Novi Testamenti« des Leipziger Theologen Johannes August Ernesti.

Verfehlt ist zunächst die buchstabengetreue Interpretation (literal interpretation). Sie ist buchstäblich unmöglich:

»Literal interpretation ought to mean of course, that which takes the words in their literal sense, which is hardly ever possible, since all human language is made up of tropes, allusions, images, expressions relating to erroneous conceptions, Sic, for instance, the sun rises.« (S. 66)

Es folgt ein Beispiel: Ein Gastwirt hatte sein Lokal »Zur Krone« genannt. Scherzhaft erklärte er, er habe seinem Sohn die Krone vererbt. Daraufhin wurde er wegen Hochverrats angeklagt und verurteilt (S. 68).

Nicht ganz so kritisch ist die extensive Interpretation (interpretatio extensiva – called likewise liberal interpretation, S. 70). Sie versteht einen sprachlichen Ausdruck in seinem weitesten Sinne und ist im Zweifel angebracht, wenn es gilt, für den Betroffenen Milde walten zu lassen. Dagegen setzt sich die interpreatatio excedens über den Wortlaut hinweg (S. 70f).

Die Suche nach der »richtigen« Bedeutung des Textes folgt als interpretatio soluta allein den hermeneutischen Grundregeln. Anders die interpretatio limitata – restricted interpretation (S. 71), die sich die Suche nach der Textbedeutung durch ein übergeordnetes Prinzip vorgeben lässt, wie eine Bibelexegese, die davon ausgeht, dass der Text eine wahre Botschaft enthält und auch in sich nicht widersprüchlich sein kann.

»Limited or restricted interpretation (interpretatio limitata) takes place, if other rules or principles than the strictly hermeneutic ones, limit us.« (S. 71)

Lieber kennt auch die perspektivische oder voreingenommene Interpretation:

»Finally, interpretation may be predestined (interpretatio predestinata), if the interpreter, either consciously or unknown to himself, yet laboring under a strong bias of mind, makes the text subservient to his preconceived views, or some object he desires to arrive at.« (S. 72)

Dem Anwalt schließlich billigt Lieber eine opportunistische Interpretation zu, die er artful interpretation (interpretatio vafer[3]) nennt:

»A legal counsel is understood to produce everything favorable that can be brought to bear upon the case of his client, so that, the same being done on the other side, all that can be said for and against the subject, may be brought before the judges.« (S. 73)

Die interpretatio soluta, das unabhängige Textverständnis,  bleibt also der erste Schritt der juristischen Methode. Für sie gilt die dritte Regel:

  1. Words are, therefore, to be taken as the utterer probably meant them to be taken. In doubtful cases, therefore, we take the customary signification, rather than the grammatical or classical; the technical rather than the etymological – verba artis ex arte – tropes as tropes. In general, the words are taken in that meaning, which agrees most with the character of both the text and the utterer.

Diese Regel ist zentral. Wörter dürfen also nicht isoliert, Metaphern nicht wörtlich genommen werden.  Die Bedeutung eines Textes soll aus dem sprachlichen Kontext ergründet werden. Dabei geht es stets darum, den Sprachgebrauch des Autors zu erfassen.

»If we do not understand the word, we try whether its connexion in a sentence will shed light upon it; if we do not succeed, we endeavor to derive assistance from the period; if this be unavailing, we examine the whole instrument or work ; if that leads us to no more satisfactory result, we examine other writings, &c., of the same author or authority; if that does not suffice, we resort to contemporaneous writers, or declarations, or laws similar to that which forms our text.« (S. 119)

Die weiteren Regeln würden wir heute eher unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz von Normen und Prinzipien einordnen:

    1. The particular and inferior cannot defeat the general and superior.
    2. The exception is founded upon the superior.
    3. That which is probable, fair, and customary, is preferable to the improbable, unfair and unusual.
    4. We follow special rules given by proper authority.
    5. We endeavor to derive assistance from that which is more near, before proceeding to that which is less so.

Die neunte Regel leitet über zur Konstruktion:

    1. Interpretation is not the object, but a means; hence superior considerations may exist.

Sprachverständnis ist also nicht das letzte Ziel, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Es führt, wie gesagt, nicht immer zum Ziel. Daher gilt

»Construction is unavoidable.« (S. 121)

Dafür sind drei Gründe maßgeblich: Der sprachliche Ausdruck bleibt immer unvollkommen, denn es wird nicht alles ausbuchstabiert. Vor allem aber zweitens: Die zu regelnden Fälle sind komplex und in ihrer Varianz unvorhersehbar:

»Men who use words, even with the best intent and great care as well as skill, cannot foresee all possible complex cases, and if they could, they would be unable to provide for them, for each complex case would require its own provision and rule; times and require its own provision and rule.« (S. 121)

Und drittens: Die Verhältnisse ändern sich.

Mit den Regeln der Hermeneutik als textübersteigender Konstruktion soll sich eine weitere Fortsetzung befassen.


[1] Der Zusatz »Enlarged Edition« bezieht sich darauf, dass die ersten fünf Kapitel weitgehend schon in Aufsatzform in der Zeitschrift »American Jurist« Nr. XXXV von Oktober 1837 (S. 37-101) und Nr. XXXVI von Januar 1838 (S. 281-294) erschienen waren.

[2] Roberta Kevelson, Francis Lieber and the Semiotics of Law, Semiotics: Yearbook of the Semiotic Society of America, 1981, 167–177, S. 167.

[3] »Vafer« musste ich erst im Lexikon nachschlagen. Es bedeutet abgefeimt oder schlau.

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Die Juristische Methodenlehre von Francis Lieber (1800-1872)

Die deutsche Rechtswissenschaft hat Francis Lieber bisher nicht wahrgenommen, wiewohl der Staatsrechlter Hugo Preuß ihn 1886 als »Bürger zweier Welten«[1] gewürdigt hatte. Aber es lohnt sich, Lieber zu entdecken, denn er hat fast gleichzeitig mit Schleiermacher[2] und Savigny[3] eine »Hermeneutik« verfasst, die sich wie ein Lehrbuch der Juristischen Methodenlehre liest.[4] Nur ist sie moderner als das Methodenkapitel Savignys. Dass seine Methodenlehre hierzulande noch gar nicht und auch in den USA kaum rezipiert worden, liegt vielleicht daran, dass man Lieber in erster Linie als Enzyklopädisten und Politikwissenschaftler wahrgenommen hat. Vor allem aber hat man ihn als Verfasser der »Political Ethic« von 1838 in Erinnerung, die 1863 als General Orders 100 durch Präsident Lincoln zum amerikanischen Militärgesetzbuch wurde.[5] Inhaltlich wurde es bald von anderen Staaten übernommen und später zur Grundlage der Haager Konventionen von 1899 und 1907.

Nachtrag vom 13. 3. 2025: Der Nachtrag gehört hier an den Anfang, denn ich bin erst heute auf den Aufsatz von Stephan Meder aufmerksam geworden, der diesen und den folgenden Eintrag überflüssig macht:

Stephan Meder, Interpretation und Konstruktion. Zur juristischen Hermeneutik von Francis Lieber (1800 – 1872), JZ 2012, 529–584.

Dieser Aufsatz hat allerdings – ganz zu Unrecht – kein großes Echo gefunden und es insbesondere nicht geschafft, die Hermeneutik Liebers im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen.

Ich will mich auf Rsozblog nur mit der Methodenlehre befassen, die Lieber 1839 unter dem Titel Legal and Political Hermeneutics, Or, Principles of Interpretation and Construction in Law and Politics erstmals veröffentlichte. Aber die Biografie ist so spannend, dass ich nicht bloß auf Wikipedia und ältere im Internet verfügbare Biografien[6] verweisen will, sondern heute nur ausführlich die einschlägigen Passagen aus der Lobrede des Präsidenten auf der Jahrestagung der American Society of International Law im April 1913 zitiere:

»He was born in Berlin on the 18th of March, 1800. His childhood was passed in those distressful times when the declaration of the rights of man and the great upheaval of the French Revolution had inspired through out the continent of Europe a conception of popular liberty and awakened a strong desire to attain it, while the people of Prussia were held in the strictest subjection to an autocratic government of inveterate and uncompromising traditions. In the meantime foreign conquest, with the object lessons of Jena and Friedland and the Confederation of the Rhine, threatened the destruction of national in dependence; and love of country urged Germans to the support of a government which the love of liberty urged them to condemn. It was one of the rare periods in which political ideas force themselves into the thought and feeling of every intelligent life, and, alongside with the struggle for subsistence, the average man finds himself driven by a sense of necessity into a struggle for liberty, opportunity, peace, order, security for life and property – things which in ordinary times he vaguely assumes to come by nature like the air he breathes. So the early ideas of the child were filled with deep im pressions of the public life of the time. He remembered the entry of Napoleon into Berlin after Jena. He remembered the humiliation of the peace of Tilsit. He remembered Schill, the defender of Colberg, and Stein, and Scharnhorst. He was a disciple of Doctor Jahn, the manual trainer of German patriotism. At fifteen, after the es cape from Elba, he enlisted in the Colberg regiment and fought under Blucher at Waterloo. He was seriously wounded in the Battle of Namur and had the strange and vital discipline of lying long on the battlefield in expectation of death. He was a member of patriotic societies and was arrested in his nineteenth year, and imprisoned four months on suspicion of dangerous political designs. He was excluded from membership in the German universities, except Jena, where he received his degree of Doctor of Philosophy in 1820. At twenty-one he made his way to Greece with a company of other young Germans, inspired, by a generous enthusiasm for liberty, to an unavailing attempt to aid in the Greek War of Independence. Returning penniless from Greece he found his way to Rome, became a tutor in the family of Barthold George Niebuhr, then Prussian Ambassador, and there he won the confidence and life-long friendship of that great historian whose influence in familiar intercourse both increased the learning and calmed and sobered the judgment of the impetuous youth. Returning to Prussia, he was again arrested and imprisoned for nearly a year upon charges of disaffection to the government. Released through the intercession of Niebuhr, he went to England, and after a year’s hard struggle there, he came, in 1827, to the United States and to Boston. Seeking employment he found it in taking charge of the Boston Gymnasium. Through Niebuhr’s good offices he became the American correspondent of a group of German newspapers. He devised a plan for the publication of an encyclopedia, and for this he secured a distinguished list of contributors and associates. He became its editor, and in 1829 the publication of the Encyclopedia Americana was begun. It was a distinct success. Lieber’s connection with it not only forced him to a broad and accurate knowledge of American life, but brought him in contact with a great range of leaders of American thought and opinion, and this association gave him an intimate knowledge of American social conditions and public affairs. Bancroft, and Hilliard, and Everett, and Story, and Nicholas Biddle, and Charles Sumner were among his friends. In June, 1835, he was made Professor of History and Political Economy in South Carolina College, and for twenty-two years he held that chair, until, in 1857, he was called to Columbia College to be Professor of Modern History, Political Science. International Law, Civil and Common Law. His connection with Columbia and his residence in New York continued until his death in October, 1872. In the meantime, to the service as adviser to the government, which I have already described, he added the classification and arrangement of the Confederate archives in the office of the War Department, and long served e archives in the office of the War Department, and long served as umpire under the Mexican Claims Commision of July 4,1868.

Lieber himself has said that his life had been made up of many geological layers. The transition from his adventurous youth to the life of an American college professor did indeed carry him from igneous to sedimentary conditions. Under the new conditions, however, his surpassing energy and capacity for application found exercise in authorship. His work on Political Ethics, published in 1838, and that on Civil Liberty and Self-Government, published in 1853, gave him high rank among writers upon the philosophy of government.«

Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass auch der Rechtsphilosoph John Austin (1790-1859) zu Liebers Freundeskreis gehörte.

Die Fortsetzung dieses Eintrags soll also Liebers Methodenlehre gelten.


[1] Hugo Preuß, Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten, Berlin, 1886.

[2] Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik [1838], hg. von Manfred Frank, 9. Aufl. 2011. Aus der Sekundärliteratur Jan Rohls, Schleiermachers Hermeneutik, in: Andreas Arndt/Jörg Dierken (Hg.), Friedrich Schleiermachers Hermeneutik, 2016, 27–55.

[3] Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, dort das IV. Kapitel von Buch I = §§ 32-51= S. 206-330. Aus der Sekundärliteratur Joachim Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779-1861), in: ders./Ralf Seinecke, Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 4. Aufl. 2024, 59–103.

[4] Francis Lieber, Legal and Political Hermeneutics, Or, Principles of Interpretation and and Construction in Law and Politics, Boston, 1839 (3. Aufl. postum 1880). Ich zitiere nach der im Internet Archive verfügbaren 1. Aufl. von 1839.

[5] 50 Jahre später widmete Elihu Root ihm dafür die Elihu Root,. Presidential Address auf dem 7. Annual Meeting der American Society of International Law (Francis Lieber, American Journal of International Law, 1913 453-469).

[6] Frank Freidel, Francis Lieber. Nineteenth-Century Liberal, 1967; Lewis R. Harley, Francis Lieber. His Life and Political Philosophy, 1899; Thomas Sergeant Perry (Hg.), Life and Letters of Francis Lieber, 1882. 2005 hat die University of South Carolina Lieber als ihr most illustrious faculty member in einem Sammelband mit 15 Beiträgen gewürdigt: Charles R. Mack/Henry H. Lesesne (Hg.), Francis Lieber and the Culture of the Mind, 2005.

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Soziologische Jurisprudenz, ein Fall für Hautarzt und Psychiater?

Die Gunther Teubner zum 65. Geburtstag 2009 gewidmete Festschrift trägt den Titel »Soziologische Jurisprudenz«. Vor der Kritik kommt Bewunderung. Teubner hat wie kein anderer, anknüpfend an Luhmanns Systemtheorie, eine Sozialtheorie des Rechts entwickelt.[1] Sie ist geistreich, erschließt neuartige Quellen und bietet im Detail viele kluge Beobachtungen. Teubners Metapher von der globalen Bukowina, die auf Eugen Ehrlich anspielt, hat sich global verbreitet. Der von Rückert und Seinecke herausgegebene Sammelband über die Zivilrechtler des 19. und 20. Jahrhunderts und ihre Methodik stellt Teubner im Titel neben Savigny.[2] Prominenter geht es nicht. Wenn wir uns aber fragen, ob die Methodenlehre für Gegenwart und Zukunft umgeschrieben werden muss, ist die Antwort eher negativ. Aber das ist auch gar nicht Teubners Anspruch. Teubner ist zu vorsichtig, um handfeste Methodenratschläge zu geben. Er erklärt uns rundweg, soziologische Jurisprudenz sei ein Ding der Unmöglichkeit.

Teubners Rechtssoziologie übersetzt soziologische und rechtstheoretische Beobachtungen in die Sprache der Systemtheorie Luhmanns. Damit erzielt er einen Verfremdungseffekt, von dem viele sich faszinieren lassen. Zu dieser Faszination trägt nicht zuletzt bei, dass Teubner die als solche durchaus geläufigen rechtstheoretischen Probleme als Paradoxien darstellt. Seine Paradoxologie ist erweist sich als ein modernistischer Tanz um das Werturteilsproblem. Den Spagat der Systemtheorie zwischen operativer Schließung und kognitiver Offenheit überbrückt Teubner mit der Figur des responsiven Rechts.

Der Begriff des responsiven Rechts[3] stammt von Nonet und Selznick, die damit eine evolutionäre Entwicklung postmodernen Rechts kennzeichnen wollten. Teubner hat 1982 das evolutionstheoretische Konzept des responsiven Rechts von Nonet und Selznick in ein rechtspolitisches umgelenkt. Danach ist responsives Recht eine »flexible, lernfähige Institution, … die sensibel reagiert auf soziale Bedürfnisse und menschliche Aspirationen«.[4]

Auf der Zivilrechtslehrertagung in Zürich 2017 (auf der Teubner den Einleitungsvortrag über »Digitale Rechtsubjekte« hielt) fügte Michael Grünberger  in seinem Vortrag über »Verträge über digitale Güter« einen Abschnitt über »Methodenfragen« ein, in dem er eine »responsive Rechtsdogmatik« als Antwort auf die Umweltveränderungen durch die Digitalisierung vorschlug. Er meinte, »mit einer gedanklich im späten 19. Jahrhundert wurzelnden Privatrechtstheorie [werde] man keine adäquaten Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in ganz anders gelagerten Kontexten finden«, und forderte stattdessen eine »responsive Rechtswissenschaft«. Dazu bezog sich Grünberger auch auf einen Aufsatz Teubners aus dem Jahr 2015, indem dieser den Spagat zwischen einem an sich autonomen Rechtssystem und Notwendigkeit, den Blick auf die Umwelt des Rechts offen zu halten, auf den geläufigen Nenner der Irritation und Perturbation gebracht hatte, sowie schließlich auf Luhmanns Unterscheidung zwischen kognitiven und normativen Erwartungen, von denen letztere sich zur Rezeption in das Recht anbieten sollen. Aus Riesenhubers Erwiderung entsteht der Eindruck: Wir brauchen keine neuen Methoden. Das Arsenal der Dogmatik und der Methodenlehre ist allemal ausreichend. Im Grunde ist alles schon einmal dagewesen, alle relevanten sachlichen Aspekte ließen sich »mit der im späten 19. Jahrhundert wurzelnden Privatrechtstheorie«, mit ihrer Dogmatik und ihrer Methodenlehre erfassen. Das ist nicht ganz falsch und doch nicht richtig. Dass das nicht ganz falsch ist, hat Alexander Stark in seiner Dissertation über die »Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik« dargelegt. Dass Riesenhubers Abwehr nicht ganz richtig ist, zeigt, jedenfalls auf den ersten Blick, der Umstand, dass eine explizit soziologische Jurisprudenz praktisch keine Rolle spielt.

Eine soziologische Jurisprudenz ist anscheinend so etwas wie die Quadratur des Kreises.

Eine Probe aufs Exempel liefert der von Lomfeld herausgegebene Sammelband »Die Fälle der Gesellschaft«, der im Vorwort als »Wirkungsschrift« aus Anlass von Teubners 70. Geburtstag vorgestellt wird. Darin werden 16 höchstrichterlich entschiedene Fälle in ihren sozialen Kontext eingebettet. Der Darstellung des Falls und dem Leitsatz der Entscheidung wird jeweils ein »soziologischer Leitsatz« vorangestellt. Anschließend geben die Autoren, teilweise in der Form eines fiktiven Sondervotums, ihre Erläuterungen. Das Ganze beginnt mit einer Einleitung Lomfelds. Man wir ihm gerne zustimmen, wenn er die »richterliche Rechts(fort)bildung« als methodisches Kernproblem ansieht und in der Frage »nach vergleichbaren Interessenlagen zwischen Fällen«, also in einer »fallbezogenen Interessenjurisprudenz … die Wiege soziologischer Jurisprudenz« findet. Enttäuschung macht sich dagegen breit, wenn danach »normale« Rechtsdogmatik als Dummy aufgebaut wird, weil sie die »Unbestimmtheit« und die »Subjektivität« aller Entscheidungen nicht zur Kenntnis genommen habe. Die Sache wird nicht besser dadurch, dass der Dummy dann mit »Entscheidungsparadox« und »Begründungsparadox« aufgerüstet wird. Die Fallbeispiele leisten nichts, wozu Jurisprudenz nicht immer schon imstande war. Diese Probe jedenfalls ist misslungen.

2020 haben Grünberger und Reinelt einen neuen Anlauf unternommen. In einem schmalen, aber scharfen Band, der bei J. C. B. Mohr erschienen ist, fordern sie offensiv eine soziologische Jurisprudenz. Angetrieben wird der Text von einem starken Engagement für das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes, vorgebracht in einem systemtheoretisch orientierten Jargon. Soziologische Jurisprudenz soll die Rechtsdogmatik dazu bringen, wirksame Mittel gegen die strukturelle Diskriminierung zu finden. Responsivität ist für Grünberger/Reinelt ein dogmatischer Imperativ:

»Das Recht muss das von allen (!) Sozialtheorien gelieferte Wissen gleichermaßen berücksichtigen.«[5]

Zur Einlösung formulieren Grünberger/Reinelt die Probleme in einer systemtheoretisch orientierten Sprechweise. Ihre Argumente beziehen sie in erster Linie aus der »Eigenrationalität« der Sozialsysteme, selektiv nutzen sie auch empirische Untersuchungen. Sieht man näher hin, so arbeiten sie mit zwei Kunstgriffen:

  • Eine soziologische Rechtstheorie soll der Dogmatik vermelden, wann sie irritiert zu sein hat (S. 7).
  • Die Dogmatik ihrerseits verschafft sich Luft, indem sie, dem Vorschlag von Franz Hofmann [6] folgend, das anglo-amerikanische Remedy-System mit seiner Trennung von Stammrechten und Rechtsfolgen importiert. So wird das »Rechtsfolgenregime« von den primären Gebots- und Verbotsnormen getrennt und auf abschreckende Wirkung getrimmt.

Was hier soziologische Rechtstheorie genannt wird, erschöpft sich in der Übernahme fremddisziplinärer (soziologischer) Problemdefinitionen für die Rechtsdogmatik. Der Import des Remedy-Systems ist ein Gewinn nur für unterbeschäftigte Rechtsdogmatiker. Die Trennung der remedies von den Gebots- und Verbotsnormen ist ein typischer Zug der ökonomischen Analyse des Rechts, die bekanntlich Effizienz zum Prinzip hat mit der Folge, dass die die Wirksamkeit von Recht im Vordergrund steht. Gegen eine Querschnittsbetrachtung aller Sanktionsnormen als Rechtsfolgen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, sie ist notwendig, um zu sehen, wie sie unterschiedlich, gegeneinander oder zusammen wirken. Aber die dogmatische Separierung eines Rechtsfolgenrechts von den primären Gebots- und Verbotsnormen ist ein Irrweg, weil Gebote und Verbote auf der einen Seite und Sanktionen auf der anderen stets als aufeinander bezogen gesehen und bewertet werden müssen, es sei denn, man sieht die Aufgabe der Justiz in der Beförderung gesellschaftlicher Ziele und nicht im Ausgleich zwischen den konkret am Prozess Beteiligten.[7]

Für Europa erklärt sich die Fixierung auf Rechtsfolgen und deren Effektivität aus einem Minderwertigkeitskomplex des Unionsrechts. Doch selbst wenn man sich darauf einlässt und mit dem EUGH bei verschiedenen möglichen Auslegungen einer Vorschrift des Unionsrechts derjenigen den Vorzug gibt[8], die die praktische Wirksamkeit der Vorschrift zu wahren geeignet ist, so darf man sich nicht auf Sanktionen und Abschreckung konzentrieren. Die Wirksamkeit einer Norm hängt in erster Linie davon ab, dass ihre Ziele von den Adressaten akzeptiert werden. Eine zurückhaltende Anwendung der Antidiskriminierungsgesetze könnte ihnen vielleicht sogar zu besserer Wirkung verhelfen. Bei der Ausfüllung der remedies ist bei Grünberger/Reinelt nicht mehr von soziologischer Jurisprudenz die Rede, sondern 15 Mal von Abschreckung. Wenn man bedenkt, wie ausführlich Kriminologen die präventive Wirkung unterschiedlicher Sanktionen untersucht haben, handelt es sich um jene Stammtischdogmatik, die eine soziologische Jurisprudenz doch gerade überwinden will.

Ungeachtet ihres Plädoyers für eine soziologische Jurisprudenz verstehen Grünberger und Reinelt sich als Dogmatiker und betonen den strictly legal point of view. »Responsive Rechtsdogmatik« verlangt daher nach einem »komplexen Übersetzungsprozess«, damit außerjuristisches Wissen rezipiert werden kann. Allein es fehlt ein Übersetzer. Der Übersetzungsprozess hat Ähnlichkeit mit Starks dogmatischer Deliberation, soll diese doch »gründeresponsiv« und »gründesensibel« ausfallen.[9] Während Stark allgemein »Nachbarwissenschaften« im Blick hat und eine (relative) Gegenläufigkeit von Interdisziplinarität und Dogmatik konstatiert (S. 363), setzen Grünberger/Reichelt auf Soziologie und Sozialtheorien und lassen sich von den Wertungen dieser Fächer mitreißen. Während Stark die Responsivität der Dogmatik nur »supererogatorisch« einfordert, ist Responsivität für Grünberger/Reinelt ein dogmatischer Imperativ.

Was fehlt, ist auf eine deutliche Ansprache der (Wert)-Urteilsbildung, mit der die Dogmatik auf Fremdwissen reagiert. Man ist sensibilisiert und irritiert. Für Perturbationen bei der Lektüre des Rezepts sorgen 300 Gendersternchen. Der durch Irritationen und Perturbationen sensibilisierte Dogmatiker geht aber nicht etwa zum Hautarzt oder Psychiater, sondern respondiert auf die sozialwissenschaftliche Behandlung mit – ja womit? Doch wohl mit einem Werturteil. Doch über Werturteile zu reden, wagt er nicht.


[1] Einige Texte von Gunther Teubner: Den Schleier des Vertrags zerreißen? Zur rechtlichen Verantwortung ökonomisch »effizienter« Vertragsnetzwerke, KritV 76, 1993, 367-393; Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in Vergleichender Perspektive, ARSP 1982, 13-59; Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe. Folgenorientiertes Argumentieren in rechtsvergleichender Sicht, 1995; Netzwerk als Vertragsverbund. Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004; Digitale Rechtssubjekte? Zum privatrechtlichen Status autonomer Softwareagenten, AcP 218, 2018, 155-205 (ähnlich in Ancilla Iuris 2018, 35-78); Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie, in: Stefan Grundmann/Jan Thiessen (Hg.), Recht und Sozialtheorie 2015, 141-164.

[2] Weitere Skundärliteratur: Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie, ZfRSoz 36, 2016, 261-272; Michael Grünberger, Verträge über digitale Güter, AcP 218, 2018, 213-296; ders., Responsive Rechtsdogmatik – Eine Skizze. Erwiderung auf Karl Riesenhuber, AcP 219, 2019, 924-942; Bertram Lomfeld (Hg.), Die Fälle der Gesellschaft. Eine neue Praxis soziologischer Jurisprudenz, 2017; Michael Grünberger/André Reinelt, Konfliktlinien im Nichtdiskriminierungsrecht, Das Rechtsdurchsetzungsregime aus Sicht soziologischer Jurisprudenz, 2020; Karl Riesenhuber, Neue Methode und Dogmatik eines Rechts der Digitalisierung? – Zu Grünbergers »responsiver Rechtsdogmatik«, AcP 219, 2019, 892-923; Philipp Sahm, Methode und (Zivil-)Recht bei Gunther Teubner (geb. 1944), in: Joachim Rückert/Ralf Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. 2017, S. 447-470 (erweiterte Fassung = Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2017, SSRN 2284145).

[3]  Der Begriff der Responsivität ist in der politischen Wissenschaft beheimatet. Unter Juristen ist der Begriff seit 1992 durch den Band »Responsive Regulation« von Ian Ayres und John Braithwaite geläufig, wenn über die Regulierung von Organisationen diskutiert wird. Vgl. dazu etwa Kilian Bizer u. a. (Hg.), Responsive Regulierung, 2002.

[4] ARSP 1982 S. 14.

[5] Ein Problem, auf das ich hier nicht eingehen will, liegt in dem undefinierten Begriff der »Sozialtheorie«. Mit einem solchen arbeitet anscheinend auch Teubner in dem Aufsatz »Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie« (2015). Aber am Ende (S. 161f) unterscheidet er doch deutlich zwischen Sozialtheorien, die er teilweise auf eine Stufe mit Religionen stellt,  und sozialwissenschaftlichen Theorien. Schwierig ist auch Teubners Umgang mit dem Rationalitätsbegriff, billigt er doch jeder »Sozialtheorie«, jedem sozialen System und schließlich auch dem Recht eine »Eigenrationalität«. Solche Eigenrationalität läuft auf Eigennormativität hinaus. Zu Unrecht beruft er sich auf Max Weber (S.160) Dessen vier Rationalitäten sind bloße Formen. Was Teubner dann aber zu dem »komplizierten Übersetzungsprozeß« ausführt, mit dem das Recht »dogmatischen Mehrwert« kreieren soll, liest sich als metaphorische Analyse der Werturteilsbildung.

[6] Der Unterlassungsanspruch als Rechtsbehelf, 2017.

[7] Vgl. dazu das Bilateralismusargument als Kritik der ökonomischen Analyse des Rechts von Jules L. Coleman (Tort Law and the Demands of Corrective Justice, Indiana Law Journal 67, 1992, 349-380; zum Begriff und für weitere Nachweise Coleman, The Practice of Principle, 2003, S. 18 Fn. 7). Coleman kritisiert die Übernahme des ökonomischen Ansatzes durch die Justiz, weil er der normativen Beziehung zwischen den Parteien nicht gerecht werde. Die Ökonomen blickten ex ante auf hypothetische Schadensfälle unter dem Gesichtspunkt der Kosten- und Risikominimierung. Dagegen hätten die Gerichte ex post reale Schadensfälle zu beurteilen, die zwei ganz konkrete Parteien beträfen, die aufgrund des Schadensereignisses miteinander in einer normativen Beziehung stünden. Diese Kritik mag zunächst auf das klassische Schadensrecht (tort law) gemünzt sein. Aber auch Diskriminierungsfälle, wenn sie vor Gericht kommen, schweben nicht frei im Raum, sondern haben einen individuellen Hintergrund in der Individualität und den Beziehung der Parteien.

»The problem that confronts economic analysis, or any entirely forward-looking theory of tort law, is that it seems to ignore the point that litigants are brought together in a case because one alleges that the other has harmed her in a way she had no right to do. Litigants do not come to court in order to provide the judge with an opportunity to pursue or refine his vision of optimal risk reduction policy.  vision of optimal risk reduction policy. Rather, they seek to have their claims vindicated: to secure an official pronouncement concerning who had the right to do what to whom. The judge is there, in some sense to serve them – to do justice between them; they are not there to serve the judge in his policy-making capacity. Or so one might think prior to theorizing about tort law.« (Coleman 2003, S. 17).

Für Coleman erklärt das Konzept der korrektiven Gerechtigkeit das Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem am besten (S. 122). Statt an der korrektiven Gerechtigkeit, die von der bilateralen Natur der Rechtsbeziehung ausgehe, orientiere sich die ökonomische Rechtsanalyse an einem gesellschaftlichen Ziel, der Förderung der Effizienz (S. 123: risk reduction policy).

[8]  Urteil vom 7. März 2018, Cristal Union, C 31/17, EU:C:2018:168, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung.

[9]  Alexander Stark, Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik, 2020, S. 286, 347, 363.

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Robert‘s Rules of Order oder Das Naturrecht der Versammlung

Robert’s Rules on Parliamentary Procedure – ursprünglich Robert‘s Rules of Order -– sind ein Phänomen. Diese Verfahrensfibel des US-amerikanischen Armee-Generals Henry Martyn Robert wird seit 1876 in immer neuen Auflagen millionenfach gedruckt und direkt oder indirekt in aller Welt als Grundlage für die Geschäftsordnung von Versammlungen herangezogen.

Vor vielen Jahren hatte ich »Das ›Naturrecht‹ der Versammlung« als Dissertationsthema ausgegeben. Die Aufgabe bestand darin, Geschäftsordnungen von Parlamenten und anderen demokratisch organisierten Versammlungen mit »Robert‘s Rules on Parliamentary Procedure« zu vergleichen, die These dahinter, dass die Übereinstimmung zwischen den vielen Geschäftsordnungen so eindrucksvoll sein dürfte, dass man im übertragenen Sinne von einem »Naturrecht der Versammlung« reden kann. Der Doktorand, der das Thema übernommen hatte, ist seinerzeit daran (oder an mir) gescheitert, weil er, jedenfalls aus meiner Sicht, den Witz der Aufgabe nicht erfasst hatte, so dass letztlich eine der vielen konventionellen Arbeiten über parlamentarische Geschäftsordnungen[1] herauskam, die ich nicht akzeptiert habe.

Das ist mir jetzt wieder eingefallen, als ich bei der Lektüre des Vortrags von Wolfgang Ernst auf der Tagung der Zivilrechtslehrervereinigung 2022[2] in Fn. 24 auf dessen »Kleine Abstimmungsfibel« stieß, die 2001 im Verlag der Neuen Züricher Zeitung erschienen ist. Nachdem ich mir das Buch beschafft und darin gelesen habe, scheint es mir an der Zeit, den Gedanken an ein »Naturrecht der Versammlung« wieder aufzunehmen. Natürlich geht es nicht um »echtes« Naturrecht, sondern nur um Funktionalitäten und Sachzwänge. Aber die sind doch anscheinend außerordentlich stark. Jedenfalls scheinen die Geschäftsordnungen von Gremien aller Art auf eine so erstaunliche Weise zu konvergieren, dass man wohl von der Natur der Sache sprechen darf.

Die »Abstimmungsfibel« von Ernst verzichtet ganz auf Literaturhinweise und damit auch auf eine Würdigung von »Robert‘s Rules«. Auch sonst habe ich mit einer oberflächlichen Recherche in der deutschen Literatur keine Würdigung gefunden.

Gefunden habe ich den relativ neuen Aufsatz von Jonathan R. Siegel »A Law Professor’s Guide to Parliamentary Procedure«, der am Ende aus Robert‘s Rules of Order einen »Simplified Guide to Basic Parliamentary Procedure« für Fakultätssitzungen entwickelt.[3]

Robert‘s Rules of Order waren ihrer Entstehungszeit gemäß für beschließende Präsenzveranstaltungen bestimmt. Die Corona-Epidemie hat dem Trend zur Ersetzung von Präsenzveranstaltungen durch elektronische Meetings großen Auftrieb gegeben. Daher ist es von Interesse, dass Henry Prakken schon in der Anfangszeit der Digitalisierung 1997 den Versuch unternommen hat, Robert‘s Rules of Order in ein Programm für elektronische Versammlungen zu übersetzen.[4]

Da wartet vielleicht immer noch ein Dissertationsthema.


[1] Eine Arbeit, die meiner Fragestellung nahe kommt, die ich damals aber noch nicht kannte, ist von Robbie Sabel, Procedure at International Conferences, 1997.

[2] Wolfgang Ernst, Verantwortung für Gremienunrecht, AcP 2023, 170–227.

[3] Jonathan R. Siegel, A Law Professor’s Guide to Parliamentary Procedure, Journal of Legal Education 70, 2020, 26–64.

[4] Henry Prakken, Formalizing Robert’s Rules of Order. An Experiment in Automating Mediation of Group Decision Making, GMD Sankt Augustin, 1997; ders./Thomas F. Gorden, Rules of Order for Electronic Group DecisionMaking – A Formalization Methodology, in: Julian A. Padget (Hg.), Collaboration Between Human and Artificial Societies, 1998, 246-263.

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Differenzierung und Argumentation Overload

Analog zu dem vielfach beschworenen information overload ist in der Rechtstheorie ein argumentation overload zu beobachten. Die Auseinandersetzungen in den Geisteswissenschaften haben einen Grad der Differenzierung und Elaboration erreicht, der es gestattet, jede Argumentation am Ende als unvollständig oder verkürzend, selektiv oder perspektivisch zu kritisieren. Das ist für die Jurisprudenz misslich, denn ist sie verpflichtet, innerhalb überschaubarer Zeit mit beschränkten personellen und sachlichen Mitteln Entscheidungen zu produzieren.

In den Geistes- und Sozialwissenschaften besteht eine Tendenz, allgemeinere Theorien zugunsten immer weitergehender Differenzierungen (Nuancen) zurückzuweisen. So werden ständig detailliertere empirische Beschreibungen verlangt, und sie werden von einem nicht enden wollenden Ausbau der Begriffssysteme begleitet, die immer weitere Sachverhalte abdecken sollen. Diese Tendenz hat sich zumal in den Law- and Something Fächern ausgebreitet und ist zu einer Barriere für Interdisziplinarität geworden.

Auf der Differenzierungswelle schwimmt auch die postmodern inspirierte Rechtstheorie. Dort gilt »Differenz vor Identität«. Man achtet »in seinen Beobachtungen von Strukturen und Entwicklungen mindestens ebenso sehr wie auf Gemeinsamkeiten auf möglicherweise zwar nur feine, aber charakteristische Unterschiede und [hebt] gerade diese hervor.« Wer » im Verhältnis zu konkurrierenden Theorieangeboten jeweils den kleinsten gemeinsamen Nenner im Sinne eines ›overlapping consensus‹ herauszuarbeiten versucht«, wird zum Harmonisierer gestempelt, »der auf diese Weise andere Positionen für das eigene Projekt zu vereinnahmen sucht«.[1]

Ist nicht die Fähigkeit, immer feinere Differenzen zu erkennen und den Begriffen immer neue Bedeutungsunterschiede abzugewinnen das Kennzeichen eines guten Denkers? Die Welt ist nun einmal höchst komplex und kompliziert. Warum sollte Differenzierung da nicht der adäquate Ansatz ein? [2] Nein, sagt Healey. Es gehe nicht darum, die Differenziertheit der Welt in Abrede zu stellen. Aber um sie theoretisch zu erfassen, dürfe man nicht immer mehr in die Details gehen. Dazu müsse man hinreichend abstrakte Theorien aufstellen, die sich auch der Gefahr aussetzen, widerlegt zu werden.

Der Differenzierer fragt: Sind die Dinge nicht ein bißchen komplizierter? Fehlt da nicht noch irgend etwas? Haben nicht beide Positionen etwas für sich? Konstituieren nicht die Phänomene einander wechselseitig? Welche Rolle haben Struktur, Macht, Zeitlichkeit, Geschlecht (oder was sonst an abstrakten Begriffen einfällt) für dieses Problem?[3] Diese Einstellung so Healy, sei von Grund auf antitheoretisch. Sie blockiere die Abstraktion, auf die Theorie angewiesen sei, und behindere die in der Theoretisierung steckende Kreativität, um sodann drei Differenzierungsfallen (nuance traps) zu beschreiben:[4]

»I do claim that the more we tend to value nuance as such – that is, as a virtue to be cultivated, or as the first thing to look for when assessing arguments – the more we will tend to slide toward one or more of three nuance traps. First is the ever more detailed, merely empirical description of the world. This is the nuance of the fine-grain. It is a rejection of theory masquerading as increased accuracy. Second is the ever more extensive expansion of some theoretical system in a way that effectively closes it off from rebuttal or disconfirmation by anything in the world. This is the nuance of the conceptual framework. It is an evasion of the demand that a theory be refutable. And third is the insinuation that a sensitivity to nuance is a manifestation of one’s distinctive (often metaphorically expressed and at times seemingly ineffable) ability to grasp and express the richness, texture, and flow of social reality itself. This is the nuance of the connoisseur. It is mostly a species of selfcongratulatory symbolic violence.«

Eine vierte Falle, so könnte man hinzufügen, ist das Landkartenproblem. Eine Theorie, die die ganze Komplexität der Welt abbilden wollte, wäre unbrauchbar wie eine Landkarte im Maßstab 1:1. Die brauchbare Vereinfachung ist eine Kunst. Andernfalls sieht man den Wald nicht mehr vor lauter Bäumen.

Abstraktion wird immer wieder als Krankheit des Rechts angesprochen. Sie bildet aber ein allgemeineres Problem. Es bedarf eines langen Trainings, um die in ihrer Konkretheit unendlich differenzierte Wirklichkeit in wissenschaftlichen Texten zu repräsentieren, das heißt, sie in (abstrakte) Theorie zu bringen. Theorie arbeitet notwendig mit Verallgemeinerungen, die immer zugleich eine Abstraktion darstellen. Einwände gibt es immer, und es ist bequem, Einwänden durch eine neue Volte der Theorie Rechnung zu tragen.

Vor kurzem habe ich innerhalb einer Stunde vierzehn neue Bücher heruntergeladen, die mir nach Titel und Verlagsanzeige für Rechtssoziologie und Rechtstheorie relevant erschienen (darunter das in Fn. 3 genannte). Niemand kann solche Literaturmengen gründlich lesen und ihre Gedanken vollständig aufnehmen. Muss er auch gar nicht. Die Erfahrung ist immer wieder, dass wenig von dem, was zwischen bunten Buchdeckeln daherkommt, neu und wichtig ist. Die Texte umkreisen und differenzieren immer wieder die gleichen Fragen und finden selten zu neuen Antworten. In der Regel geht es darum, auf alte Probleme mit neuen Sprachspielen zu antworten, die dem Zeitgeist Rechnung tragen. So hat sich wohl jeder, der versucht, in dieser Argumentationsflut den Kopf über Wasser zu halten, eine Schnelllesestrategie zugelegt. Titel, Klappentext, Grobgliederung, ein Blick in Einleitung und Zusammenfassung und dann vielleicht noch eine Stichwortsuche. Mehr ist oft nicht drin. Die Aufgabe des Perlentauchers müssen andere übernehmen. Freilich bedeutet diese Literaturflut als solche noch keine Differenzierung. Aber Wissenschaftssoziologen werden sich früher oder später der Frage zuwenden, ob nicht die EDV-gestützte Leichtigkeit des Schreibens und die personelle Ausweitung der schreibenden Akademie die Differenzierung vorantreibt.

Die Abstraktionen des Rechts bestehen nicht aus wissenschaftlichen Theorien, sondern aus Regeln. Differenzierer haben die Rechtsnorm als allgemeine Regel in Verruf gebracht. Ein zusätzliches Problem folgt für die Jurisprudenz jedoch aus Forderung nach Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, einer Forderung, die auch dort, wo sie nicht vom Gesetz vorgesehen ist (wie in §§ 314 I 2 und § 626 I BGB), vom Bundesverfassungsgericht generalisiert worden ist. Hier wäre nun die Hoffnung auf die Rechtstheorie, auch in Gestalt der Methodenlehre, der Jurisprudenz und mit ihr den Gerichten bei der Abarbeitung der Einzelfälle durch Regelbildung zu unterstützen. Ich sehe dazu bisher keine Ansätze. Vielleicht müssen wir auf künstliche Intelligenz in Gestalt von JurGPT warten, die mit ihrer Fähigkeit zur Mustererkennung den argumentation overload eindampft. Bis dahin bedarf es des Selbstbewusstseins erfahrener Juristen, um dem differenzierten Theoriemosaik der philosophisch und sozialwissenschaftlich inspirierten Rechtstheorie und dem daraus folgenden Überangebot von Argumenten einigen Gewinn abzuringen.


[1] Ino Augsberg, Der Staat der Netzwerkgesellschaft, in: ders. (Hg.) Ino Augsberg, Der Staat der Netzwerkgesellschaft, 2023, 11–34, S. 12.

[2] Kieran Healy, Fuck Nuance, Sociological Theory 35, 2017, 118-127.

[3] Frei nach Healey S. 119.

[4] S. 121f.

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Der halbierte Naturalismus der Philippa Foot

Der Aristotelische Naturalismus will Natürlichkeitsargumente wieder hoffähig machen.[1] Zu einiger Prominenz hat es Philippa Foot gebracht. So hatte ich einige Hoffnung auf ein gutes Ende des Natural Turn in ihre 2001 erschienene Abhandlung »Natural Goodness« gesetzt.[2] Die Hoffnung wurde geweckt, weil Foot die »Lebensform« der Spezies Mensch zur Basis ihres Naturalismus macht. Auf den ersten Blick bietet sie damit eine anthropologisch begründete Ethik. Doch, wie so oft, der erste Blick täuscht.

In dem von Thomas Hoffmann und Michael Reuter herausgegebenen Sammelband »Natürlich gut« mit »Aufsätzen zur Philosophie von Philippa Foot« (2010) wird einige Kritik geübt. Aber die Zustimmung oder gar Bewunderung überwiegt. Zwei Kritikpunkte bleiben unterbelichtet, die Zirkularität des Arguments[3] und die Lücke, die der Sprung von der subrationalen ersten Natur des Menschen zu seiner zweiten kulturellen Natur hinterlässt[4]. An diesen beiden Kritikpunkten will ich meine Enttäuschung festmachen.

Foot will »über etwas schreiben, das man ›natürliche Qualität und natürlichen Defekt bei Lebewesen‹ (natural goodness and defect in living things) nennen kann« (S. 18). Sie verankert ihren ethischen Naturalismus in der Natur des Menschen, indem sie dessen Fähigkeit, sich an Gründen zu orientieren, als wesentliches Merkmal seiner »Lebensform« postuliert. Diese Fähigkeit nennt sie praktische Rationalität. Normative Urteile im eigentlichen Sinne fordern ein in irgendeiner Weise durch Willen und Verstand gelenktes Verhalten ein, wie es nur dem Menschen möglich ist. Menschen verfügen, wie schon die meisten Tiere, über soziale Fähigkeiten. Sie haben darüber hinaus ein Selbstbewusstsein, dass ihnen zu intellektuellen Fähigkeiten verhilft, darunter die auch die Empfänglichkeit für Gründe. »Denn das Handeln nach Gründen ist eine grundlegende Weise menschlichen Verhaltens.« (S. 36) Es ist »Tatsache, daß Menschen Wesen mit der Fähigkeit sind, Handlungsgründe anzuerkennen und entsprechend zu handeln« (S. 43). Unzugänglichkeit für Gründe gilt Foot als natürlicher Defekt. Somit gehört praktische Rationalität zur Natur des Menschen.

Für das Konzept der Lebensform bezieht sich Foot (S. 46ff) ausführlich auf einen Aufsatz von Michael Thompson[5] – und weckt dadurch die Hoffnung auf eine anthropologische Grundlegung. Michael Thompson hat den Begriff der Lebensform ausgearbeitet. Er meint, die üblichen Definitionen des Lebens mit einer Liste von »Merkmalen des Lebendigen«[6] bildeten eine stabile Einheit, so dass man in einen Zirkel gerate, wenn man eines von ihnen separat zu erläutern versuche. Leben zeige sich nicht im Abstrakten, sondern werde nur in lebendigen Individuen wirklich. Zwischen dem abstrakten Begriff des Lebens und dem konkreten Individuum steht die Spezies (Gattung, Art), die Thompson »Lebensform« nennt. Über die Lebensformen lassen sich daher allgemeine Aussagen machen[7]. Hinsichtlich solcher Aussagen über die Spezies oder Lebensform spricht Thompson von naturhistorischen Urteilen (natural-historical judgements). Diese Benennung leitet er von Aussagen ab, wie man sie typisch in Wander- und Naturführern findet, wenn es dort etwa heißt: Hier leben Rotluchse. Die Fellfarbe der Körperoberseite reicht von blassgelb bis rötlich braun. Im Frühling bringt der weibliche Rotluchs zwei bis vier Junge zur Welt. Später lernen die Jungen, Kaninchen, Hasen und andere Kleintiere zu jagen[8]. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Allsätze, denn die Aussage muss nicht auf jedes Exemplar der Gattung zutreffen, sondern um Urteile über typische Eigenschaften, die auch dann »wahr« sind, wenn sie nicht bei allen Individuen zutreffen. Man hat auch schon Rotluchse mit schwarzem Fell gefangen.

Thompson verwendet einigen Aufwand darauf zu begründen, dass Aussagen über eine Lebensform allgemeingültige Urteile sind, wiewohl sie nicht auf jedes Exemplar der Gattung zutreffen. Dazu bemüht er insbesondere die Kategorienlehre des Aristoteles. Diese Bemühungen laufen darauf hinaus, dass sich Lebensformen durch typische Eigenschaften und Prozesse auszeichnen, mit einem anderen Ausdruck, durch Normalität.

Spannend wird Thompsons Gedankengang durch die anschließende Frage, ob naturhistorische Urteile, also allgemeine Aussagen über eine Spezies oder Lebensform, normativer Art sind[9]. Seine Antwort schillert, ist aber doch letztlich negativ. Naturhistorische Urteile scheinen jedoch einen »verborgenen normativen Unterbau«[10] zu haben. Sie liefern die Maßstäbe oder Standards für die Exemplare der Gattung. Der Züchter wird ein Pferd nach seinem Körperbau als wohlgebildet und geeignet für den Rennsport einstufen, der Kenner eine Rose als besonders schönes Exemplar ihrer Gattung. Von einer Katze mit drei Beinen könnte man sagen, sie sei defekt, von einer Pflanze, die wuchert, sie sei krank. Mit solchen Aussagen werden normative Kategorien, die eigentlich nur menschlichem Verhalten gelten, auf die subrationale Natur angewendet. Normalität, Anormalität und Anomalien = »natürliche Defekte« sind stets »lebensformrelativ«. Dabei handelt es sich zwar um »künstliche Kategorien«[11]. Aber letztlich sind alle Begriffsbildungen künstlich. »Naturhistorische Urteile«, welche die Lebensform einer Spezies beschreiben, seien deshalb nicht normativ.

Foot entwickelt an Hand der Lebensformen ein Konzept »natürlicher Normen« (S. 44ff).

»In meiner Sicht steht moralische Bewertung nicht im Gegensatz zur Tatsachenbehauptung, sie hat vielmehr mit Tatsachen einer besonderen Art zu tun – genauso wie Bewertungen solcher Dinge wie Sehvermögen und Geör bei Tieren sowie anderer Aspekte ihres Verhaltens. Ich denke, niemand würde etwas anderes als eine Tatsache darin sehen, daß mit dem Gehör einer Glucke etwas nicht in Ordnung ist, die das Schreien ihres eigenen Kükens nicht ausmachen kann – ebenso wie mit dem Sehvermögen einer Eule, die im Dunkeln nicht sieht. Nicht weniger offensichtlich ist es, daß es Bewertungen gibt, die auf der Lebensform unserer eigenen Spezies basieren – Bewertungen des Sehvermögens von Menschen, ihres Gehörs und Gedächtnisses, ihrer Konzentration usw. die objektiv sind und Tatsachen zum Ausdruck bringen. Warum scheint es dann so abwegig, daß sich auch die Bewertung des menschlichen Willens an Tatsachen der menschlichen Natur und des Lebens unserer Spezies orientieren muß?« (S. 42f)

Was natürlich gut ist, ist für jede Spezies verschieden. Nur die formale Struktur der Bewertung bleibt gleich (S. 72). Die Analogie lautet dann, »daß Menschen darauf angewiesen sind, daß Moral vermittelt und befolgt wird« (S. 33), ähnlich »wie die Bienen auf Stacheln« (S. 66; ein Vergleich, der auf Peter T. Geach zurückgeht). Offen bleibt damit zunächst die Frage nach dem Inhalt von Moral oder Tugend.

Natürliche Normen kommen nur Lebewesen zu. Sie ergeben sich aus »aristotelischen Kategorien«, das sind solche Eigenschaften einer Spezies, die »unmittelbar oder mittelbar, mit Selbsterhaltung (zum Beispiel durch Verteidigung oder Nahrungsaufnahme) oder mit der Fortpflanzung des Individuums (wie beim Nestbau) zu tun haben« (S. 51). Es geht um Aussagen, »die mit der Teleologie der Lebewesen[12] dieser Art zu tun haben« (S. 51). Daraus werden Normen abgeleitet, die von einem Exemplar der betreffenden Spezies sagen, »daß es (dieses Individuum) so ist wie es sein sollte, oder aber, daß es in einer bestimmten Hinsicht mehr oder weniger defekt ist« (S. 54).

»Die Frage ist also, ob Eigenschaften und Vollzüge von Menschen in Bezug auf ihre Rolle im menschlichen Leben gemäß dem Schema der natürlichen Normativität bewertet werden können, das wir bei Pflanzen und Tieren entdeckt haben.« (S. 61)

An dieser Stelle ist die Frage nur noch rhetorisch, war sie doch zuvor schon positiv beantwortet worden. Nun ist man gespannt, aus welchen »Eigenschaften und Vollzüge von Menschen« natürliche Normen abgelesen werden sollen.

»Begrifflich wird die Qualität von Eigenschaften und Vollzügen durch den spezieseigenen Bezug auf Überleben und Fortpflanzung bestimmt; denn nichts anderes als Überleben und Fortpflanzung nach der Art der jeweiligen Spezies ist das Gute in der botanischen und zooologischen Welt. An diesem Punkt kommen die Fragen ›Wie?‹, ›Warum?‹ und ›Wozu?‹ An ein Ende. Das ist natürlich anders, wenn wir uns mit Menschen beschäftigen. … Die Teleologie des Menschen erschöpft sich nicht im Überleben allein.« (S. 64f).

Da würde man gerne zustimmen. Doch wo bleibt die Natur? Aristotelisch notwendig sei, was für Gutes erforderlich sei (S. 68). Aber was ist das menschlich Gute, wenn es nicht bloß in Selbsterhaltung und Fortpflanzung besteht und die Bewertung menschlichen Handelns »dieselbe begriffliche Struktur hat wie die Bewertung von Vollzügen in der sub-rationalen Welt des Lebendigen« (S. 72)?. Die »Lebensform« einer Spezies zeigt sich nicht in einer Momentaufnahme, sondern in der »Naturgeschichte«.

»Es gibt wahre Aussagen wie ›Menschen machen Kleider und bauen Häuser‹, die sich vergleichen lassenmit ›Vögel haben federn und bauen Nester‹. Und so gibt es auch Aussagen wie ›Menschen führen Regeln ein und erkennen Rechte an‹.« (S. 75).

Regeln und Recht mit welchem Inhalt? Der Inhalt ergibt sich nicht aus biologischen und psychischen Merkmalen des Menschen, sondern aus seiner Rationalität, von der Foot zeigen will, »daß es Merkmale gibt, die all den Bewertungen gemeinsam sind, die man ›Bewertungen des rationalen Willens des Menschen‹ nennen kann« (S. 96). Dazu erfahren wir, wie praktische Rationalität arbeitet, vor allem, dass sie keinen Unterschied macht zwischen moralischen und anderen Vernunfturteilen. Foot zitiert das harm principle John Stuart Mills, nachdem nur solche Handlungen moralischer Beurteilung zugänglich sind, die sich auf andere Menschen oder die Gesellschaft negativ auswirken, und erklärt, dass bloß törichte oder selbstzerstörerische Handlungen nach der gleichen Logik bewertet werden. Wenn Rationalität nicht zu Ergebnissen gelangt, die nach der Vorstellung Foots rational sind, ist sie mit einem natürlichen Fehler behaftet.

In welche Richtung der »rationale Wille des Menschen« führen müsste, um nicht als fehlerhaft zu gelten, zeigt das 6. Kapitel, nämlich zu »Glück und Wohl« des Menschen. Das eigentliche, »tiefe« Glück findet Foot nach dem Vorbild des Aristoteles in tugendmäßiger Betätigung – im Gegensatz zu trivial kindlicher Zufriedenheit oder gar dem Lustgewinn aus boshaftem Verhalten. So gerne der Leser diesen Überlegungen zustimmen möchte, so sehr muss er bezweifeln, dass es sich insofern um eine kulturelle Universalie handelt, die als natürliche Lebensform des Menschen gelten kann. Wenn das Streben nach »Glück und Wohl« in diesem höheren Sinne zur natürlichen Lebensform des Menschen gehörte, wären Moralphilosophie und Ethik wohl überflüssig.

Das Buch endet mit einem lesenswerten Kapitel über Immoralismus, wie ihn Platon dem Sophisten Thrasymachos in den Mund legt und wie ihn Nietzsche als eigene Überzeugung verkündet. Hier erfahren wir, dass reine Freundschaft, echte Barmherzigkeit und wahre Liebe zur Gerechtigkeit natürliche Qualitäten der Spezies Mensch bilden.

»Wenn Nietzsche bestritt, daß Handlungsbeschreibungen wie ›Verletzung‹, ›Unterdrückung‹ ›Vernichtung‹ usw. notwendig einen Widerspruch zur Tugend der Gerechtigkeit – ungerechtes Handeln – signalisieren, daß also derartige Handlungen moralisch als solche falsch seien, dann gab es dafür keine stimmige psychologische Grundlage. Seine Auffassung ist meines Erachtens völlig verkehrt und zudem gefährlich. Selbstverständlich widerstreitet sie den Prinzipien der natürlichen Normativität, wie sie in diesem Buch erläutert wurden.« (S. 148)

Um Nietzsche die »psychologische Grundlage« abzusprechen, muss man wohl von der Vorstellung von psychischen und moralischen Grundintentionen ausgehen. Das wäre aber gerade der psychologische Naturalismus, den Foot vermeiden will. Ihr Naturalismus ist indirekter. Er wird durch die praktische Rationalität vermittelt, die zur Lebensform des Menschen gehört. Doch diese Vermittlung läuft auf einen Zirkelschluss hinaus. Praktische Rationalität, wie sie Foot versteht, ist mehr als bloße Reflexivität. Sie hebt den struggle of life nicht nur technologisch auf die Ebene der Zweck-Mittel-Rationalität, sondern verhilft ihm zugleich zu moralischen Schutzvorkehrungen. Foots praktische Rationalität orientiert sich definitionsgemäß an Handlungszielen, die etwas Gutes für den Menschen darstellen.[13] Oder in (unkritisch gemeinten) Formulierungen von Pauer-Studer: Praktische Rationalität richtet sich nach den Bedingungen der Moral: »In Natural Goodness reduziert Foot praktische Rationalität auf eine Konzeption guter Gründe, die von den Tugenden her vorgegeben werden.«[14]. Foots praktische Vernunft ist von vornherein eine werthaft verfasste Vernunft. So wird in die Lebensform des Menschen hineingelegt, was danach als natürliche Normativität herausgeholt wird.

Foots Naturalismus ist nicht nur zirkelhaft, sondern auch inkonsequent, sozusagen ein halbierter Naturalismus, halbiert, weil der immer wieder angestellte Vergleich mit den Lebensformen von Pflanzen und Tieren nicht durchgehalten wird. Der Sprung von der subrationalen ersten Natur zur praktischen Rationalität lässt eine Lücke. Die Analogie zu pflanzlichen und tierischen Lebensformen bleibt unvollständig, wenn Rationalität als einziges Merkmal herausgegriffen wird. Damit lässt Foot alle Probleme hinter sich, die daraus folgen, dass der Mensch nicht nur Geist, sondern auch Leib ist. Diese Lücke wird indirekt von Anton Leist angesprochen:

»Wenn man … nur die Bedeutung des logos für eine zweite, eben kulturell herausgearbeitete menschliche Natur betont, übersieht man leicht die nötigen biologischen Voraussetzungen für diese zweite Natur.«[15]

Um die Lücke zu schließen, müsste man die empirische Anthropologie zu Rate ziehen. Deren Minimalaussage wäre wohl: Die Lebensform des Menschen unterscheidet sich von der tierischen wohl dadurch, dass alle Handlungen, die der Lebenserhaltung und Fortpflanzung dienen, ihren Weg durch das Bewusstsein nehmen können und damit praktischer Rationalität zugänglich sind. Doch damit ist die Biologie nicht abgeschafft. Menschliches Gedeihen gibt es nur in der Verbindung von Körper und Geist. Zur Lebensform des Menschen gehören unabdingbar unter anderem die Heterosexualität und historisch vielleicht auch der Kleinstamm und/oder die Kleinfamilie.[16] Foot weist solche Gedanken gleich zu Beginn zurück, indem sie sich dagegen verwahrt, der Lebensform des Menschen eine bestimmte Sexualmoral zu entnehmen, indem sie sagt:

 » …that by natural goodness I emphatically do not mean the goodness thought by many to belong for instance, to some but not other sexual practices because some but not others are ›natural‹.« (2001 S. 3 = 2014 S. 18).

Dieser Vorbehalt wird für den Leser um so unverständlicher, je länger er liest, wird er doch geradezu »emphatisch« mit natürlichen Lebensformen konfrontiert. Die ständige Bezugnahme auf solche Lebensformen fordert dazu heraus, die Möglichkeit eines normativen Rekurses auf die subrationale erste Natur jedenfalls zu bedenken, so wie es heute selbstverständlich ist, wenn menschliches Verhalten gegenüber der außermenschlichen Natur in Rede steht. Foot und Thompson richten sich zwar an philosophische Fachkollegen. Sie müssen aber damit rechnen, dass auch unbedarfte Juristen, die einen Alltagsnaturalismus mitbringen, ihre Texte lesen. Juristen könnten Foot etwa mit der Frage konfrontieren, ob eine Verfassungsbeschwerde gegen den 2017 geänderten § 1353 I 1 BGB moralisch zulässig oder gar geboten wäre. Gefordert ist deshalb eine Erklärung, was genau den moralischen Rekurs auf natürliche Lebensformen einschränkt oder gar blockiert. Die Antwort, die Foot geben könnte, liegt nahe: Die Empfänglichkeit für Gründe führt zu der Überzeugung, dass die relevante Gleichheit zwischen Menschen stärker ist als alle Abweichungen von einer typischen Lebensform. Wenn es um Moral und Recht geht, ist der Gleichheitssatz stärker als die subrationale Natur. Wenn also Heterosexualität die typische »Lebensform« des Menschen sein sollte, folgte daraus keine Sexualmoral. Homosexualität und Transsexualität sind und bleiben Teil der Natur des Menschen, auch wenn sie aus der »Lebensform« herausfallen. Die Möglichkeit der Reflexion über biologische Funktionalität macht es möglich, Sexualität von der Reproduktionsfunktion gedanklich und dann auch praktisch zu trennen. Deshalb mag man z. B. Menschen, die sich gegen eigene Kinder entscheiden, aus anderen Gründen loben oder tadeln, man kann ihnen aber jedenfalls keinen Verstoß gegen die Natur vorwerfen. Ich würde aber nicht so weit gehen, die rechtliche Privilegierung der Bio-Ehe, wie sie in vielen Staaten noch immer Gesetz ist und wie sie zum Programm einiger politischer Parteien auch in Europa gehört, als Menschenrechtsverletzung oder umgekehrt als naturrechtlich fundierte Forderung einzuordnen. Diversität ist auch für politische Programme angesagt.

Was bleibt für den Natural Turn? Ein weitergehender Naturalismus kommt nur für solche Urteile in Betracht, die keine Verbindlichkeit für Dritte beanspruchen. In diesem Sinne steht es jedem frei, bewusst für natürlich gehaltenen Lebensformen nachzuleben, und zwar durchaus auch im Verein mit anderen. Man wird es auch für zulässig halten können, dass Menschen, so wie sie sich für Bio-Lebensmittel entscheiden, Bio-Lebensformen bevorzugen, sich für Bio-Sex, Bio-Ehe und Bio-Familie einsetzen und Reproduktionsmedizin und Human Enhancement ablehnen, so wie andere gentechnisch veränderte Lebensmittel ablehnen. Auch ein Bio-Feminismus, der als Differenzfeminismus für die Geschlechter unterschiedliche Rollen in der Gesellschaft sieht, ist solange vertretbar, wie er beschreibend »Glück und Wohl« der Betroffenen in den Blick nimmt, ohne einen Lebensstil vorzuschreiben oder gar rechtliche Einschränkungen zu akzeptieren.

Nachtrag: Eine in ihrer Ausführlichkeit kaum noch lesbare Stellungnahme von Richard Friedrich Runge, Eine kritische Theorie der Tugendethik, 2022, ist im Internet frei zugänglich (Campus Wissenschaft).


[1] Vgl. Christian Kietzmann, Ethik und menschliche Natur. Literatur zum Aristotelischen Naturalismus, Philosophische Rundschau 65, 2018, 175-196. Einen neueren Sammelband (Martin Hähnel (Hg.), Aristotelian Naturalism. A Research Companion, 2020) habe ich nur durchgeblättert.

[2] Deutsche Übersetzung von Michael Reuter: Die Natur des Guten, 2004. Ich zitiere nach der Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe von 2014 (Seitenzahlen in Klammern im Text).

[3] Dem Einwand der Zirkularität am nächsten kommt Gerlinde Pauer-Studer, wenn sie Foot vorhält, sie könne »nicht beides behaupten: dass zum einen Verletzungen der Zweck-Mittel-Effektivität ein allgemeines Rationalitätsdefizit sind und dass zum anderen praktische Rationalität nicht zweckneutral ist« (S. 182).

[4] Den Einwand der Lücke zur anthropologischen Basis hat Anton Leist im Blick: Naturalismus bei Foot und Hursthouse, in: Thomas Hoffmann/Michael Reuter (Hg.), Natürlich gut, 2010, 121-148.

[5] Michael Thompson, The Representation of Life, in: Rosalind Hursthouse u. a. (Hg.), Virtues and Reasons 1995, 247-296. Überarbeitete Fassung in Michael Thompson, Life and Action, 2008; deutsch als: Leben und Handeln, 2011.

[6] 2011 S. 46ff.

[7] S. 65.

[8] S. 83.

[9] S. 96ff.

[10] S. 105.

[11] S. 101.

[12] Anton Leist (wie Fn. 4, S. 133) kritisiert, solche Teleologie sei im Rahmen der modernen Biologie seit Darwin eindeitig falsch und könne deshalb nur alltagssprachlich gemeint sein. Dagegen verteidigt Kietzmann das Konzept der Lebensform von Thompson und Foot als Redeweise, die auch vor dem Hintergrund er Evolutionstheorie angemessen bleibe (S. 185ff). Der Kritik von Leist könnte man begegnen, indem man die Spezies als System setzt und auf die Funktion der für relevant gehaltenenen Eigenschaften innerhalb einer Lebensform abstellt. Damit würde die »natürliche Normativität« allerdings zur bloßen Funktionalität, und es würde klar, dass Foot mit ihrer Redeweise schon den von Thompson apostrophierten »verborgenen normativen Unterbau« einzieht.

[13] Thomas Hoffmann/Michael Reuter, Auf dem Weg zum natürlich Guten Eine Einführung in die Moralphilosophie Philippa Foots, in: dies. (Hg.), Natürlich gut, Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, 2010, 1-24, S. 13.

[14] Wie Fn. 3, S. 172f)

[15] Wie Fn. 4, S. 127.

[16] Dazu verweise ich auf Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht, 1977. Dieses Buch habe ich in mehreren Einträgen auf Rsozblog gewürdigt.

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Frege und die Frage nach dem Geist der Geisteswissenschaften

Die traditionelle Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften hat an Bedeutung verloren. Man orientiert sich eher an der Unterscheidung zwischen sciences und humanities und differenziert letztere in Lebens- und Kulturwissenschaften. Moderne Rechtswissenschaft ist durch die Vielfalt ihrer Ansätze gekennzeichnet. Dennoch bleibt die Einordnung der Jurisprudenz als Geisteswissenschaft so zentral, dass die Frage nach Gegenstand und Methode der Geisteswissenschaften jedenfalls aufgeworfen werden muss, auch wenn keine definitive Antwort in Ausicht steht.

Es liegt nahe, Gedankeninhalte als solche, also unabhängig von ihren Trägern, als objektiven Geist zu kennzeichnen. Diese Benennung ist gefährlich. Sie lässt sich nicht verwenden, ohne dass Hegel in den Sinn kommt, der bekanntlich in seiner »Philosophie des Geistes«, dem Dritten Teil der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«, zwischen subjektivem, objektivem und absolutem Geist unterschied. Objektiver Geist ist bei Hegel mehr als ein bloßer Gegenstand der Betrachtung. Er bezeichnet das einer Gruppe, einer Gemeinschaft oder einem Volk gemeinsame Überindividuelle, das im Bewusstsein der Menschen auch als deren »subjektiver Geist« präsent sein kann, das aber zugleich »objektiv« im Sinne von vernünftig, richtig und historisch notwendig sein soll. Recht, Staat und Sittlichkeit bilden für Hegel geradezu das Dasein des Geistes, auf das sich die Geisteswissenschaften richten.[1]

Philosophen unterscheiden Immanenz und Transzendenz. Unter Immanenz wird die erfahrbare Welt verstanden, während Transzendenz ein Jenseits bezeichnet, zu dem Menschen nur im Gedankenflug Zugang haben. Dieser Ausgangspunkt legt eine dualistische Unterscheidung von Leib und Seele, Natur und Geist nahe. Das wäre der berühmte oder berüchtigte cartesianische Dualismus. Im 19. Jahrhundert beförderten die enormen Erfolge der Naturwissenschaften die Vorstellung, dass auch Gesellschaft und Geist naturwissenschaftlich erklärt werden könnten. Aus dem Dualismus schien ein psychologischer Monismus (Materialismus, Physikalismus) zu werden. Die Philosophie sah sich vor der Frage, ob die Geisteswissenschaften neben Soziologie und Psychologie noch einen Platz behaupten könnten.

Nicht alles ist Psyche oder »Vorstellung«, meinte der Mathematiker Gottlob Frege:

»Sonst enthielte die Psychologie alle Wissenschaften in sich oder wäre wenigstens die oberste Richterin über alle Wissenschaften. Sonst beherrschte die Psychologie auch die Logik und die Mathematik.«[2]

»Gedanken« haben Inhalte, die bestehen bleiben, wenn sie von ihren menschlichen Trägern losgelöst (abstrahiert) werden. Frege schrieb deshalb:

»Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muss anerkannt werden.«[3]

So postulierte Frege mit dem dritten Reich der Gedanken oder des Geistes einen ontologischen Trialismus. Fast gleichzeitig, aber unabhängig von Frege entwickelten die Juristen Gustav Radbruch und Hermann Kantorowicz einen Trialismus eigener Art.

Als Neukantianer lösten Radbruch und Kantorowicz das Problem des psychologischen Monismus, indem sie einen Methodendualismus postulierten. In einer Formulierung des Rechtsphilosophen Gustav Radbruch, der sich dazu in der ersten Fußnote (auf S. 91) auf »die philosophischen Lehren Windelbands, Rickerts und Lasks« bezogen hatte:

»Die Kantische Philosophie hat uns über die Unmöglichkeit belehrt, aus dem, was ist, zu schließen, was wertvoll, was richtig ist, was sein soll. … Sollenssätze, Werturteile, Beurteilungen können nicht induktiv auf Seinsfeststellungen, sondern nur auf andere Sätze gleicher Artgegründet werden. … Das ist das Wesen des Methodendualismus[4]

Radbruch ging also nicht »ontologisch« von einem besonderen Objektbereich der Geisteswissenschaften aus, sondern hob auf die Methode des Umgangs der Wissenschaft mit ihrem Gegenstand ab. So sollte der Gegenstand der Wisssenschaft aus der Methode entstehen.[5] (Bald darauf wird es besonders Hans Kelsen sein, der immer wieder betont, dass die Methode ihren Gegenstand konstituiere.)

Um die Methode ging es auch Hermann Kantorowicz. Auch er behandelte Sein und Sollen als grundsätzlich verschiedene Bereiche, die unterschiedlicher Methoden zu ihrer Erforschung bedürfen. Klar war, dass das Sein (auch des Rechts) der Empirie zugänglich ist. Klar war auch, dass sich aus dem Sein keine Sollenssätze ableiten lassen. Problematisch blieb damit, wie denn mit Rechtssätzen als Sollenssätzen überhaupt wissenschaftlich umgegangen werden könnte. Für Radbruch galt:

»Sollenssätze sind nur durch andere Sollenssätze begründbar und beweisbar. Eben deshalb sind die letzten Sollenssätze unbeweisbar, axiomatisch, nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig.«[6]

Wegen dieses Bezugs auf verschiedene wissenschaftlich nicht belegbare Endpunkte spricht man von Relativismus. Wenn man jedoch von bestimmten höchsten Werten ausgeht, lässt sich immerhin systematisch = wissenschaftlich entwickeln, wie das Recht gestaltet werden soll und die Rechtswirklichkeit daraufhin überprüfen, ob sie den vorausgesetzten Wertenfolgt. Das ist die Lehre des systematischen Relativismus.

Aus dem Methodendualismus wurde bei Radbruch später ein »Trialismus der Betrachtungsweisen«, den er allerdings nur andeutete:

» … daß … mit der bloßen Antithese von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Wert nicht auszukommen ist, daß vielmehr zwischen Wirklichkeitsurteil und Wertbeurteilung die Wertbeziehung, zwischen Natur und Ideal der Kultur ihr Platz gewährt werden muß: die Rechtsidee ist Wert, das Recht aber wertbezogene Wirklichkeit, Kulturerscheinung. So wird der Übergang vollzogen von einem Dualismus zu einem Trialismus der Betrachtungsweisen. … Dieser Trialismus macht die Rechtsphilosophie zu einer Kulturphilosophie des Rechts.«[7]

In einer Fußnote bezog Radbruch sich u. a. auf Emil Lask und Kantorowicz. Bei Lask ist zu einem Trialismus nichts zu finden[8]. In seiner »Rechtsphilosophie« heißt es nur, »aller Streit um die bloße Methodologie« werde »erst in einem System überempirischer Werte seine endgültige Entscheidung« finden[9]. Bei Kantorowicz ist dagegen zu lesen:

»Jeder Gegenstand der Erkenntnis, und so auch der Staat, kann auf die grundlegend verschiedene Weisen betrachtet werden: er muß sich als ein Stück Wirklichkeit erfahren, als ein Sinngebilde konstruieren, auf seinen Wert hin beurteilen lassen. … Dies ist die erkenntnistheoretische Grundlage, von der ich ausgehe; man kann sie als Drei-Weltenlehre oder erkenntnistheoretischen Trialismus bezeichnen.«[10]

Ausführlicher erklärt Kantorowicz seinen Trialismus – ohne diesen Begriff zu verwenden – in einem Aufsatz von 1928:

Bezüglich ihres Gegenstandes können die Wissenschaften in drei Gruppen eingeteilt werden: 1. Wirklichkeitswissenschaften, 2. Sinneswissenschaften, 3. Wertwissenschaften. … Ein Rechtsanwalt erklärt seinen Klienten: ›1. Ihr Fall fällt unter ein veraltetes, aber wenn es richtig ausgelegt wird, noch geltendes Gesetz, und Sie müßten den Prozeß daher eigentlich gewinnen. 2. Dieses Gesetz steht jedoch im Widerspruch zu unseren modernen Ansichten und erscheint daher ungerecht. 3. Also wird der Richter Braun, den ich zufällig kenne, das Gesetz so eng auslegen, daß Sie den Prozeß verlieren werden.‹ Hier befaßt sich der erste Satz mit dem Sinn, der zweite mit dem Wert und der Dritte mit der Wirklichkeit.«[11]

»Geist« findet man sicher in der »Welt des Sinnes (objective meaning), die ausschließlich aus »Sinngebilden (ideal‹ things)« bestehen soll. Aber auch »Werte« erscheinen uns, anders als die Werturteile konkreter Menschen, als »geistige« Phänomene. Kantorowicz verwendet an dieser Stelle einen weiten Wertbegriff:

»Die Welt der Werte umfasst den logischen (oder theoretischen) Wert der Wahrheit, den ästhetischen Wert der Schönheit und die ethischen (oder praktischen) Werte der Sittlichkeit, der Gerechtigkeit, der Sittsamkeit usw.«[12]

Diese Gleichstellung von Wahrheit mit Schönheit und Gerechtigkeit macht die Sache schwierig. Schwieriger noch wird, es, wenn Kantorowicz für die Werte objektive und notwendige Geltung postuliert. Von den Werten heißt es nämlich weiter, sie seien, anders als Sinngebilde,

»nicht …ohne Beziehung zur Wirklichkeit, sondern positiv oder negativ mit ihr verbunden, d. h., sie sollten oder sie sollten nicht verwirklicht werden. Dies ›Dasein-sollen‹ (ought-to-being), diese Geltung (validity) der Werte ist eine objektive und notwendige, d. h. die Werte sind gültig unabhängig von unserem Wissen und unserem Willen. … Die objektive Gültigkeit der Werte schließt jedoch nicht ihre Allgemeingültigkeit in sich, d. h. sie hat nicht für alle gleich bindenden Charakter. Die Allgemeingültigkeit ist freilich gewiß im Falle des theoretischen Wertes, da mehr als eine Wahrheit logisch undenkbar ist. Doch sie ist nur wahrscheinlich im Falle des ästhetischen Wertes und höchst unwahrscheinlich im Falle praktischer Werte. Daher ist die Gültigkeit praktischer Werte nur eine relative … .«[13]

Zum Umgang mit den praktischen Werten erläutert Kantorowicz anschließend, was wir bei Radbruch als systematischen Relativismus kennen gelernt haben. Das Verhältnis des Trialismus zum Methodendualismus wird daraus aber nicht klar. Er erschließt sich vielleicht, wenn man Radbruchs Lehre von der Rechtsidee dazwischenschaltet.[14] In dem Radbruch-Zitat von S. 128 hieß es, die Rechtsidee sei der Wert. Eine Seite zuvor las man, Recht sei »die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen«. »Gerechtigkeit« heißt in diesem Zusammenhang nur, dass das Recht einen Wertbezug hat, nicht aber welchen. Der Trialismus soll dann diesen Wertzusammenhang für verschiedene Gerechtigkeitskonzepte ausbuchstabieren und fällt damit unter den systematischen Relativismus.

Aus heutiger Sicht erscheint bemerkenswert, dass Radbruch und Kantorowicz nicht auf die Drei-Welten-Lehre Gottlob Freges Bezug zu nahmen, die sie anscheinend gar nicht kannten. Auch die heutigen Interpreten von Radbruch und Kantorowicz wie Muscheler,[15] Auer[16], Saliger[17]oder Zhao[18] stellen diesen Bezug nicht her. Umgekehrt erwähnt ein neues Buch von Neves, das sich ausführlich auf Freges Drei-Welten-Lehre stützt, weder Radbruch noch Kantorowicz (und auch nicht Popper).[19] Eine Erklärung bietet vielleicht der Umstand, dass Kantorowicz und Radbruch ihren Trialismus ausdrücklich nicht als ontologisch, sondern als erkenntnistheoretischen oder Methodentrialismus einordneten, während Freges Trialismus ontologisch zu sein scheint. Aber was bleibt von der objektiven und notwendigen Gültigkeit der praktischen Werte, wenn ihnen die Allgemeingültigkeit abgesprochen wird? Doch wohl nur ein ontologischer Status in der Transzendenz. Daher ist der Abstand zu Frege wohl doch nicht so kategorial. So hat der Germanist Friedrich Vollhardt kein Problem damit; die Erkenntnistheorie Heinrich Rickerts, (auf die Radbruch und Kantorowicz sich beziehen) mit Freges Ansatz zu vergleichen.[20] Was bei letzterem zur »dritten Welt« gehört, erscheint bei Rickert als eine Art transzendentaler Wirklichkeit. Deshalb hier noch einmal die Frage: Wo bleibt der Geist als Gegenstand der Geisteswissenschaft.

Freges Drei-Welten-Lehre ist insofern eng, als sie als »Gedanken«, die jenseits von Natur und Psyche eine eigene Wirklichkeit bilden, nur wahrheitsfähige Sätze anerkennt. Damit bleiben wesentliche Aspekte des Rechts außerhalb der drei Wirklichkeiten. Hier hilft eine Erweiterung der Lehre Freges durch Karl R. Popper: Danach

»… besteht die Welt aus mindestens drei ontologisch verschiedenen Teilwelten; oder, wie ich sagen werde, es gibt drei Welten: Die Welt 1 ist die physikalische Welt oder die Welt der physikalischen Zustände; die Welt 2 ist die geistige Welt, die Welt unserer psychischen Erlebnisse (Wünsche, Hoffnungen, Gedanken …), die Welt 3 ist die Welt der intellegibilia oder der Ideen im objektiven Sinne; es ist die Welt der möglichen Gegenstände des Denkens, die Welt der Theorien an sich und ihrer logischen Beziehungen; die Welt der gültigen Argumente an sich und die Welt der ungültigen Argumente an sich, die Welt der Problemsituationen an sich.«[21]

Poppers Welt 3 ist weiter als die dritte Welt Freges.

»By world 3 I mean the world of the products of the human mind, such as languages; tales and stories and religious myths; scientific conjectures or theories, and mathematical constructions; songs and symphonies; paintings and sculptures. But also aeroplanes and airports and other feats of engineering.«[22]

Freges dritte Welt – das sind in der Sprache Poppers die nicht materialisierten Gegenstände, also mathematische und physikalische Gesetzmäßigkeiten, die gelten, unabhängig, ob sie schon entdeckt worden sind. Poppers Welt 3 dagegen ist ein Produkt menschlichen Verstandes.[23] Dort finden sich Gegenstände, die einmal als Kulturerzeugnisse »materialisiert« waren: Theorien, Sprache, Literatur, Kunstwerke. Auch Rechtsnormen snd hier zu finden. Popper nennt die amerikanische Verfassung (Tanner Lecture S. 145). Popper bezweifelt zwar am Ende der Tanner Lecture, dass Computer denken können. Aber künstliche Intelligenz oder vielmehr die ihr zugrunde liegende Software müsste in Poppers Welt 3 gehören.[24]

»Gegenstände der Welt 3 sind abstrakt, noch abstrakter als physikalische Kräfte, aber nichtsdestoweniger wirklich … .«[25]

In der Tanner Lecture betont Popper den Unterschied zwischen Gedankenprozessen, die in Welt 2 ablaufen, und dem Gedankeninhalt, der in die Welt 3 gehört, am Beispiel der Relativitätstheorie Einsteins. Wenn immer jemand diese Theorie referiert, kritisiert, daraus Konsequenzen ableitet usw., geht es um konkrete Gedankenprozesse in Welt 2. Unabhängig von diesen Gedankenprozessen existiert die Theorie jedoch abstrakt in Welt 3. Das wäre selbst dann der Fall, wenn sie falsch wäre. Ein anderes Beispiel Poppers liefert die Sprache: Eine konkrete Sprache mit ihren Vokabeln gehört in Welt 2. In die Welt 3 fällt, was bei der Übersetzung von einer in die andere Sprache als Inhalt gleich bleibt.

Der Trialismus von Frege und Popper ist im Unterschied zu demjenigen von Radbruch und Kantorowicz nicht methodisch, sondern ontologisch. Die »dritte Welt« ist immateriell, aber sie ist doch wirklich, denn sie kann in die materielle Welt hineinwirken. Die von ihren Trägern, also von Menschenköpfen und Medien losgelösten Gedanken werden als einen Teil der erkennbaren Wirklichkeit behandelt. Zugleich können Gedanken aus Welt 3 in der Welt 1 und 2 kausal für Veränderungen werden. Erfahrbar ist die dritte Welt der Gedanken allerdings nur, soweit sie in irgendeiner Weise ihren Niederschlag in einem materiellen Kommunikations­medium gefunden hat, und sei es so flüchtig wie das gesprochene Wort oder eine bloße Geste. Das gilt umgekehrt auch für die Kausalität von Gedanken.

Dagegen fehlt der Gedankenwelt ein inhärenter Zusammenhang im Sinne des Hegelschen objektiven Geistes. Sie ist nicht in sich vernünftig oder gerichtet. Aber vielleicht entwickelt sie sich im Sinne einer ungerichteten Evolution. Die Gegenstände in Poppers Welt 3 bilden zwar kein System, aber auch kein bloßes Sammelsurium.

»What is most characteristic of this kind of world 3 object is that such objects can stand in logical relationships to each other.«[26]

Es soll wohl nicht jeder simple Gedanke in die Welt 3 gelangen wie z. B.: Morgen wird es regnen. Aber der Qualitätsfilter bleibt undeutlich. Ausgeschlossen werden anscheinend simple Protokollsätze, die eine individuelle Beobachtung festhalten. In Welt 2 verblieben wohl triviale Gedanken, wie sie jedem Menschen unzählig durch den Kopf gehen und ausgesprochen werden, wie sie im Meer der Akten und Presseerzeugnisse, der Notizen und sozialen Netzwerke ihren Niederschlag finden.

Popper bemüht sich zwar, seine Konstruktion gegen die Ideenwelt Platons abzusetzen.[27] Die Welt 3 soll keine päexistenten, sondern nur von Menschen gemachte Gegenstände beinhalten. Sie bilden ein »evolutionäres Produkt« der Welt 2. Man kann sich aber schwer vorstellen, dass abstrahierte Gedankeninhalte wieder verloren gehen. Es wirkt auch inkonsequent, dass anscheinend nur Gedanken, die einem (undefinierten) Qualitätsanspruch genügen, die Welt 3 erreichen. In der Schulphilosophie ist Poppers Welt-3-Realismus wenig Beifall gefunden.

Popper spricht von der Welt 3 auch als einer Welt objektiven Wissens. Der Wissensbegriff bringt neue Probleme mit sich. Ich ziehe es daher vor, mit Nicolai Hartmann von der dritten Welt des Geistes als von objektiviertem Geist zu sprechen.

»Wir haben es ausschließlich mit dem Geist in den Grenzen unseres Erfahrungsfeldes zu tun, mit dem, was allein wir kennen und nachweisen können, dem ›empirischen Geist‹.«[28]

Der ontologische Status des objektivierten oder empirischen Geistes kann für Juristen dahinstehen. Sie können den Trialismen Freges und Poppers jedenfalls so viel abgewinnen, dass sie das Universum der Gedanken in vielen Zusammenhängen losgelöst von ihren Trägern behandeln, so als ob es sich wirklich um eine dritte Wirklichkeit handelte. [29]

Der Gedanken sind so viele wie Sand am Meer und Blätter im Wald. Ein Als-Ob-Trialismus in Anlehnung an Frege und Popper lässt offen, mit welcher Methode man die Welt des Geistes erforschen kann. Am Ende kommt man doch wieder auf die klassischen Methoden der Geisteswissenschaften zurück. Das gilt vorab für die Hermeneutik, ist doch die dritte Welt des Geistes immer nur über Kommunikationsangebote zugänglich, die interpretiert werden müssen. Stets gilt es, aus der Überfülle der Gedanken einen Ausschnitt zu wählen. Unvermeidbares Selektionskriterium bleibt dabei ein Wertbezug. Immerhin legt der Trialismus nahe, die Geisteswissenschaften auf eine mit allen anderen Wissenschaften gemeinsame Rationalität zu verpflichten.

An erster Stelle ist die Informationstheorie zu nennen, denn der Informationsbegriff wird gerne mit dem Sinnbegriff verglichen, wie er um die Wende zum 20. Jahrhundert die Philosophie entwickelt hat.

  • Niklas Luhmann hat auch Kommunikation und Beobachtung zu universalen Konzepten gemacht. Information wird zur Kommunikation, wenn sie absichtsvoll mitgeteilt und diese Mitteilung von anderen beobachtet und als solche verstanden wird. Hier findet die geisteswissenschaftliche Tradition der Hermeneutik Anschluss.
  • Als universelles Konzept dient seit jeher der Systemgedanke. Der Systemgedanke ist besonders hilfreich, wenn es um komplexe Phänomene geht. Das sind solche, die aus vielen, oft sehr einfach gebauten Teilchen oder Agenten bestehen, die durch ihr Zusammenspiel das für das System charakteristische Verhalten zustande bringen. Das Verhalten der einzelnen Teilchen ist oft relativ gut erforscht und verstanden. Aber das genügt nicht, um den (emergenten) Gesamteffekt zu erklären. Klassisches Beispiel ist das Gehirn. Es ist aufgebaut aus Milliarden relativ einfacher Synapsen, deren Funktion gut erforscht und verstanden ist. Durch ihre Verschaltung bringt das Gehirn unglaubliche Leistungen wie Lernen, Vergessen, Fühlen und Bewusstsein hervor, die sich noch längst nicht voll erklären lassen. Genauso sind die Handlungen einzelner Akteure in Märkten oder Gesellschaften relativ gut bekannt. Wie aus deren Wechselwirkungen Aufschwung oder Rezession, Spekulationsblasen oder Börsenralleys werden, bleibt dagegen weitgehend unverstanden. Zunächst hat man Systeme notgedrungen als Black Box behandelt, das heißt, man hat sich mit der bloßen Tatsache zufriedengegeben, dass aus der Verknüpfung einzelner Elemente zu einem System ein neues »emergentes« Gesamtverhalten entsteht. Im Laufe der Zeit ist aber eine Reihe von Konzepten hinzugekommen, die jedenfalls partiell eine Brücke von dem Verhalten der Systemelemente auf das Gesamtsystem schlagen. Norbert Wiener wollte nach 1945 mit der Kybernetik eine Universalwissenschaft zu Erklärung des Innenlebens aller Systeme begründen. Dieser Anspruch ist zwar nicht eingelöst worden. Geblieben ist aber die Idee der Rückkopplung und des Regelkreises.
  • Zu den universellen Rationalitäten zählt die Idee der Evolution, deren glänzende Formulierung Darwin vor 150 Jahren (1849) gelungen war. Evolution ereignet sich überall, wo Leben ist. Eine wichtige Anpassungsstrategie der meisten Lebewesen, die zur Erhaltung der Art beiträgt, ist die Überproduktion von Samen und Nachkommen. In der dritten Welt des Geistes beobachten wir eine Überproduktion von Gedanken, von Normen, Ideen und Kritik. Da drängt sich die Frage auf, welche (Rechts-)Gedanken sich durchsetzen. Die Evolution des Rechts ist ein großes Thema der Rechtssoziologie. Sie beobachtet den sozialen Wandel nicht nur, aber auch als Wirkung von Gedanken.[30]
  • Gedanken sind so häufig wie Sand am Meer. Aber sie sind alle nicht so unverbunden wie einzelne Sandkörner. Sie bilden Ketten oder Gebäude und sind vielfach untereinander vernetzt. Daher ist auch die Netzwerktheorie relevant, die sich zu einem transdisziplinär wichtigen Instrument entwickelt hat.[31]
  • Die Spieltheorie zeigt einen Weg von der individuellen zu einer strukturellen Rationalität.[32] Im Objektbereich des Rechts hat die Spieltheorie Bedeutung für die Suche nach (alternativen) Konfliktlösungen gewonnen.

[1] Zur Orientierung können Lexikon-Einträge dienen, z. B. Siegfried Blasche: Geist, objektiver. In: Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2008. Verwiesen sei zudem auf das Buch des französischen Rechtsphilosophen Jean-François Kervégan, Die verwirklichte Vernunft. Hegels Begriff des objektiven Geistes, 2019.

[2] Gottlob Frege, Der Gedanke – eine logische Untersuchung, Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 2, 1918-1919, 58-77, S. 75. (Abgedruckt in den Sammelbänden Gottlob Frege, Logische Untersuchungen, 5. Aufl. 2003, sowie in: Gottlob Frege, Kleine Schriften, 1967)

[3] Ebd. S. 69.

[4] Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie [1914], hier zitiert nach der 5. Aufl. 1956, dort S. 97.

[5] Als Begründer einer geisteswissenschaftlichen Methode gelten Wilhelm Dilthey (1833-1911), Wilhelm Windelband (1848-19015) und dessen Schüler Heinrich Rickert (1863-1936). Dilthey hat die Geisteswissenschaften auf die Hermeneutik ausgerichtet hat. Der Neukantianer Windelband stellte in seiner Straßburger Rektoratsrede von 1894 über »Geschichte und Naturwissenschaft« die Geschichtswissenschaft als »idiographische« (individualisierende) den »nomothetischen« (generalisierenden) Naturwissenschaft gegenüber. Diese Charakterisierung wurde von Rickert für alle Kulturwissenschaften verallgemeinert, aber auch relativiert, insofern als Rickert das Material, dass die Geisteswissenschaften erforschen, durch seinen Bezug auf Werte konstituiert sah, die ihm Sinn verliehen. »Sinn« wurde zum Synonym für »Geist«.

Die Begriffe Geisteswissenschaft und Kulturwissenschaft wurden weithin gleichsinnig verwendet. Mit dem cultural turn der Postmoderne hat der Begriff der Kulturwissenschaften dagegen als universale Gesellschaftswissenschaft neue Bedeutung erhalten; vgl. dazu Rechtssoziologie-online § 15.

[6] Ebd. S. 100.

[7] A. a. O. S. 118.

[8] Vgl. Jing Zhao, Die Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs unter dem Einfluss von Emil Lask, 2020, S.222.

[9] Emil Lask, Rechtsphilosophie (Sonderdruck aus einer Festschrift für Kuno Fischer), 1905;

[10] Staatsauffassungen, 1925, Jahrbuch für Soziologie I, 1925, 101-114, hier zitiert aus dem Sammelband Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, 69-81, S. 69.

[11] Hermann Kantorowicz, Staatsauffassungen, Jahrbuch für Soziologie I, 1925, 101-114, hier zitiert aus dem Sammelband Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, dort S. 64f.

[12] Hermann Kantorowicz, Legal Science. A Summary of its Methodology, Columbia Law Review 28, 1928, 679-707, zitiert nach der Übersetzung als: Die Rechtswissenschaft – eine kurze Zusammenfassung, in: Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, 83-99, S. 86.

[13] Ebd.

[14] Zhao a. a. O S. 213, 222ff)

[15] Karlheinz Muscheler, Relativismus und Freirecht. Ein Versuch über Hermann Kantorowicz, 1984.

[16] Marietta Auer, Der Kampf um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft – Zum 75. Todestag von Hermann Kantorowicz, ZEuP 2015, 773-805, S. 803.

[17] Frank Saliger, Radbruch und Kantorowicz, ARSP 93, 2007, 236-251.

[18] A. a. O.

[19] Henrique Gonçalves Neves, Die Geltung als Tatsache, 2022. Viel anfangen kann ich mit diesem Buch, einer Dissertation, die von Alexy betreut wurde, nicht,

[20] Friedrich Vollhardt, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899, KulturPoetik 3, 2003, 279-285.

[21]  Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, 4. Aufl., 1998, S. 160.

[22] Karl R. Popper, The Tanner Lecture on Human Values, 1978, S. 144.

[23] Popper setzt sich mit Frege nicht ernsthaft auseinander. Er zitiert nur die Fußnote 5 von Freges Aufsatz »Über Sinn und Bedeutung«, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik NF 100, 1892, 25-50, dort S. 32. Sie lautet vollständig: »Ich verstehe unter Gedanken nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt, der fähig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein.«, nicht aber den Gedanken-Aufsatz von 1918/1919.

[24] Dazu Walter Hehl, Wechselwirkung. Wie Prinzipien der Software die Philosophie verändern, 2016; dort Kap 10 »Und wo bleibt der Geist?«.

[25] Karl R. Popper, Die Welten 1, 2 Die Welten 1, 2, und 3,, und 3, in: Popper/John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 1982, 61-77, S. 74.

[26] Tanner-Lecture S. 158)

[27] Die Welten 1, 2, und 3, S. 69ff.

[28] Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 2. Aufl. 1949, S. 59. Hartmann unterscheidet drei »Grundformen« des geistigen Seins, den subjektiven, den objektiven und den objektivierten Geist (S. 71ff). Letzteren »kennen wir … in den Produkten geistigen Schaffens, in geformten Gebilden und ›Werken‹, die als solche natürlich nicht Leben und Wandel haben, sondern ›fixierter‹ geistiger Gehalt sind«.

[29] Auch Juristen reden von objektiviertem Geist, so Helmut Coing in den »Grundzügen der Rechtsphilosophie« (Aufl. 1976, S. 287):

»Die Rechtsordnung ist mit anderen Worten ›geistiges Sein‹ und zwar ›objektiviertes‹ oder fixiertes geistiges Sein, d. h. ein in einem Text niedergelegter geistiger Gehalt.«

Soweit, so gut. Aber dann packt Coing in das »geistige Sein« mehr hinein, nämlich eine Geltungstheorie. Insoweit hat ihn Ulfried Neumann in einer Rezension (Neuere Schriften zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Philosophische Rundschau 28, 1981, 189-216, S. 191ff) gehörig zurechtgewiesen. Eine Normativierung des objektiven Geistes sei in Hartmanns Philosophie nicht angelegt. Das geistige Sein habe per se keinen Geltungsanspruch wie eine Rechtsnorm. So könne der Gesetzgeber die mit dem Gesetzestext in die Welt gesetzten Gedanken durch einen actus contrarius nicht wieder aus der Welt schaffen.

[30] Niklas Luhmann hatte schon relativ früh eine Evolutionstheorie des Rechts entworfen, die zentrale Begriffe der biologischen Evolutionstheorie – Variation, Selektion und Stabilisierung – übernahm (Evolution des Rechts, Rechtstheorie 1, 1970, 3-22 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34; Rechtssoziologie Bd. 1, 1972, S. 132 ff.). Mit der Umstellung auf die autopoietische Systemtheorie kam Luhmann der Biologie noch ein Stück näher, denn die Systeme wurden »lebendig« und ihre Evolution nun zum Herzstück seiner großen Bücher (RdG und GdG). Im »Recht der Gesellschaft« von 1995 handelt das ganze 6. Kapitel (S. 239-296) von der »Evolution des Rechts«. Darin wird der Evolutionsbegriff »in Anlehnung an die Theorie Darwins« benutzt. In der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) trägt das umfangreiche Kapitel 3 (181 Seiten) die Überschrift »Evolution«. Auch andere Autoren, die sich auf die autopoietische Systemtheorie stützen, lehnen sich für die Entwicklung des Rechts an die biologische Theorie an.

[31] Dazu meine eher zurückhaltende Einschätzung: »Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt«, in: Aarnio Aulis u. a. (Hg.), Positivität, Normativität und Institutionalität des Rechts, Festschrift für Werner Krawietz zum 80. Geburtstag, 2013, S. 537-565.

[32] Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität, 2001.

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Die Verteidigung der natürlichen Ordnung

Zur Erinnerung: Die Reihe der Einträge zum Natural Turn soll die These begründen, dass der Interdisziplinaritätsimperativ die neue Formel für die »Natur der Sache« bildet. Was den Bereich des Rechts der Reproduktionsmedizin und der Gentechnik angeht, muss die Jurisprudenz auf die durch Gentechnik und Medizin eröffneten Perspektiven und die umfangreiche philosophische und soziologische Diskussion reagieren und ihre Schlüsse ziehen. Die Diskussion hat längst Dimensionen erreicht, die der Durchschnittsjurist nicht mehr adäquat übersehen und verarbeiten kann. In dieser Situation liegt es nahe, die Situation auf Natürlichkeitsargumente zu verkürzen. Meine These lautet dagegen: Die Berufung auf die Natur bedeutet keine (populistische?) Reduktion. Natürlichkeitsargumente sind vielmehr sachlich, politisch und philosophisch ernst zu nehmen. Das zeigt sich am Beispiel des reproduktiven Klonens.

Im Seinsbereich gibt es eine natürliche Ordnung der Welt. Die Naturwissenschaften betreiben erfolgreich deren Entzifferung. Wer sich heute für Moral oder Recht auf die Verteidigung der natürlichen Ordnung beruft, wenn er Reproduktionsmedizin generell oder auch nur für gleichgeschlechtliche Paare ablehnt, muss mit einem Sturm der Entrüstung rechnen. Aber es gibt einen Grenzfall, in dem die Berufung auf die natürliche Ordnung als Argument noch akzeptiert wird, nämlich den Fall des reproduktiven Klonens.[1] Die vielen Versuche, das Verbot reproduktiven Klonens, wie es in Art. 3 II der Grundrechte-Charta der EU positiviert ist, durch eine universalistische Ethik zu begründen, reichen anscheinend nicht aus. Man beruft sich auf das Prinzip der Menschenwürde oder auf ein Tabu. Aber das Prinzip ist unscharf, und Tabus fordern dazu heraus gebrochen zu werden. In dieser Situation wird »die Verteidigung der natürlichen Ordnung« als moralisches und letztlich auch als juristisches Argument angeführt.

Es besteht kein Grund, das Argument der Natürlichkeit für diese besondere Situation zu reservieren. Es ist ebenso wenig zwingend wie alle anderen Argumente dieser Art. Aber der Appell an die Natur hat eine schwer zu übertreffende Überzeugungskraft. Zwar kommt dann sofort wieder die Frage auf, was im konkreten Streitfall als natürlich zu gelten hat. Aber es ist nicht verboten, diese Frage zu stellen und Antworten zu versuchen. Die Suche ist nicht hoffnungslos. Es ist, wie auch sonst im Recht. Ein Übermaß an philosophischer Reflexion macht entscheidungsunfähig. Das zeigt Birnbachers Erörterung des Gegensatzes zwischen Gattungsethik und Transhumanismus (oder Posthumanismus).[2]

Den Begriff der Gattungsethik hat Jürgen Habermas eingebracht.[3] Der Begriff bezeichnet eine Kategorie von Normen, die über die Individuen hinaus dem Schutz der Integrität der menschlichen Gattung dienen sollen. Schon zuvor hatten Juristen eine unverletzliche Menschenwürde nicht nur für Individuen, sondern auch für die Menschheit als Gattung postuliert.[4] Unter Transhumanismus wird die Auffassung verstanden, dass die Gattung über ihre überkommene biologische Ausstattung hinaus verbessert werden könne. Ein Zündfunke dieses Gedankens war Donna Haraways »Manifesto for Cyborgs« von 1985.[5]

Birnbacher bietet eine schulmäßig perfekte Erörterung des Gegensatzes zwischen Gattungsethik und Transhumanismus. Wie es die philosophische Anthropologie formuliert hat, ist der Mensch ein Mängelwesen, der allein mit seiner biologischen Substanz nicht lebensfähig wäre. Daher ist er immer schon auf die Künstlichkeit der Kultur angewiesen. Wenn aber Kultur zur Substanz des Menschen gehört, gibt es keine »natürliche« Grenze, an der sich die Ontogenese aufhalten ließe. Der Gattungsbegriff ist unbestimmt. Wo die Gattung Mensch endet, lässt sich weder genetisch noch genealogisch noch funktionell eindeutig bestimmen. Eine immerhin mögliche typologische Bestimmung bleibt historisch zeitgebunden. Birnbacher findet daher im Zweikampf zwischen Gattungsethik und Transhumanismus keinen Sieger.

Der Fehler in dieser Argumentation liegt darin, dass Birnbacher eine eindeutige Bestimmung der Gattungsgrenzen fordert. In der lebendigen Natur gibt es keine absoluten, unverrückbaren Grenzen. Aber es gibt doch Phänomene, die als universal wahrgenommen werden. Scharfe Grenzen gibt es nur in der Logik. Insbesondere binäre Denkmuster zur Ordnung der realen Welt sind immer (oft nützliche) Vereinfachungen.

Der Begriff der Gattung Mensch ist immerhin so brauchbar, dass bislang kein Fall bekannt geworden ist, indem man die Menschqualität eines Lebewesens nicht eindeutig hätte feststellen können. Gewissheiten darf man nicht beiseiteschieben, weil sie in dem Sinne kontingent sind, dass sie über (lange) Zeit verloren gehen könnten. Recht und Politik müssen mit solchen Gewissheiten leben.

Gutmann weist den Gedanken einer restriktiven Biopolitik unter Berufung auf den Gedanken der Gattungsethik zurück als Versuch, »die verbürgten subjektiven Freiheitsrechte der Betroffenen klein zu reden und klandestin aus dem Prozess der Abwägung zu entfernen, bevor dieser begonnen« habe.[6] Tatsächlich liegt es wohl umgekehrt. Das Natürlichkeitsargument wird kleingeredet. Wenn es nicht zum Frankenstein-Argument deklassiert wird, wird es als »intuitiv« und »bloß rhetorisch« beiseitegeschoben.[7] Natürlichkeit ist natürlich nur eine »vermeintliche«. Gutmann ironisiert das Argument als Wunsch nach einer »mit verfassungsrechtlichen Weihen versehenen bioethischen Leitkultur«.[8] Indessen ist das Freiheitsargument nicht stringenter als das Natürlichkeitsargument. Der Freiheitsbegriff ist ebenso schwierig wie der Naturbegriff. Die Kantische Kompatibilitätsformel hat längst ausgedient. Freiheit wird an vielen Stellen zugunsten nicht individualisierter Gemeinschaftsgüter beschränkt. Die »grundrechtlich garantierte Fortpflanzungsfreiheit«[9] ist kein Erfolgsversprechen. Sie begründet kein Recht auf ein Kind.[10]

Politik und Jurisprudenz müssen Grenzen ziehen. In der jeweiligen historischen Situation müssen sie entscheiden, wieweit die technisch mögliche Verfügung über die Natur rechtlich beschränkt werden soll. Seitdem mit dem Klimawandel das Gefüge der natürlichen Umwelt ins Wanken geraten ist, besteht weithin Konsens, dass insoweit eine Kontrolle des technisch Möglichen notwendig ist. Eingriffe in das Genom überschreiten die nächste Schwelle, denn sie greifen »in die somatischen Grundlagen des spontanen Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit einer Person ein« und verfügen damit über die Natur des Menschen wie  über Sachen.[11] Das bedeutet nicht, dass alle Eingriffe in das Genom von vornherein unzulässig wären. Aber sie lassen sich als Eingriff in die Natur kritisieren.

Politik und Jurisprudenz müssen sich entscheiden. Freilich finden auch Juristen nicht zu einem verbindlichen Ergebnis, wenn sie die Entscheidung auf die Menschenwürde abladen. Das zeigen die Sätze, mit denen Gutmann seine an Sorgfalt und Umsicht schwer zu überbietende Erörterung des Themas beendet:

»Die Prinzipien der Normenbegründung im liberalen Rechtsstaat verlangen, die Rechte der Individuen ernst zu nehmen. Der demokratische Souverän kann diesen Grenzen setzen und konkurrierende, individuelle wie kollektive Schutzgüter auszeichnen. Dies kann auf angemessene Weise geschehen, wenn der primär symbolische und expressive Diskurs über die Menschenwürde, der politische Entscheidungen gerade verhindern will, einer öffentlichen Debatte über Chancen und konkrete Gefahren der Humangenetik weicht.«[12]

Die öffentliche Debatte begnügt sich nicht damit, Chancen und Gefahren mehr oder weniger vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Sie endet früher oder später mit einer Wertung, der das Natürlichkeitsargument Gewicht hat.

Am Ende werden weder die analytische Ethik noch der juristische Fachdiskurs den Ausschlag geben. Die öffentliche Debatte wird von einer Grünstimmung getragen, und grün ist die Farbe der Natur. Noch ist ihr das Weltklima wichtiger als die Gattung Mensch. Die Bio-Welle hat die akademische Diskussion noch nicht erreicht. Als Wellenbrecher fungieren die Gender Studies. Dort wird das Natürlichkeitsargument zum Naturalisierungsargument umgedreht. So wird ein natural turn geradezu herausgefordert. Naturam expelles furca, tamen usque recurret.[13] Auch wenn du die Natur mit der Mistgabel austreibst, kehrt sie doch alsbald zurück. Dieses bekannte Horaz-Zitat lässt sich vordergründig »natürlich« dahin verstehen, dass die Natur sich zurückerobert, was man ihr abgerungen hat. Das heißt: Wenn du das Unkraut beseitigt hast, kommt es doch bald wieder. In einem übertragenen Sinne: Auch wenn wir in unseren ethischen und politischen Diskursen Natürlichkeitsargumente verbannen, kehren sie doch wieder zurück.

Natürlichkeitsargumente sind rechtspolitische Argumente unter anderen. Als solche sollten sie immerhin die Kraft haben, gegenüber Eingriffen in die Erbsubstanz zur Vorsicht zu mahnen. Dahinter steckt mehr als dumpfe Furcht vor dem Unbekannten, sondern eine handfeste Besorgnis vor einer Eugenik auf Gen-Ebene. In der jeweiligen historischen Situation lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen, ob neue Technologien in einer bisher nicht erprobten Weise in natürliche biologische Abläufe eingreifen. Dagegen lässt sich viel schwerer abschätzen, ob diese Technologien negative Folgen für Dritte, das heißt für die Familienstruktur im Allgemeinen, für den künstlich gezeugten Nachwuchs im Besonderen und für das menschliche Erbgut haben werden.

Das Natürlichkeitsargument hat immerhin die Kraft, gegenüber solchen Eingriffen zur Vorsicht zu mahnen und eine besondere Rechtfertigung zu fordern. Freiheitsbeschränkungen sind grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig.[14] Aber legitimationspflichtig sind heute auch Eingriffe in die Natur. Der wissenschaftliche Diskurs wird Natürlichkeitsargumente ehe beiseite schieben als der demokratisch politische Meinungskampf. Es wäre aber zu billig, diese Argumente als populistisch zurückzuweisen.


[1] Wolfgang van den Daele, Soziologische Aufklärung zur Biopolitik, Leviathan, Sonderheft Biopolitik 23/2005, 7-41, S. 29.

[2] Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, 2006, S. 169ff.

[3] Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2002.

[4] Thomas Gutmann, »Gattungsethik« als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst?, in: Wolfgang van den Daele (Hg.), Biopolitik (Leviathan Sonderheft 23), 2005, 235-264, S. 247ff.

[5] Donna Haraway, Manifesto for Cyborgs, Socialist Review 80, 1985, 65-108, zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, 1995, 33-72.

[6]Gutmann S. 259.

[7] Katharina Beier/Claudia Wiesemann, Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie: Eine ethische Analyse, in: Claudia Wiesemann u. a. (Hg.), Patientenautonomie, 2013, 205-221.

[8] Gutmann S. 254.

[9]  Gutmann S. 259.

[10] Christian Hillgruber, Gibt es ein Recht auf ein Kind?, JZ 2020, 12-20.

[11] Habermas S. 30.

[12] Gutmann S. 259.

[13]  Horaz, Episteln 1, 10, 24.

[14] Gutmann S.. 235.

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