Konvergenz der Ethnien und Rassen

Über Rassen redet man in Deutschland nicht mehr gerne. Aber es ist unübersehbar, dass es unterschiedliche Rassen gibt, und die Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer Rasse ist ein großes Thema des Rechts und der Rechtssoziologie. Es ist nur daran zu erinnern, dass es in historischer Zeit Rechtsnormen gab, die eine Heirat oder auch nur den Geschlechtsverkehr zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen untersagten. Das Verbot »rassischer Mischehen« durch die Nürnberger Gesetze von 1935 wird man nicht vergessen. In den Südstaaten der USA wurden Gesetze, die eine Verbindung zwischen Schwarz und Weiß verboten, erst 1967 endgültig aufgehoben. 2010 erhielt die Rechtshistorikerin Peggy Pascoe von der Law and Society Association den James Willard Hurst Prize in Legal History für ihr Buch »What Comes Naturally: Miscegenation Law and the Making of Race in America« (2009), in dem sie 300 Jahre Rechtsgeschichte daraufhin durchmustert, wie das Recht die Vorstellungen der Menschen darüber beeinflusst hat, was »natürlich« ist.

Es braucht keine Wissenschaft für die Vermutung, dass sich im Zuge der Globalisierung Ethnien und Rassen auch biologisch vermischen. Wieweit dieser Prozess schon vorangeschritten ist und wieweit er am Ende reichen wird, kann hier nicht erörtert werden. Als Beispiel sehe man sich die Zusammensetzung der Bevölkerung von Belize (des früheren Britsch-Honduras) an. Von den 313.000 Einwohnern (2010) sind fast die Häfte Mestizen und über 25 % Kreolen. Auch die 9 % Garifuna sind aus der Verschmelzung verschiedner Rassen entstanden.

Es fehlt handfeste Forschung zu der Frage, ob und wieweit die Globalisierung zu einer Konvergenz von Rassen und Ethnien führt. Die Fragestellung ist tabuisiert, weil mit ihr der Begriff des Schmelztiegels und damit Harmonievorstellungen assoziiert werden, von denen man befürchtet, dass sie soziale und kulturelle Heterogenität und damit verbundene Diskriminierungen auf eine biologische Ebene verdrängt.

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Modernisierung durch Recht: Konvergenz der Kulturen II

Homogenisierung und Hybridisierung

Die dritte industrielle Revolution hat nicht lediglich Produktionsmethoden und Arbeitsorganisation noch einmal grundlegend verändert, sondern vor allem das Zeitalter der Massenkommunikation eingeleitet. Verbesserte Kommunikationsmedien nähren einen Prozess der kulturellen Diffusion und Synchronisation. Die Unmenge der grenzüberschreitenden Kommunikationen verändert die Wissensbestände und führt vermutlich auch zu Einstellungsänderungen, die wiederum Konsequenzen für das Verhalten nach sich ziehen. Die Annahme liegt nahe, dass diese Entwicklung letztendlich zu einer einheitlichen Weltkultur führen wird, die nur noch durch regionale Akzente differenziert ist und vielleicht noch auf beiden Ebenen einige sektenhafte Gruppierungen duldet. Diese Annahme findet einen Ausdruck in den viel zitierten Schlagworten »Cocacolization« (Zdravko Mlinar, 1992[1]), »McDonaldisierung« (George Ritzer1993) oder »McWorld« (Benjamin Barber, 1995[2]), die für sich genommen darauf hindeuten, die Vielfalt der Kulturen könne zu einem großen Einheitsbrei mit westlichem Aroma zusammenschmelzen. In der Sammlung fehlt eigentlich nur noch »McLaw«. Aber das hat sicher auch schon jemand gesagt oder gedacht.

George Ritzer hat in seinem Bestseller eine bestimmte Form der Betriebsorganisation, wie sie beispielhaft und erfolgreich von McDonalds vorgemacht wurde, zum Rationalitätsmuster der Globalisierung verallgemeinert. Ritzer analysiert die Komponenten die dazugehörige Strategie als geprägt durch Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle. Ritzer geht es eigentlich nur um die Ausbreitung der Managementmethoden, auf die der Erfolg der großen Fastfood-Kette zurückgeführt wird. Aber sein Buchtitel ist zur Metapher für eine vielfach beklagte Homogenesierung der Weltkultur geworden, wie sie kein Modernisierungstheoretiker postuliert (zu den Gegenpositionen später).

Differenzierter ist die von Pieterse ausgearbeitete Theorie der Globalisierung als eines Hybridisierungsprozesses, der schon im Altertum begonnen hat und der nicht nur die Kultur erfasst, sondern sich auf vielen Ebenen ereignet. Enger auf Sprache und Kultur bezogen ist das Konzept der Kreolisierung von Hannerz. Man weist gerne darauf hin, wie die Wirtschaft an der Verbraucherfront nach dem Motto »think globally – act locally« handelt. In diesem Sinne gehört es zur globalen Strategie der großen Fastfood-Ketten, ihr Angebot und dessen Dekoration an den ortsüblichen Geschmack anzupassen, die damit keines der Attribute der Modernität verlieren.[3] Aber Hybridisierung beschränkt sich nicht darauf, der Moderne zu einem Lokalkolorit zu verhelfen. Ihr Ergebnis ist nicht bloße Homogenisierung, sondern eine »Melange« (Pieterse), die von Ort zu Ort unterschiedlich ausfällt die von Ort zu Ort unterschiedlich ausfallen und durchaus Neuigkeitswert haben kann. Allerdings meint Pieterse, dass man aus weltgeschichtlicher Perspektive doch »von einer sich durchsetzenden Ähnlichkeit« sprechen könne: »Die Rückseite der kulturellen Hybridbildung ist die kulturübergreifende Konvergenz.« (Pieterse 1998:113f.).

Dass die großen Kulturkreise – und auch die kleinen kulturellen Traditionen – dem Modernisierungsprozess jeweils eine besondere Färbung verleihen, lässt sich zwanglos aus der Pfadabhängigkeit erklären und ändert am Ergebnis wenig. In diesem Sinne tragen das moderne Rechtssystem in Japan oder die in Europa wachsende neue Rechtsordnung ihren je eigenen Charakter.

Nicht alle Elemente der Moderne sind gleichermaßen variationsfähig. Die Wissenschaft als Kern der Rationalisierung verträgt nur oberflächliche Variationen. Postmoderne Varianten, die glauben, den rationalen Kern geknackt zu haben, sind damit aus der Wissenschaft in das Feuilleton abgewandert. Der Soziologe Thomas Schwinn meint, dass auch ethisch-normative Werte nicht in gleichem Maße hybridisierbar seien wie die alltagsästhetische Oberflächenkultur. Auch wenn sie sich nicht vernunftmäßig begründen ließen, so sei die Rationalisierungsfähigkeit von Normen doch stärker als bei ästhetischen Urteilen. »Das lässt sich ablesen an der internationalen rechtlichen Kodifizierung von Menschenrechts- und ökologischen Standards, die sich je einer spezifischen Kreolisierung entziehen.«[4] Einem Juristen würde man das so schnell nicht abnehmen. Aber Schwinn kann doch darauf verweisen, dass die Menschenrechte tatsächlich jedenfalls auf der Ebene von Weltgesellschaft und Weltkultur als universelle institutionalisiert sind.

Die Modernisierung lässt reichlich Raum für Vielfalt. Das bedeutet aber nicht, dass alle Vielfalt erhalten bleibt. Man darf sich die Hybridisierung nicht konfliktfrei und vor allem nicht verlustfrei vorstellen (Tenbruck). Es drohen auch Assimilation oder Untergang, etwa für wenig verbreitete Sprachen«[5] (und sicher auch für traditionelle Rechte).

Literatur: Jan Nederveen Pieterse, Globalization als Hybridization, in: Mike Featherstone u. a. (Hg.), Global Modernities, London 1995, S. 45-68; ders., Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, 1998, S. 87-124; ders., Globalization and Culture. Global Mélange, 2. Aufl., Lanham, Md. 2009; Ulf Hannerz, The World in Creolization, Africa 57, 1987, 546-559; ders., Transnational Connections: Culture, People, Places, London 1996; George Ritzer, Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997 [The McDonaldization of Society, 1993]; Pnina Werbner/Tariq Modood, Debating Cultural Hybridity, London, Atlantic Highlands, N.J., USA 1997.



[1] Individuation and Globalization: The Transformation of Territorial Social Organization, in: ders. (Hg.), Globalization and Territorial Identities, Aldershot: Avebury, 15-34.

[2] Jihad vs. McWorld. How Globalism and Tribalism are Reshaping The World. New York: Ballantine Books, 1995.

[3] Vgl. dazu Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 210ff.

[4] Ebd. S. 221.

[5] Hier könnte der Eintrag vom 17. September 2010 über Die Hegemonie der westlichen Sozialwissenschaft und der englischen Sprache anschließen.

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Modernisierung durch Recht: Konvergenz der Kulturen I

Inglehart und der World Value Survey

Mit der Modernisierung geht ein Wertewandel einher. Ronald Inglehart hat mit dem World Value Survey in Instrument zur global vergleichenden Messung kultureller Einstellungen entwickelt, das davon ausgeht, dass der Prozess der sozialen und ökonomischen Entwicklung, die als Modernisierung geläufig ist, zu einer kulturellen Konvergenz führt. Dazu ordnet er alle Länder in einer Vierfeldertafel, die auf der Hochachse unten traditionelle Werte und oben säkular-rationale Werte anzeigt, während auf der horizontalen Achse links Überlebenswerte (survival values) und rechts Selbstenfaltungsungswerte (self-expression-values notiert werden. Die Hochachse markiert den Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft, die Längsachse soll dem Übergang von der Industriegesellschaft zur postmodernen Gesellschaft Rechnung tragen, der durch die Verlagerung des Wertehorizonts von materialistischen zu postmaterialistischen Werten gekennzeichnet sei. Seit 1981 wurden für den World Value Survey bisher fünf Befragungswellen abgeschlossen.

Ronald Inglehart/Christian Welzel, Changing Mass Priorities: The Link Between Modernization and Democracy.  Perspectives on Politics 8, 2010, 554-56.

Pippa Norris und Ronald Inglehart sind in ihrem Buch »Cosmopolitan Communications. Cultural Diversity in a Globalized World« (das im Volltext im Internet zur Verfügung steht), der These nachgegangen, dass die Globalisierung der Massenkommunikation letztlich zur kulturellen Konvergenz führen werde. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass noch in vielen Regionen Gesellschaften verbleiben, die nicht über den vollen Zugang zu den Medien verfügen, und dass es auch auf individueller Ebene Barrieren gibt, aus den Medien neue Werte und Verhaltensweisen zu lernen. Die Bedrohung der kulturellen Diversität durch die Massenmedien werde daher oft übertrieben. Aber das würde bedeuten, dass auf lange Sicht eben doch eine weitere Konvergenz zu erwarten wäre.

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Modernisierung durch Recht: Die Konvergenzthese II

Selbstverstärkung der Modernisierung durch Rechenhaftigkeit und Ranking

Die Modernisierung wird von Rationalität und Effizienzstreben angetrieben. Die von der Wirtschaft ausgehende Effizienzorientierung erreicht heute mehr oder weniger alle Bereiche der Gesellschaft. Viele Ursachen kommen hier zusammen. Eine ist natürlich die Monetarisierung oder Ökonomisierung im engeren Sinne. Für die Wirtschaft bedeutet Rationalität Rechenhaftigkeit, wie sie mit der doppelten Buchführung möglich wurde. Die überall verfügbare EDV will mit Zahlen gefüttert werden. Eine weitere Ursache ist die Versozialwissenschaftlichung des Denkens. Für die empirische Sozialforschung gibt es nichts, was nicht messbar wäre. Jeden Tag werden wir mit Zahlen, z. B. in der Form von Prognosen, Preisen, Risikobewertungen, Kostennutzenanalysen, Schulnoten, Bilanzen, Sportergebnissen oder Testnoten konfrontiert. Das organisationale Rechnen jenseits der Wirtschaft hat inzwischen als Soziokalkulation einen Namen.[1] Zahlen und Rechenpraktiken sind allgegenwärtig. Sie versprechen einen rationalen Zugang zum Verständnis der Welt.

Man hat sich daran gewöhnt, dass alles in Zahlen und in Mengenbildern ausgedrückt wird und bemerkt gar nicht, dass die Durchnummerierung der Welt auch veränderte verhaltens- und leistungsbezogene Erwartungen zum Ausdruck bringt. Zahlen fordern zum Vergleich heraus. In Tortengrafiken, Balkendiagrammen oder Kurven drängt sich der Vergleich geradezu auf. Vergleiche führen, ob sie darauf angelegt sind oder nicht, zu einer Bewertung. Und Bewertungen haben Aufforderungscharakter.

Rechenhaftigkeit ist zum Bestandteil des Persönlichkeitssystems geworden. Was vor 20 Jahren noch unerhört schien, ist heute selbstverständlich. Anfangs haben alle oder viele noch gegen den Managementjargon protestiert. Heute hantieren sie wie selbstverständlich mit Begriffen wie Inputsteuerung, Outputsteuerung, Controlling, Produkten, Kosten-Leistungs-Rechnung usw. Mit den Begriffen und Formulierungen übernehmen sie eine anonyme Steuerungslogik, die auf eine mögliche Effizienzsteigerung angelegt ist. Darin liegt eine Änderung der Art und Weise, die Welt wahrzunehmen. In Verwaltungen, Krankenhäusern Universitäten, Theatern und Museen und selbst in der Justiz hat das Kosten-Leistungs-Denken Einzug gehalten. Eine kalkulative Mentalität bildet sozusagen die Tiefenstruktur der Ökonomisierung. Diese Mentalität macht Befehl und Recht bis zu einem gewissen Grade überflüssig.

Ein Ausfluss der Rechenhaftigkeit ist das Scoring, Ranking oder Benchmarking, das inzwischen auch auf globaler Ebene Einzug gehalten hat. Für die makrosozialen und vor allem für makroökonomische Daten gibt es eine erstaunliche Anzahl offizieller oder semioffizieller Quellen, die meistens in Gestalt jährlicher Reports und Rankings erscheinen. UNO, Weltbank, Internationaler Währungsfonds, die OECD, Stiftungen und NGOs offerieren Statistiken und Berichte, meistens in Gestalt von Ländervergleichen.[2] Mehr oder weniger alle verwenden Indikatoren aus der Merkmalsliste der Modernisierungstheorie. Auf den Spitzenplätzen der Ländervergleiche sind überall dieselben 30 bis 50 Länder anzutreffen, die als modern gelten können. Auf der Mitte der Skala beginnt die Liste der Kandidaten mit Nachholbedarf. Auf den hinteren 50 Plätzen sind in allen Ratings dieselben Länder versammelt, die deutlich unterentwickelt sind.

Die Rankings wirken. Nach und nach entdeckt die Wissenschaft das Antriebspotential des vergleichenden Berichtswesens.[3] Davis, Kingsbury und Merry haben es ausführlich als neue Governancetechnik analysiert. Darauf sei verwiesen und daraus nur zitiert, dass die Weltbank für sich in Anspruch nimmt, sie habe viele Länder allein durch die Zusammenstellung und Verbreitung der Indikatoren für Wirtschaftsfreundlichkeit in ihren Doing-Business Reports veranlasst, ihr Rechtssystem zu modernisieren.[4]

 


[1] Uwe Vormbusch, Die Kalkulation der Gesellschaft, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hg.), Zahlenwerk, 2007, 43-64. Eine historische Perspektive auf die scheinbar theoriefreie Repräsentation der Welt in Zahlen gibt Mary Poovey, A History of the Modern Fact: Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Univ. of Chicago Press, 1998 (mehrfach nachgedruckt).

[2] Insgesamt gibt es wohl über 200 solcher Berichte. Romina Bandura hat eine Aufstellung von 178 Untersuchungen zusammengestellt, die mit Hilfe von zusammengesetzten Indikatoren Ländervergleiche anstellen und mit einem Ranking enden: A Survey of Composite Indices Measuring Country Performance: 2008 Update. Office of Development Studies United Nations Development Programme, New York. (UNDP/ODS Working Paper).

[3] Zu Berichtsforschung: Kevin E. Davis/Michael B. Kruse, Taking the Measure of Law: The Case of the Doing Business Project; Law & Social Inquiry, 32, 2007, 1095–1119; Kevin E. Davis/Kingsbury Benedict/Sally Engle Merry, Indicators as a Technology of Global Governance, Law and Society Review 46, 2012, 71-104; Klaus F. Röhl, Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS für Hubert Rottleuthner, 2011, 357-393; Peter Thiery/Jenniver Sehring/Wolfgang Muno, Wie misst man Recht?, in: Josef Estermann (Hg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung, Bern 2010, 211–230.

[4] Law and Society Review 46, 2012, S. 84 (ohne Quellenangabe).

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Modernisierung durch Recht: Die Konvergenzthese I

»Industrialism and Industrial Man«

Als das Schlüsselwerk der Konvergenztheorie galt lange »Industrialism and Industrial Man« von Kerr u. a. (1962). Die Kernthese des Buches lautete, dass eine den Industrialisierungsprozessen innewohnende Logik als Antriebskraft einer weltweiten Konvergenz wirkt, die im Ergebnis zu einer einzigen modernen Gesellschaft führt. Die Industrialisierung wurde als großer Motor verstanden, der die Welt in Richtung auf Urbanisierung und Bürokratisierung, zur Kernfamilie und, auf kultureller Ebene, in Richtung auf Säkularisierung, Pluralismus und Rationalisierung bewegt. Als Endprodukt erwartete Kerr den »industrial man«, von dem er sagte, er sei »seldom faced with real, ideological alternatives within his society« (S. 283).

Heute würde Kerr vielleicht eine Fortsetzung schreiben mit dem Titel »Digitalization and Communication Man«. Die »alte« Konvergenztheorie sah in der Industrialisierung die treibende Kraft hinter der Angleichung unterschiedlicher sozialer Systeme. Sie hatte die dritte industrielle Revolution durch den Einzug der elektronischen Datenverarbeitung noch gar nicht im Blick. Die Datenverarbeitung hat zunächst die industrielle Produktion selbst noch einmal grundlegend verändert. Weltweit sind qualitativ hochwertige Telekommunikationsnetze und -dienste entstanden (Telefon, Telex, Telefax, E-Mail, Videokonferenzen, Datenbanken, Electronic Banking, Internet mit dem World Wide Web). Kommunikationstechnologie ist genuin global, weil sie die Möglichkeit bietet, Informationen kostengünstig und verlustfrei um die Welt zu transportieren. Die neuen Kommunikationstechniken haben die Internationalisierung der Produktion und die globale Verteilung von Gütern erleichtert. Informationen sind selbst zum überragend wichtigen Wirtschaftsgut geworden. 1962 beschrieb der Ökonom Fritz Machlup den Wandel zur Informationsgesellschaft, in der schon damals 30 % aller Wirtschaftstätigkeiten Informationen zum Gegenstand hatten. Heute dürften es weit mehr als 50 % sein. Die Informationstechnik hat auch Wirtschafts- und Staatsbürokratie grundlegend verändert. Und schließlich hat sie der Weltgesellschaft mit dem World Wide Web eine gemeinsame Wissensbasis geliefert.

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Modernisierung durch Recht: Die klassische Modernisierungstheorie in neun Punkten IV

Dieser Eintrag beendet die kleine Reihe, mit der ich die neun Punkte, in denen Samuel Huntington[1] die klassische Modernisierungstheorie zusammengefasst hat, repetiere und fortzuschreibe.

(9) Modernisierung ist Fortschritt. … Auf lange Sicht ist Modernisierung nicht nur unvermeidlich, sondern auch wünschenswert. Kosten und Leiden, besonders in der Anfangsphase, sind hoch. Aber ihre sozialen, politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften sind es wert. Auf längere Sicht fördert die Modernisierung die Wohlfahrt kulturell wie materiell. Die Fortschrittsthese, die eine Leistungssteigerung aller Systeme postuliert, an der prinzipiell alle teilhaben sollen, wird entgegengehalten, sie blende die enormen Leiden und Kosten der Modernisierung ebenso aus wie den Umstand, dass der Fortschritt nicht alle erreicht. Im Zusammenhang des Konvergenzthemas ist jedoch eine andere Kritik wichtiger, die Kritik nämlich, hinter der Fortschrittsannahme stecke ein missionarischer Universalismus des Westens. Friedrich Tenbruck spricht von der Vision der »säkularen Ökumene«. Das Konzept der Entwicklungshilfe habe daher, wie alle Fortschrittskonzepte, ein innerweltliches Ziel der Geschichte vor Augen, und münde damit in die Vision einer geschichtslosen Zukunft ein.[1] Tatsächlich wollte Francis Fukuyama 1989 das Ende der Geschichte vorhersagen, denn die Evolution der politischen Ideologien habe mit der weltweiten Ausbreitung der liberalen Demokratie westlichen Musters ihr Endstadium erreicht.[2]

Konvergenz bedeutet aber nicht das Verschwinden von Konflikten und damit das Ende der Geschichte, denn Modernisierung ist ein Prozess, der vielleicht alte Probleme überwindet, aber dafür neue aufwirft und damit auch neue Konfliktfronten aufreißt. Anhänger der Modernisierungstheorie führen die Konflikthaftigkeit des Prozesses nicht in erster Linie auf religiöse und kulturelle Differenzen zurück, sondern auf die Ungleichheiten, die die Modernisierung durch das unterschiedliche Tempo in den verschiedenen Ländern hat aufbrechen lassen.[3]

Ein Grundproblem der Modernisierungstheorie bleibt ihre relative Allgemeinheit. Wenn immer die Tatsachen nicht recht mit der Theorie übereinstimmen wollen, lässt sich die Theorie leicht verändern, so dass sie schwerlich widerlegbar ist. Das ist ein Problem vieler Theorien, dem der einzelne Anwender nur durch den Versuch der Aufrichtigkeit und Konsequenz begegnen kann.

Es ist beabsichtigt, diese Reihe durch eine Erörterung der Konvergenzthese und der daran geübten Kritik fortzusetzen. Im Hintergrund steht natürlich die Frage nach der Konvergenz der Rechtsentwicklung insbesondere auch in den nicht-OECD-Staaten. (Und im Vordergrund steht das Vielfaltsthema des Soziologentags, der demnächst in Bochum stattfindet.)

 


 


[1] A. a. O. (Fn. 1025) S. 27.

[2] Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Europäische Rundschau, 1989, Nr. 4, 3-25 (Original in: The National Interest, Summer 1989); vgl. auch Arnold Gehlen, Ende der Geschichte? Zur Lage des Menschen im Posthistoire, in: Oskar Schatz (Hg.): Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker, 1974, 61-75 = Gehlen, Einblicke, 1975, 115-133.

[3] Wolfgang Zapf, Modernisierungstheorie – und die nicht-westliche Welt, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 227-235, S. 234; Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58, 2006, 201-232, S. 214.

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Modernisierung durch Recht: Die klassische Modernisierungstheorie in neun Punkten III

Dieser Eintrag setzt die Postings vom 22. und vom 28. August fort, mit denen ich begonnen habe, die neun Punkte, in denen Samuel Huntington[1] die klassische Modernisierungstheorie zusammengefasst hat, zu repetieren und fortzuschreiben.

(6) Modernisierung vollzieht sich in Phasen. Alle Gesellschaften durchlaufen auf dem Weg zur Moderne unterscheidbare Stadien. … Das hat zur Folge, dass sich Gesellschaften danach vergleichen lassen, wie weit sie auf dem Wege der Modernisierung gekommen sind. Die Identifizierung von Phasen[2] ist heute nicht mehr wichtig, weil für das globale Monitoring Indikatoren entwickelt worden sind, die eine gleitende vergleichende Messung des Modernisierungsgrades gestatten. Wichtig bleibt aber, dass sich nach der klassischen Modernisierungstheorie keine Gesellschaft den Modernisierungsprozess entziehen kann. Allerdings müssen die Nachzügler nicht alle Phasen der Modernisierung ausführlich durchlaufen. In der Startphase werden Forschung und Entwicklung durch Nachahmung ersetzt. Technische Entwicklungen wie Flugzeug, Mobiltelefon und Satellitenkommunikation ersparen zum Teil den langwierigen Aufbau einer Infrastruktur. So haben die Tigerstaaten die Entwicklung von der Exportorientierung zum Massenkonsum im Eiltempo durchlaufen, und andere wie Vietnam, Malaysia und Indonesien machen es ihnen nach.

(7) Modernisierung ist ein Konvergenzprozess. Die traditionalen Gesellschaften sind so verschieden, dass manche sagen, sie hätten nicht mehr gemeinsam als dass sie nicht modern seien. Moderne Gesellschaften dagegen sind sich in vielerlei Hinsicht ähnlich. Modernisierung führt tendenziell zu Konvergenz. Die Konvergenzthese stützte sich zunächst auf einen ökonomischen Determinismus. Sie ging von der Annahme aus, dass Gesellschaften mit dem Übergang von der agrarischen zur industriellen Produktionsweise zunehmend komplexer werden, vergleichbaren Problemen gegenüberstehen und sich schließlich angleichen, indem sie für die auftauchenden Probleme ähnliche Lösungen wählen. Die Konvergenzthese ist das Kernstück der Modernisierungstheorie und sie ist besonders kontrovers. Deshalb muss sie bei Gelegenheit besonders behandelt werden.

(8) Modernisierung ist ein unumkehrbarer Prozess. Es mag vorübergehend Unterbrechungen und gelegentlich partielle Rückfälle geben. Aber als säkularer Trend ist die Modernisierung nicht aufzuhalten. … Das Tempo der Modernisierung ist von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Aber die Richtung des Wandels ändert sich grundsätzlich nicht. Als Rückschritte auf dem Wege der Modernisierung gelten etwa das Pol Pot-Regime in Kambodscha oder Khomeinis Revolution im Iran. Die Nazidiktatur war sicher eine schlimme Rückentwicklung des politischen Systems, aber nach den Huntington-Kriterien war das System immer noch »modern«. Die Modernisierungstheorie kommt mit dem heimlichen Versprechen, dass solche »Rückfälle« nur temporär seien.



[1] Samuel P. Huntington, The Change to Change. Modernization, Development, and Politics, Comparative Politics 3, 1971, 283-322, S. 288ff. Daran orientiert sich auch Johannes Berger, Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt?, Leviathan 24, 1996, 45-62.

[2] Ein viel zitiertes Modell stammt von Walt W. Rostow (The Stages of Economic Growth, A Non-Communist Manifesto, 1960, hier zitiert nach der 3. Aufl., Cambridge [England], New York 1990). Es unterscheidet fünf Phasen: Die traditionelle Gesellschaft, eine Übergangsperiode, den Durchbruch zu andauerndem Wachstum, der in England in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stattfand, in Mitteleuropa und in den USA jedoch erst Jahrzehnte später. Es folgen eine Konsolidierungsperiode und schließlich das Zeitalter des Massenkonsums. Diese Phasen sind aber nicht auf die nachholende Modernisierung zugeschnitten.

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Modernisierung durch Recht: Die klassische Modernisierungstheorie in neun Punkten II

Dieser Eintrag setzt das Posting vom 22. August fort, mit dem ich begonnen habe, die neun Punkte, in denen Samuel Huntington[1] die klassische Modernisierungstheorie zusammengefasst hat, zu repetieren und fortzuschreiben.

(3) Modernisierung ist ein systemischer Prozess. Modernisiert sich ein gesellschaftlicher Bereich, so sind auch andere davon betroffen. Das ist das so genannte Interdependenztheorem, das besagt, dass alle Teilsysteme der Gesellschaft von der Modernisierung ergriffen werden und dass sie sich parallel entwickeln müssen, damit die Gesellschaft insgesamt den Zustand der Modernität erreichen kann. Diese Annahme ist nicht unproblematisch.[2] Sie hängt insbesondere davon ab, wie man den Zustand der Modernität definiert. Es ist wohl richtig, wenn der von Huntington zitierte Daniel Lerner schreibt, die verschiedenen Elemente der Modernisierung würden als zusammengehörig empfunden, weil sie in gewissem Sinne historisch zusammengehörten.«[3] Und tatsächlich werden alle Teilsysteme der Gesellschaft mehr oder weniger von der Modernisierung affiziert. Die Politik wird zum Dienstleister für die Bürger und muss sich auf Transparenz und Mitbestimmung einlassen. Das Rechtssystem muss die Idee der Gleichheit verarbeiten, sich als Infrastruktur für die Wirtschaft und als Steuerungsinstrument für Regierung und Verwaltung bereithalten. Die Modernisierung verändert Erziehung und Bildung, die nunmehr jedermann einschließen. Sport und Kunst folgen mit einigem Abstand nach. Die Medien entwickeln sich zu einem System der Massenkommunikation. Die Religion leistet noch am ehesten Widerstand. Im Vordergrund aller Modernisierungsanalysen steht jedoch die Wirtschaft. Die Wirtschaft ist der Antrieb der Moderne, indem sie sich selbst auf Wachstum programmiert. Für alle Teilsysteme gilt, dass sie durch Modernisierung irgendwie leistungsfähiger werden mit der Konsequenz, dass diese Leistung an Hand von Indikatoren gemessen und verglichen werden kann.

(4) Modernisierung ist ein globaler Prozess. … Das ist in erster Linie die Folge einer Diffusion moderner Ideen und Techniken von Mitteleuropa aus, beruht aber zum Teil auch auf endogenen Entwicklungen nicht-westlicher Gesellschaften. Alle Gesellschaften sind irgendwann einmal traditional gewesen. Heute sind alle Gesellschaften entweder modern oder auf dem Weg in die Moderne. Die Globalität des Modernisierungsprozesses lässt sich nicht mehr in Abrede stellen. Offen bleibt, ob die Globalisierung eine Konsequenz der Moderne bildet – so etwa Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, 1990 – oder ob umgekehrt die Globalisierung selbst als Antrieb fortschreitender Modernisierung wirkt – in diesem Sinne etwa Niklas Luhmann und John Meyer. Alle Gesellschaften, die dort noch nicht angekommen sind, befinden sich auf dem Weg in die Moderne. Die Globalisierung macht regionale und vor allem nationale Unterschiede des Entwicklungsstandes manifest und damit die nachholende Modernisierung zur Aufgabe Problem. Zwar liefert die Globalisierung selbst auch Instrumente zu ihrer Unterwanderung, indem sie das globale Konzept der Menschenrechte zur Absicherung regionaler Besonderheiten anbietet. Aber die Menschenrechte enthalten zuallererst das Versprechen, dass sich jeder aus seinen traditionellen Bindungen befreien darf.

(5) Modernisierung ist ein langwieriger Prozess. Während die Modernisierung, was Art und Umfang der gesellschaftlichen Veränderungen betrifft, revolutionäres Ausmaß hat, ist die Modernisierung in ihrem zeitlichen Verlauf ein evolutionärer Prozess. Die westlichen Gesellschaften brauchten Jahrhunderte um sich zu modernisieren. Heute geht es schneller. Aber die Zeit für den Wandel von der traditionellen zur modernen Gesellschaft wird immer noch in Generationen gemessen. Modernisierung verlangt einen Persönlichkeitswandel, der allenfalls im Generationenrhythmus erreichbar ist. Modernisierung wird aber auch dadurch zum Dauerprozess, dass ungewünschte Nebenfolgen auftreten, die repariert werden müssen. Die drei wichtigsten sind der Verlust der sozialen Sicherung durch die Familie, der durch ein öffentliches Sozialsystem ausgeglichen werden muss, die Entstehung neuer Ungleichheiten und die Umweltzerstörung. Die Lösung ist bekanntlich nicht die Rückkehr in ein einfaches Leben, sondern raffiniertere Technik, Zunahme der bürokratischen Regulierung und weiteres Wirtschaftswachstum.



[1] Samuel P. Huntington, The Change to Change. Modernization, Development, and Politics, Comparative Politics 3, 1971, 283-322, S. 288ff. Daran orientiert sich auch Johannes Berger, Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt?, Leviathan 24, 1996, 45-62.

[2] Bestritten wird es etwa von Eisenstadt (Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, S. 11).Vgl. auch Thomas Schwinn, Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen. Ein Literaturbericht in konstruktiver Absicht, Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, 454-476, S. 458.

[3] Daniel Lerner, The Passing of Traditional Society, 1958, 438.

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Modernisierung durch Recht: Die klassische Modernisierungstheorie in neun Punkten

Dieser Eintrag schließt an das Posting vom 8. August 2012  an.

Als »klassische« Modernisierungstheorie bezeichnet man nicht die Theorie der Klassiker, sondern deren Fortsetzung vornehmlich durch US-amerikanische Soziologen nach 1950. Politisch etablierte sich nach 1949 der Begriff der Entwicklungshilfe und in der amerikanischen Soziologie die dazu passende zur Modernisierungstheorie. Talcott Parsons lieferte die Großtheorie. Er benannte vier »evolutionäre Universalien«, die einer jeden Gesellschaft überlegene Anpassungsmöglichkeiten geben sollen: eine Verwaltungsbürokratie, einen kapitalistischen Markt, Demokratie und ein universalistisches Rechtssystem.[1] Daniel Lerner[2] und Alex Inkeles[3] übernahmen es, die Modernisierungsthese in vergleichenden Untersuchungen empirisch zu testen. Viele andere Autoren waren beteiligt, und über manche Details wurde gestritten. Aber es gab doch eine große Linie der Übereinstimmung. Samuel P. Huntington hat sie 1971 in neun Punkten zusammengefasst[4], die hier (gekürzt in grober Übersetzung = kursiv) übernommen und fortgeschrieben werden. Davon heute die ersten beiden Punkte:

(1)  Modernisierung ist ein revolutionärer Prozess. Der Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft verändert alle Aspekte des Lebens. Dem ist nichts hinzuzufügen.

(2)   Modernisierung ist ein komplexer Prozess. Er lässt sich nicht auf eine einzige Variable oder Dimension reduzieren. Auf jeden Fall gehören Industrialisierung, Urbanisierung, soziale Mobilisierung, Differenzierung, Säkularisierung, Expansion der Medien, zunehmende Alphabetisierung, Ausbildung und politische Partizipation dazu. Die von Huntington genannten Variablen haben sich zwar in ihrem jeweiligen Gewicht verschoben, sind aber nach wie vor aktuell.

Allerhand Diskussion gibt es über den Gesichtspunkt der politischen Partizipation. Das gilt besonders für die Frage, ob Demokratie eine mehr oder weniger notwendige Begleiterscheinung der Modernisierung sei. Huntington selbst hat das verneint. Er meinte, entscheidend sei weniger die Regierungsform als vielmehr die Effektivität der Regierung. Die USA, Großbritannien und die Sowjetunion hätten ganz unterschiedliche Regierungsformen. Doch in allen drei Ländern könne die Regierung wirklich regieren. Alle drei Länder hätten starke, anpassungsfähige und kohärente politische Institutionen, eine effektive Bürokratie, gut organisierte politische Parteien, ein hohes Ausmaß an politischer Partizipation in öffentlichen Angelegenheiten, wirksame Systeme der zivilen Kontrolle über das Militär, beträchtliche wirtschaftliche Aktivitäten der Regierung und einigermaßen funktionierende Verfahren für die Regierungsnachfolge und zur Kontrolle politischer Konflikte.[5] Angesichts schlagender Beispiele autoritär gelenkter Modernisierung muss man Huntington wohl beipflichten. Alles andere wäre Wunschdenken. Einen kleinen Trost hält die Lipset-These bereit, nach der wachsender Wohlstand demokratische Verhältnisse fördert.[6] Sie scheint empirisch durchaus triftig zu sein.[7] Aber es scheint mir doch eine Fortschreibung der Modernisierungstheorie notwendig zu sein, deren Richtung David E. Apter[8] vorgegeben hat. Nur Demokratie kann dauerhaft den »positiven Pluralismus« gewährleisten, von dem die laufende Selbsterneuerung der Moderne abhängt. Es fällt auf, dass hier und auch sonst in Huntingtons Aufzählung das universalistische Rechtssystem und seine Konkretisierung in der rule of law – um den im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe üblichen Jargon zu übernehmen – nicht genannt werden. Das ist vielleicht ein erster Hinweis auf die Frage nach der Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung.

Aufmerksamkeit verdient auch die Säkularisierungsthese. Sie behauptet dreierlei, nämlich erstens die Entzauberung der Welt in dem Sinne, dass religiöse Deutungen nicht länger die Öffentlichkeit dominieren; zweitens Entkirchlichung, d. h. den Rückgang der organisierten Religionsmitgliedschaft, und drittens Privatisierung, also die Trennung von Religion und Politik, so dass religiöse Bekenntnis zur Privatsache wird. Viele halten die Säkularisierungsthese nicht mehr für haltbar, nachdem José Casanova auf die seit den 1980er Jahren zu beobachtende Renaissance der Religionen aufmerksam gemacht hatte.[9] Da diese These hier nicht adäquat erörtert werden kann, sei dazu aus einer neueren Veröffentlichung Casanovas zitiert:

»Ich stelle hiermit nicht die Tatsache in Frage, dass ein radikaler historischer Prozess der Säkularisierung stattgefunden hat …; ebenso wenig bezweifle ich die Tatsache, dass wir in einem säkularen Zeitalter leben. … im Sinne der globalen Expansion eines säkularen Interpretationsrahmens … werden nicht nur die ›säkularen‹ Gesellschaften des Westens, sondern die ganze Welt zunehmend säkular und ›entzaubert‹ in dem Sinn, dass die kosmische Ordnung zunehmend durch die moderne Wissenschaft und Technologie definiert wird, dass die soziale Ordnung zunehmend durch die Verknüpfung von ›demokratischen‹ Staaten, Marktökonomien und medialen Öffentlichkeiten definiert wird, und dass die moderne Ordnung zunehmend durch die Kalkulationen von Rechte besitzenden individuellen Akteuren definiert wird, die Menschenrechte, Freiheitsrechte, Gleichheit und das Streben nach Glück einfordern.«[10]

Im Übrigen sei auf einschlägige Literatur verwiesen, insbesondere auf die Übersichtsartikel von Gabriel[11] und Pollack[12]. Immerhin will ich anmerken, dass die derzeit beobachtete Politisierung des Islam entgegen dem ersten Anschein einen Schritt zur Säkularisierung bedeuten könnte. Im Zusammenhang mit dem Syrienkonflikt war in den letzten Tagen wiederholt von der Organisation islamischer Staaten die Rede. 57 islamische Staaten haben sich in der OIC zusammengeschlossen. Bemerkenswert ist, dass es überhaupt islamische Staaten gibt, denn damit ist das zentrale islamische Dogma verlassen, nach dem es jenseits der Umma, also der Gemeinde mit dem Kalifat, keine weitere Organisation der Gesellschaft geben soll.

 


[1] Talcott Parsons, Evolutionary Universals in Society, American Sociological Review 29, 1964, 339-357/356 (= Evolutionäre Universalien der Moderne, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, 1971, 55-74). Einen Versuch zur Präzisierung unternimmt Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225, S. 208f.

[2] The Passing of Traditional Society: Modernizing the Middle East, Glencoe, The Free Press, 1958; ders., Artikel »Modernization: Social Aspects« in: International Encyclopedia of the Social Sciences, 1968. Lerner verstand unter Modernisierung gesellschaftliche Veränderungen, die durch Industrialisierung und Verstädterung, durch die Massenmedien und durch politische Partizipation vorangetrieben wurden. Den harten Kern der Modernisierung sah Lerner im Wirtschaftswachstum begleitet von demokratischer Partizipation an der Politik, der Verbreitung säkular-rationaler Normen, in einem Zuwachs an physischer und psychischer Mobilität der Menschen und in einem neuen Persönlichkeitstyp, der sich in fremde Rollen hineinversetzen kann.

[3] Making Men Modern: On the Causes and Consequences of Individual Change in Six Developing Countries, American Journal of Sociology 75, 1969, 208-225; Alex Inkeles/David H. Smith, Becoming Modern. Individual Change in Six Developing Countries, Cambridge/Mass. 1974. Inkeles untersuchte den Einfluss des Modernisierungsprozesses auf die Persönlichkeit und befragte dazu 6000 Probanden in sechs Entwicklungsländern. Er stellte fest, dass eine Reihe von Persönlichkeitszügen, die mit der Modernisierung in Verbindung gebracht werden – Offenheit gegenüber sozialem Wandel, Toleranz, Vertrauen in Wissenschaft und technische Methoden – sich in sechs verschiedenen Gesellschaften parallel entwickelt haben. Und zwar spiegeln die Modernitätsindikatoren recht gut die Schulausbildung und die Erfahrung in der Fabrikarbeit.

[4] Samuel P. Huntington, The Change to Change. Modernization, Development, and Politics, Comparative Politics 3, 1971, 283-322, S. 288ff. Daran orientiert sich auch Johannes Berger, Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt?, Leviathan 24, 1996, 45-62.

[5] Samuel P. Huntington, Political Order in Changing Societies, New Haven 1968, S. 1. Für Daniel Lerner war die Demokratie nur die »Krönung« der politischen Modernisierung, weil sie eine gewisse Reife des politischen Systems und auch die Bildung moderner Persönlichkeiten voraussetze (The Passing of Traditional Society, 1958, 64). Vgl. auch Ilja Srubar, War der reale Sozialismus modern? Versuch einer strukturellen Bestimmung, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43, 1991, 415-432. Srubar verneint die Frage, da dem Sozialismus die für die Moderne notwendige Konstellation von privater und öffentlicher Sphäre gefehlt habe. Zur Moderne gehöre nämlich die Differenzierung von privatem Markt und öffentlichem Staat, der mittels einer rationalen Bürokratie vorhersehbares Handeln ermögliche.

[6] Seymour Martin Lipset, Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy, The American Political Science Review 53, 1959, 69-105; ders., The Social Requisites of Democracy Revisited, American Sociological Review 59, 1994, 1-22.

[7] Wolfgang Merkel, Systemtransformation, 2. Aufl., 2010, 70ff.

[8] David E. Apter, Marginalization, Violence, and Why We Need New Modernization Theories, in: World Social Science Report, Knowledge Divides, Paris 2010, S. 32-37.

[9] José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, S. 66. Auf Casanova berufen sich z. B. Bertram Turner/Thomas G. Kirsch, Law and Religion in Permutation of Order: An Introduction, in: dies. (Hg.), Permutations of Order, Religion and Law as Contested Sovereignties, Farnham, Surrey 2009, S. 1-24, S. 2.

[10] José Casanova, Welche Religion braucht der Mensch? Theorien religiösen Wandels im globalen Zeitalter der Kontingenz, in: Bettina Hollstein u. a. (Hg.), Handlung und Erfahrung, Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, 2011, S. 169-189, S. 187.

[11] Karl Gabriel, Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter, Aus Politik und Zeitgeschichte , 2008, 9-15.

[12] Detlef Pollack, Rekonstruktion statt Dekonstruktion: Für eine Historisierung der Säkularisierungsthese, Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 7, 2010, H. 3. Zur neueren Diskussion etwa noch: Matthias Koenig, Jenseits des Säkularisierungsparadigmas?; Eine Auseinandersetzung mit Charles Taylor, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 63, 649- 673; Christoph Deutschmann, Capitalism, Religion, and the Idea of the Demonic, MPIfG Discussion Paper 2012/2.

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