Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung IV: Und wo bleibt Ostroms Frage?

Die interdisziplinäre Verwendung des Netzwerkskonzepts läuft Gefahr, mehr oder weniger selektiv auf typische Netzwerkeigenschaften zurückzugreifen und sie normativ aufzuladen. Die Variabilität real existierender Netzwerke ist aber so groß, dass die abstrakte Bezugnahme auf das Netzwerkkonzept leicht zur Ideologie gerät. Die Netze, um die es in der Rechtstheorie geht, sind immer heterarchisch. Sie sind locker und in Bewegung. Sie sind flexibel und produktiv. Sie sind in dem Sinne »more social« [1]Powell 1996, 219., dass sie »stärker auf Beziehungen, Ansehen und gegenseitige Interessen angewiesen und weniger durch formale Regeln bestimmt« sind als Organisationen. Diese und andere Eigenschaften von Netzwerken lassen nicht schon aus dem Netzwerkbegriff ableiten, sondern müssen in jedem Einzelfall erst empirisch nachgewiesen werden. Deshalb ist es gefährlich, von Netzwerken an sich zu sprechen.
Die wichtigste Eigenschaft, die Rechtstheoretiker den Netzwerken beilegen, ist Selbstorganisationsfähigkeit. Die Fragestellung ist nicht klar. Ist gemeint, dass Netzwerke sich intern selbst organisieren? Oder liefern sie auch einen Ordnungsüberschuss über die eigenen Grenzen hinaus? Solche Unklarheiten verbinden sich mit einem dicken Defizit. Nirgends finde ich in der postmodernen Rechtstheorie eine Auseinandersetzung mit Ostroms Frage: Warum ist Selbstorganisation in einigen Fällen erfolgreich und in anderen nicht? [2]Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen, 2011, S. 28.
Für die Rechtssoziologie ist es unbefriedigend zu wissen, dass unter bestimmten Bedingungen ein Netzwerk besser funktioniert als ein Unternehmen oder eine Behörde, wenn nicht gleichzeitig die Außenwirkung geklärt wird. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. liefert ein Beispiel für ein gut funktionierendes Netzwerk zur Abwehr des Atommüll-Lagers in Gorleben. Die Tatsache, dass hier die Selbstorganisation in einem Netzwerk erfolgreich war, kann kaum bedeuten, dass deshalb auch Ziele und Außenwirkung des Netzwerks akzeptabel sind. Immerhin entsteht aus der Distanz der Eindruck, dass in Gorleben Nimby gespielt wird.
Es muss nicht immer Nimby sein. Die Selbstorganisation durch Netzwerke schafft vermutlich viele schöne Inseln der Ordnung. Doch was ist mit dem Meer der Unordnung? Da kommt zur Landgewinnung ein deus ex machina. Das »Netzwerk der Netzwerke« wird die Inseln eindeichen.
Der langen Schreibe kurzer Sinn: Wer in interdisziplinärer Absicht von Netzwerken redet, sollte deutlich erkennen lassen, aus welchen Elementen mit welchen zwischen ihnen bestehenden Beziehungen sich diese zusammensetzen. Sonst gerät er in Verdacht der Reticulomanie.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Powell 1996, 219.
2 Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen, 2011, S. 28.

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