Travelling Models I: Rechtsvergleichung

Vor vier Jahren habe ich in zwei Einträgen die travelling models der Hallenser Ethnologen angesprochen. [1]Treibball in die Rechtssoziologie vom 2. Juli 2010 und Wandernde Rechtskonzepte vom 18. September 2010. Damals gab es ein Paper im Internet, das längst wieder verschwunden ist. In diesem Jahr nun ist der angekündigte Sammelband mit dem entsprechenden Titel erschienen. Die Lektüre war durchaus erfreulich, wiewohl die leise Kritik, die ich im Eintrag vom 18. 9. 2010 angedeutet habe, sich als berechtigt erweist.

Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014 [2]Das Buch ist weitgehend bei Google-Books einsehbar.

Doch bevor ich mich an einem Bericht über diesen Band versuche, muss ich ein bißchen zur Selbstverständigung reflektieren. Denn einerseits zählen Ethnologie und/oder Anthropologie zu den interessantesten Nachbarwissenschaften der Rechtssoziologie. Andererseits »ticken« die Ethnologen anders, so dass ich ständig in Gefahr bin, etwas falsch zu verstehen oder zu bewerten. Im Vorgriff auf Richard Rottenburg kann ich auch sagen: Ethnologie und (meine) Rechtssoziologie leben mit einem unterschiedlichen kulturellen Code. Unter einem kulturellen Code versteht Rottenburg das Hintergrundverständnis, das die Weltwahrnehmung und -Deutung lenkt. Soweit es um Wissenschaft geht, würde man freilich eher von einem epistemischen Paradigma sprechen. Ethnologen suchen ständig nach Vielfalt. Von nicht wenigen Rechtssoziologen wird dieses Vorverständnis geteilt. Sie sehen sich als Rechtspluralisten und suchen und schätzen die Vielfalt des Rechts. Ich selbst dagegen suche, ohne die Vielfalt zu leugnen oder gar gering zu schätzen, nach der Einfalt in der Vielfalt, das heißt, nach Konvergenz.

Dabei geht es nicht allein um Konvergenz und Differenz auf der Objektebene. Schon hinsichtlich Theorie, Methode und Themenwahl lässt sich über die Disziplingrenzen hinweg nach Konvergenz und Differenzen fragen. Die Konvergenz erscheint mir frappierend, wenn man die Parallelen zwischen Rechtsvergleichung und/oder Rechtssoziologie einerseits und Ethnologie und/oder Anthropologie andererseits ansieht. Dann erscheinen sogar fachinterne Differenzierungen, etwa die zwischen Funktionalisten und Kulturalisten, selbst wiederum als Einfalt der Vielfalt, das heißt letztlich als Konvergenz.

Bei den »Travelling Models« geht es um den Transfer von Ideen oder Konzepten zur Gestaltung der Gesellschaft. Die von den Hallenser Ethnologen als travelling models untersuchten Konzepte haben alle in irgendeiner Weise Rechtscharakter. »Travelling Law«, also der Transfer von Recht, die freiwillige oder erzwungene, beabsichtigte oder unbeabsichtigte Übernahme einer ganzen Rechtsordnung oder einzelner Teile in andere Länder mit einer anderen kulturellen Umgebung ist ein Standardthema von Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie – die sich bei seiner Behandlung kaum auseinanderhalten lassen. Das Thema wird heute bevorzugt im Zusammenhang mit der Globalisierung erörtert, und dabei geht es immer wieder um Pluralität, Divergenz und Konvergenz des Rechts.

In der Rechtsvergleichung gibt es im Prinzip drei unterschiedliche Ansätze. Der erste ist die dogmatisch orientierte Regelvergleichung. Sie kommt typisch zum Einsatz, wenn in einem Gerichtsverfahren das Internationale Privatrecht auf ausländisches Recht verweist, etwa für die Frage, wie das inländische Vermögen eines hier verstorbenen Ausländers vererbt wird (Art. 25 EGBGB). Die Regelvergleichung hat zu einer enormen Anhäufung von Einzelwissen geführt, das freilich so vergänglich ist wie das positive Recht selbst.

Schon die bloße Regelvergleichung kommt nicht ohne eine funktionalistische Betrachtungsweise aus, denn die Regeln fremder Rechte sind oft anders benannt und geordnet, so dass man nicht einfach auf bestimmte Regeln zugreifen kann, sondern zunächst das Sachproblem identifizieren muss, für das eine Regel gesucht wird. In diesem Sinne ist die klassische Rechtsvergleichung seit Ernst Rabel, Konrad Zweigert und Hein Kötz funktionalistisch. Sie hat zudem ein praktisches Ziel, nämlich die Suche nach vergleichsweise besseren Problemlösungen. Diese Art der Rechtsvergleichung hat insofern Konvergenz im Hinterkopf, als sie rechtspolitisch in das Geschäft der Harmonisierung oder gar Vereinheitlichung des Rechts eingespannt ist.

Die explizit funktionalistische Rechtsvergleichung geht noch einen Schritt weiter. [3]Ausführlich zur funktionalistischen Rechtsvergleichung Julie de Coninck, The Functional Method of Comparative Law: Quo Vadis?, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht … Continue reading Sie nimmt an, dass die zu regelnden Probleme in verschiedenen Gesellschaften mehr oder weniger gleich sind, und meint, nur im Hinblick auf vergleichbare Problemlagen lasse sich das Recht überhaupt vergleichen. Mindestens hinsichtlich dieses Ausgangspunkts denkt sie universalistisch. Die funktionalistische Rechtsvergleichung entspricht damit dem Vorschlag, mit dem Walter Goldschmidt das Malinowski-Dilemma der Anthropologie lösen wollte, das Problem nämlich, das sich ergibt, wenn man einerseits soziale Institutionen als Produkt einer spezifischen Kultur erklärt, andererseits aber auch die Institutionen als solche vergleichen möchte. Dann fehlt ein tertium comparationis, wenn man nicht davon ausgeht, dass Institutionen jeweils bestimmte gleichartige Probleme lösen. [4]Walter Goldschmidt, Comparative Functionalism: An Essay in Anthropological Theory, Berkeley 1966. Das ist allerdings noch nicht der Weisheit letzter Schluss, den auch Problemwahrnehmung und Definition sind nicht kulturunabhängig.

Die funktionalistische Rechtsvergleichung ist geneigt, auf globaler Ebene eine gewisse Konvergenz der Problemlösungen wahrzunehmen. Bei ihrer Vergleichsarbeit sucht sie nicht bloß nach formellem Recht, dass für die Probleme relevant ist, sondern zieht auch einschlägige informelle Institutionen heran. Damit rückt sie in die Nähe des Neoinstitutionalismus. [5]Dazu voraussichtlich demnächst Travelling Models IV.

Seit nunmehr etwa 30 Jahren hat als dritter der kulturwissenschaftliche Ansatz in Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung Eingang gefunden. [6]Ausführlicher Rechtssoziologie-Online § 15, Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft. Er äußert sich in zwei ganz unterschiedlichen Betrachtungsweisen. Die eine betont, dass an die Stelle von Rechtsvergleichung Rechtskulturvergleichung treten solle. Dieser Ansatz, der vor allem auf Arbeiten von Lawrence M. Friedman zurückgeht, sieht das Recht selbst als kulturelles Phänomen, das viel mehr umfasst als das offizielle Recht, nämlich das praktisch gelebte Recht und als dessen Grundlage das Rechtsbewusstsein der Menschen. Es geht gewissermaßen um eine ganzheitliche Betrachtung eines Rechtssystems oder bestimmter Teile. Bevorzugte Untersuchungseinheiten sind nationale Rechtssysteme. Dann ist etwa von den Unterschieden amerikanischer und deutscher Rechtskultur die Rede. Nicht selten wird aber auch die Besonderheit von lokalen Rechtskulturen (local legal cultures) herausgestellt.

Den Gegenpol zur funktionalistischen Rechtsvergleichung, auf den es mir hier ankommt, bildet eine kulturalistische Rechtsvergleichung, die auf Kultur als externe Umgebung des Rechts abstellt. Während der Begriff der Rechtskultur auf Systemeigenschaften des Rechts abzielt, wird »Kultur« hier als Gegenstück zum Recht verstanden, etwa wenn man sagt, das liberal-demokratische Rechtskonzept der westlichen Industrienationen vertrage sich nicht mit der islamischen Kultur (was ich nicht sage). »Kultur« als Umwelt des Rechts kann so zur Erklärung bestimmter Eigenschaften des Rechts dienen.

Die kulturalistische Rechtsvergleichung lässt sich von der Idee bestimmen, dass jede Kultur ein in sich geschlossenes Gefüge eigener Art bildet, ein Ensemble von aufeinander abgestimmten Lebensformen, Verhaltensweisen und Normen, dass die Kulturen untereinander inkommensurabel sind und dass es auch keinen neutralen Maßstab, gibt an dem sie sich messen lassen. Alle Beobachtungen und Interpretationen werden danach von der Zugehörigkeit zu einer Kultur gesteuert und sind insofern relativ. Kulturalistische Rechtsvergleichung sucht daher, anders als die funktionalistische, nicht nach Übereinstimmungen oder gar Konvergenzen in den vielen verschiedenen Rechtsordnungen, sondern sie bleibt bei der Feststellung von Differenzen stehen, um sie aus dem jeweils unterschiedlichen kulturellen Kontext zu erklären. [7]Zur Kritik der funktionalistischen Methode durch »kritische Differenztheoretiker« De Coninck S. 323 ff. Konsequent führt die Wertschätzung kultureller Vielfalt auch zur Wertschätzung von rechtlicher Differenz. Wenn und weil jede Kultur ihre eigene Identität besitzt, ist sie notwendig besonders. Wenn das Recht in die umgebende Kultur eingebettet ist, so muss es notwendig anders sein. [8]Roger B. M. Cotterrell, Comparative Law and Legal Culture, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, Oxford 2006, 709-737. S. 711f. Da die Interpretation von Recht und damit auch die Praxis jeweils von einem kulturell geprägten Vorverständnis geleitet werde, lasse sich auch durch eine Angleichung der Regeln letztlich keine Harmonisierung des Rechts erreichen. [9]Pierre Legrand, European Legal Systems Are Not Converging, The International and Comparative Law Quarterly 45, 1996, 52-81.

Da es heute stets um Globalisierung geht, kann man den Gegensatz zwischen funktionalistischer und kulturalistischer Rechtsvergleichung sehr verkürzt dahin formulieren: Die einen haben im Hinterkopf die These von der Konvergenz des Rechts im globalen Maßstab, die anderen arbeiten mit der Vorannahme, dass das Recht wie die Kultur prinzipiell vielfältig bleibt. Es steht sozusagen global legal pluralism [10]Wenn von Rechtspluralismus die Rede ist, meint man allerdings in erster Linie dass zur selben Zeit und am gleichen Ort verschiedene Rechts zur Auswahl stehen, konkurrieren oder sich bekämpfen. Zum … Continue reading gegen die Vorstellung einer globalen Konvergenz des Rechts. Der unterschiedliche Ausgangspunkt dürfte eigentlich kein Problem sein, wenn man den Gegensatz als Frage an die Empirie formuliert, nämlich als Frage, ob und wieviel Konvergenz sich beobachten lässt bzw. umgekehrt, ob und wieviel Differenz [11]Zum Unterschied von Konvergenz und Homogenität einerseits und Divergenz und Differenz im Sinne von Diversität oder Vielfalt andererseits vgl. den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der … Continue reading verbleibt.

Die Übertragung von Institutionen oder auch nur singulären Normen aus einem Rechtskreis in einen anderen wird unter Stichworten wie Einfuhr und Ausfuhr, Rezeption und Oktroyierung von Recht, Rechtstransfer, legal transplant [12]Z. B. John Stanley Gillespie, Transplanting Commercial Law Reform, Developing a »Rule of Law« in Vietnam, Aldershot 2006; Gail J. Hupper, The Academic Doctorate in Law: A Vehicle for Legal … Continue reading oder imposition of law [13]Sandra B. Burman/Barbara E. Harrell-Bond (Hg.), The Imposition of Law, New York 1979. abgehandelt. Die Stichworte konnotieren eher mit intendiertem Handeln. Daneben steht die unbeabsichtigte Diffusion von Ideen, Konzepten und auch konkreten Normierungen. Dazu im nächsten Eintrag.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Treibball in die Rechtssoziologie vom 2. Juli 2010 und Wandernde Rechtskonzepte vom 18. September 2010. Damals gab es ein Paper im Internet, das längst wieder verschwunden ist.
2 Das Buch ist weitgehend bei Google-Books einsehbar.
3 Ausführlich zur funktionalistischen Rechtsvergleichung Julie de Coninck, The Functional Method of Comparative Law: Quo Vadis?, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 74, 2010, 318-350.
4 Walter Goldschmidt, Comparative Functionalism: An Essay in Anthropological Theory, Berkeley 1966.
5 Dazu voraussichtlich demnächst Travelling Models IV.
6 Ausführlicher Rechtssoziologie-Online § 15, Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft.
7 Zur Kritik der funktionalistischen Methode durch »kritische Differenztheoretiker« De Coninck S. 323 ff.
8 Roger B. M. Cotterrell, Comparative Law and Legal Culture, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, Oxford 2006, 709-737. S. 711f.
9 Pierre Legrand, European Legal Systems Are Not Converging, The International and Comparative Law Quarterly 45, 1996, 52-81.
10 Wenn von Rechtspluralismus die Rede ist, meint man allerdings in erster Linie dass zur selben Zeit und am gleichen Ort verschiedene Rechts zur Auswahl stehen, konkurrieren oder sich bekämpfen. Zum Rechtspluralismus ausführlich Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung, 2013, 1117-1128.
11 Zum Unterschied von Konvergenz und Homogenität einerseits und Divergenz und Differenz im Sinne von Diversität oder Vielfalt andererseits vgl. den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt«.
12 Z. B. John Stanley Gillespie, Transplanting Commercial Law Reform, Developing a »Rule of Law« in Vietnam, Aldershot 2006; Gail J. Hupper, The Academic Doctorate in Law: A Vehicle for Legal Transplants?, SSRN: http://ssrn.com/abstract=1126358; Vlad Perju, Constitutional Transplants, Borrowing, and Migrations, http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1982230; Holger Spamann, Contemporary Legal Transplants – Legal Families and the Diffusion of (Corporate) Law, Brigham Young University Law Review, 2009, 1813-1877. Einen neuen Band zum Thema habe ich noch nicht in der Hand gehabt: Eugenia Kurzynsky-Singer (Hg.), Transformation durch Rezeption?, Möglichkeiten und Grenzen des Rechtstransfers am Beispiel der Zivilrechtsreformen im Kaukasus und in Zentralasien, 2014.
13 Sandra B. Burman/Barbara E. Harrell-Bond (Hg.), The Imposition of Law, New York 1979.

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Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung und der Vertrag als Rechtsquelle

Im Eintrag vom 29. 4. 2010 hatte ich eine Stelle aus Luhmanns Geltungsaufsatz von 1991 zitiert, in der davon die Rede ist, das zirkulierende Geltungssymbol solle den Rechtsquellenbegriff ersetzen. Hier noch einmal das (gekürzte) Zitat:

»Im Anschluß an eine Terminologie, die Talcott Parsons in seiner Theorie symbolisch generalisierter Tauschmedien benutzt, kann man auch von einem im System zirkulierenden Symbol sprechen und damit die Metapher der Quelle durch die Metapher des Zirkulierens ersetzen.« [1]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.

Mit der ihm eigenen Souveränität erklärt uns Luhmann, wenn man seine Theorie der Rechtsgeltung akzeptiere und mit ihr »Quelle« durch »Zirkulation« ersetze, so führe das »zu weitreichenden Änderungen der theoretischen Beschreibung des Rechtssystems«. [2]S. 283.

»Mit dem formalen Begriff der Geltung in Anspruch nehmenden und transportierenden Operation können mehr Tatbestände erfaßt werden, als mit dem Begriff der Rechtsquelle. Diese Ausweitung unterläuft klassische Einteilungen des Rechts – insbesondere die Einteilung von öffentlichem Recht und Privatrecht und die Einteilung von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Vor allem aber gelingt es auf diese Weise, die mit der Vertragsfreiheit gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten einzubeziehen. Wir hatten bereits notiert [3]Bei Fn. 8 unter Hinweis auf Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 12. Savignys Text ist in im Internet verfügbar: … Continue reading, daß Savigny Verträge aus dem Bereich der Rechtsquellen ausgeschlossen hatte. Das kam der zeitgenössischen Vorstellung eines ›unpolitischen‹ Privatrechts entgegen und lenkte im Kontext der liberalen Ideologie davon ab, daß Private mit dem Instrument der Verträge die öffentliche Gewalt dazu zwingen können, zu ihren Gunsten zu intervenieren, ohne daß der Vertragsinhalt zuvor politisch kontrolliert worden wäre.« [4]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.

Um den Vertrag als Rechtsquelle zu erfassen, braucht es Luhmanns Geltungstheorie nicht, wenn man die Privatautonomie als eine vom Recht verliehene Kompetenz versteht [5]So ohne die Nachhilfe Luhmanns schon die erste Aufl. der Allg. Rechtslehre 1994. S. 238, 558f., ein Verständnis, dass Savigny allerdings noch fernlag. In Fußnote auf S. 12 erklärt dieser die »irrtümliche« Einordnung des Vertrages als Rechtsquelle mit dem »vieldeutigen Ausdruck Autonomie«. Versteht man Privatautonomie nicht als originäre, sondern als rechtlich verliehene oder jedenfalls geordnete Kompetenz, dann wird auch klar, dass auch der Inhalt privater Verträge wenn nicht politisch, so doch rechtlich kontrolliert wird, ein Thema, dass heute unter dem Aspekt der Materialisierung des Vertragsrechts breit abgehandelt wird.

Gunther Teubner, der zwar nicht explizit, aber in vielen Formulierungen Luhmanns Geltungslehre übernimmt, sieht die notwendige Veränderung der traditionellen Rechtsquellenlehre »sehr viel radikaler«:

»Der globale Kontext, in dem keine bereits bestehenden Rechtsordnung eine Geltungsquelle globaler Verträge darstellt, nötigt uns dazu, den Vertrags selbst als Rechtsquelle anzuerkennen, gleichgeordnet neben Richterrecht und Gesetzgebung.« [6]A. a. O. S. 22.
In der Sache geht es dabei um die berühmt-berüchtigte lex mercatoria. Teubner fragt:
»Wie ist es denkbar, daß sich, ohne daß ein globales politisches System oder globale Rechtsinstitutionen existierten, ein globaler Rechtsdiskurs auf der Grundlage binärer Codierung und mit Anspruch auf globale Geltung ohne Fundierung in einem nationalen Recht etabliert?« [7]A.a.O. S. 17.

Ich sehe hier von Teubners begriffssoziologischer Konstruktion der »Selbstvalidierung des Vertrages« ab und ziehe nur das Ergebnis in Betracht:

»Private Schiedsgerichte und private Gesetzgebung werden auf diese Weise zum Mittelpunkt eines Entscheidungssystems, das eine Hierarchie von Normen und Entscheidungsstellen zu errichten beginnt.«

Von unserem Standpunkt der Relativität der Rechtsquellenlehre kann ich dem ohne weiteres folgen. Die lex mercatoria ist Rechtsquelle für das Entscheidungssystem der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, aber nicht Rechtsquelle schlechthin. So dürfte Teubner das aber wohl nicht gemeint haben, auch wenn er vielfach die »Fragmentierung« des Rechts in viele »Privatregimes« betont. Deshalb will ich doch noch einmal auf die Frage nach der Universalität des Rechtssystems zurückkommen.

Das Phänomen, um dessen theoretische Erfassung viele Autoren kämpfen, ist die Tatsache, dass es so etwas wie einen globalen Rechtsdiskurs gibt. Ich wiederhole noch einmal ausführlicher das Teubner-Zitat aus dem Beitrag vom 21. 4. 2014:

»Was wir hier beobachten, ist ein sich selbst reproduzierender Rechtsdiskurs globalen Ausmaßes, der seine Grenzen durch Benutzung des binären Codes Recht/Unrecht schließt und sich selbst durch Prozessieren eines Symbols globaler (nicht: nationaler) Geltung reproduziert. Das erste Kriterium – binäre Codierung – unterscheidet globales Recht von ökonomischen und anderen sozialen Prozessen. Das zweite Kriterium – globale Geltung – grenzt globales Recht von nationalen und internationalen Rechtsphänomen ab.« [8]Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung … Continue reading.

Das erste Kriterium, Luhmanns Recht/Unrecht-Code, hat selbst keinerlei Globalisierungsbezug. Daher wird das zusätzliche Kriterium »globale Geltung« eingeführt. Entgegen dem ersten Anschein, ist wohl keine universelle Geltung, sondern (nur) »transnationale« Geltung gemeint, nämlich »Geltung jenseits der Nationalstaaten und sogar jenseits der inter-nationalen Beziehungen« (A. a. O. S. 11.)). Für solche Geltung bietet auch Teubner letztlich kein anderes Erkennungsmerkmal als die Existenz eines Entscheidungssystems, in diesem Fall, der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit.

Der Rechts/Unrecht-Code hat, wie gesagt, keinerlei Globalisierungsbezug. Er hat aber auch keinen Bezug auf nationale oder sonstige Rechtssysteme beschränkter Reichweite. Insofern eignet er sich durchaus zur Identifizierung eines universellen Rechtssystems. Klaus Günther spricht von einem universalen Code der Legalität. [9]Klaus Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, FS Habermas, 2001, 539-567; ders., Legal Pluralism or Uniform Concept of Law. … Continue reading Die verschiedenen Akteure (Anwälte, Gesetzgeber, NGOs, Schiedsrichter) seien stets in der Lage, auftauchende Fragen auf der Basis grundlegender Vorstellungen von Rechten und fairen Verfahren, von Sanktionen und Kompetenzen als Rechtsthemen zu behandeln. Das gelinge aber nur unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass »Recht« eben doch etwas Einheitliches sei. Günthers »Code« ist gehaltvoller als die bloße Unterscheidung von Recht und Unrecht. Man soll ihn sich als eine Art Metasprache vorstellen, die grundlegende Vorstellungen von Rechten und fairen Verfahren, von Sanktionen und Kompetenzen enthält, wie sie durch historische Erfahrungen geprägt wurden. Eine juristische Rechtsquellenlehre kann sich auf so vage Vorstellungen nicht einlassen. Sie beansprucht Geltung immer nur für ein Entscheidungssystem. Daran kann und will auch Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung als zirkulierendes Symbol nicht ändern.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.
2 S. 283.
3 Bei Fn. 8 unter Hinweis auf Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 12. Savignys Text ist in im Internet verfügbar: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10565865_00068.html.
4 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.
5 So ohne die Nachhilfe Luhmanns schon die erste Aufl. der Allg. Rechtslehre 1994. S. 238, 558f.
6 A. a. O. S. 22.
7 A.a.O. S. 17.
8 Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung http://www.jura.uni-frankfurt.de/42828668/BUKOWINA_DT.pdf, dort S. 13.
9 Klaus Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, FS Habermas, 2001, 539-567; ders., Legal Pluralism or Uniform Concept of Law. Globalisation as a Problem of Legal Theory, 2008, http://www.helsinki.fi/nofo/NoFo5Gunther.pdf; ders./Shalini Randeria, Recht, Kultur und Gesellschaft im Prozess der Globalisierung, 2001.

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Ebola und die Rationalität des Irrationalen

Auf der Suche nach Rechtssoziologie unter fremdem Namen lese ich gerade wieder ethnologische Literatur. Dort werde ich immer wieder fündig. So gibt es in Halle eine LOST-Research Group. LOST steht für Law, Organisation, Science and Technology. Thema ist die weltweite Diffusion [1]Diffusion ist für die Hallenser Ethnologen allerdings eher ein Unwort. Rottenburg hat über mehr als zehn Jahre eine Theorie der »Übersetzung« ausgearbeitet, über die ich vielleicht demnächst … Continue reading von Ideen und Artefakten, wissenschaftlich-technischen und juristisch-rganisatorischen Problemlösungen. Auf der Internetseite des Projekts liest man:

»The current research programme investigates the hypothesis that the global spread and increasing importance of the principle of equal rights simultaneously triggers two opposing developments: (1) the spread of techno-scientific and organizational solutions that reproduce tacit claims to universal objectivity, and (2) the spread of the right to self-determination that fosters various forms of relativism. The programme investigates the interactions and tensions between these opposing tendencies in different negotiations involving legal and scientific arguments.«

Konkreteres erfährt man dort allerdings nicht, und auch die Suche nach Publikationen aus dem Projekt war vergeblich. Immerhin ist aus dem Umfeld von Rottenburg gerade ein Sammelband erschienen, der mein Interesse geweckt hat [2]Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014.. Bei der dadurch veranlassten Lektüre der theoretischen Arbeiten Rottenburgs bin ich auf einen Satz gestoßen, der mir nicht aus dem Kopf will, nachdem ich in diesen Tagen von der Ebola-Epidemie in Westafrika lese und erfahre, auf welche durch traditionelle Bräuche und Überzeugungen bedingte Schwierigkeiten oder gar Abwehr die Bekämpfung der Seuche stößt.

»Die Ethnologie ist seit Beginn des 20ten Jahrhunderts mit der Herausforderung beschäftigt, fremde Kulturen zu analysieren und zu beschreiben, um sie gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität zu verteidigen.« [3]Richard Rottenburg, Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, … Continue reading

Auf der Ebene der Wissenschaftstheorie kommt man um die Anerkennung der Relativität von Realitäten nicht herum. Aber in der technischen und auch in der sozialen Welt gibt es harte Realitäten, deren Ausblendung durch indigene und neotraditionale Kulturen man wohl doch irrational nennen darf oder gar muss. Ethnologen, die prinzipiell fremde Kulturen gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität verteidigen wollen, haben da ein Problem.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Diffusion ist für die Hallenser Ethnologen allerdings eher ein Unwort. Rottenburg hat über mehr als zehn Jahre eine Theorie der »Übersetzung« ausgearbeitet, über die ich vielleicht demnächst noch berichten werde.
2 Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014.
3 Richard Rottenburg, Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, 153-174, S. 160.

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