Globale Modernisierung: Die World Trade Organization wird zur World Tourism Organization

Gestern war ich in Münster, wo vor Gästen der Kolleg-Forschergruppe »Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« deren Fellow Professor Dr. Volker Schmidt (National University of Singapore, Department of Sociology) sein neues Buch »Global Modernity, A Conceptual Sketch« [1]Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S. zur Diskussion stellte. Vielleicht komme ich noch dazu, eine kleine Besprechung des Buches zu schreiben. Es ist eine Besprechung wert. Aber Rezensionen sind mühsam. Daher bringe ich heute nur einen Gedanken zu Papier, der mir gestern Abend (nach Weingenuss) durch den Kopf ging. Zuvor nur zwei Bemerkungen zu diesem Buch. Erstens: Die Forschergruppe hat die Modernisierungstheorie vor allem unter dem Gesichtspunkt einer »normativen Moderne« im Blick, den ihr Leiter, Thomas Gutmann, ausarbeitet. Zweitens: Schmidt entwickelt auf der Grundlage der Systemtheorie ein Konzept, das die dritte Phase der Modernisierung erfassen soll. In der ersten Phase lag der Schwerpunkt der Modernisierung in Europa, und hier am Ende in England. In der zweiten Phase verlagerte er sich in die USA. Noch immer sprechen Kritiker der Modernisierungstheorie von einem westlichen Modell. Sie haben – so Schmidt – noch nicht wahrgenommen, dass sich der Schwerpunkt der Entwicklung nach Asien verlagert hat und dass die Modernisierung zu einem definitiv globalen Prozess geworden ist. [2]Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ … Continue reading

Nun zu meinem Hirngespinst. Im Raum (ganz hinten in der Ecke) stand die These, dass Europa an Gewicht verliere, und auf die Frage, warum das so bedeutsam sei, erhielt ich zu Antwort, dass Europa dann etwa in der WTO an Verhandlungsmacht verliere und sich, wie heute die Entwicklungsländer, die Regeln des Welthandels aus anderen Regionen der Welt diktieren lassen müsse. Meine Überlegung dazu: Bis es soweit kommt, interessiert der Welthandel kaum noch. Eine Folge der unaufhaltsam fortschreitenden Modernisierung wird sein, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Regionen der Welt was ihre Versorgung mit materiellen Gütern betrifft, autark sein werden. Der Welthandel wird schrumpfen, denn Rohstoffe verlieren an Bedeutung. Öl, Kohle und Gas werden durch erneuerbare Energien ersetzt, die lokal gewonnen werden können. Andere Rohstoffe werden recycelt oder substituiert. Billigarbeitskräfte, die Hemden nähen und Handys zusammenbauen, wird es auf Dauer nirgends mehr geben. Die Produktion wird daher an den Ort des Verbrauchs zurückgeholt und dort weitgehend automatisiert. Landwirtschaftliche Produkte aller Art, soweit sie nicht gentechnisch den jeweiligen klimatischen Verhältnissen angepasst werden können, lassen sich nach holländischem Vorbild im Treibhaus ziehen. Wirtschaftliche Autarkie war immer wieder Traum der Politik. Die Modernisierung könnte aus dem Traum Wirklichkeit werden lassen – und aus der World Trade Organization wird dann vielleicht die World Tourism Organization [3]Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben..

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S.
2 Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ https://www.rsozblog.de/kritik-der-konvergenzthese-iii-eisenstadts-vielfalt-der-moderne/].
3 Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben.

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Isomorphie der Institutionen und die Entkoppelung von Recht und Realität

Um die Serie über die Modernisierungstheorie endlich mit der »Einfalt der Vielfalt« zu Ende zu bringen, brauche ich als Baustein noch die Weltkulturtheorie. Auf den ersten Blick liest sie sich wie eine Bestätigung der Konvergenztheorie. Auf den zweiten Blick sieht die Welt dann aber doch ganz anders aus.

Die »Isomorphie der Institutionen« ist ein Begriff aus der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie. Heute beobachtet man mehr oder weniger überall auf der Welt eine lange Reihe von rechtlich geprägten Institutionen, die einander mindestens der äußeren Form nach ähnlich sind. Die wichtigste Konvergenz dieser Art ist die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten nach dem zweiten Weltkrieg. Fast alle Staaten haben geschriebene Verfassungen[1] angenommen, politische Wahlen eingeführt, Parlamente installiert, die förmliche Gesetze erlassen, und offizielle Gerichte für die Entscheidung von Streitigkeiten eingerichtet. Mehr oder weniger überall gibt es Universitäten mit juristischen Fakultäten, eine Anwaltschaft, Gefängnisse und Polizei.

Diese Gleichförmigkeit hat fraglos etwas mit Modernisierung und Globalisierung zu tun. Für die genauere Bestimmung des Zusammenhangs sind verschiedene Erklärungen geläufig. Die schlichteste läuft auf bloße Nachahmung hinaus. Funktionale Erklärungen verstehen die jeweils gewählten institutionellen Arrangements als Lösung praktischer Probleme. Das ist wohl die heimliche Theorie der Entwicklungshilfe, wenn sie darauf abstellt, dass die rule of law notwendige Bedingung für wirtschaftlichen und humanitären Fortschritt sei. Es lässt sich auch (hoffentlich) nicht ganz ausschließen, dass westliche Ideen von Rechtsstaat und Demokratie, Bildung und Daseinsvorsorge auf Grund ihrer Überzeugungskraft gewirkt haben. In der Rechtssoziologie ist von imposition of law die Rede, wenn machtüberlegene Länder anderen ihr Rechtsmodell aufdrängen. Eine anspruchsvollere Theorie, die alle diese Erklärungen bis zu einem gewissen Grade in sich aufnehmen kann, bietet die Meyer-Schule in Stanford. Sie erklärt die weltweite Gleichförmigkeit der Institutionen nicht primär aus Diffusions-, Planungs- oder Nachahmungsprozessen, sondern aus einer vorgängigen globalen Weltkultur (world polity), welche die institutionelle Umgebung aller Akteure, seien sie Individuen, Organisationen oder Staaten, prägt.

Der Forschergruppe des »Stanford Center for Research in Development in Teaching« um John W. Meyer war aufgefallen, dass Bildungseinrichtungen – gegliederte Schulsysteme, Universitäten, typisierte Abschlüsse usw. – sich jedenfalls äußerlich weltweit ähnlich geworden waren. Auf der Suche nach einer Erklärung stellten sie zunächst fest, dass Organisationen – und zwar nicht nur Schulen und Universitäten – in ihrer konkreten Ausgestaltung den Anforderungen ihrer institutionellen Umgebung folgen, um sich damit Legitimität und Ressourcen zu verschaffen. Die institutionelle Umgebung von Organisationen besteht aus verfestigten Komplexen von Normen, Erwartungen und Leitbildern. Eine Schule, als Organisation betrachtet, entspricht also dem, was man allgemein von einer Schule erwartet und was überwiegend auch in Gesetzen festgeschrieben ist. Das ist an sich beinahe trivial. Neu war aber die These, mit der die Ähnlichkeit von Institutionen über Ländergrenzen hinweg erklärt wurde, die These nämlich, dass die institutionelle Umgebung von Organisationen von einer einheitlichen world polity geprägt werde. Kern dieser Weltkultur ist instrumentelle Rationalität, »die Strukturierung des täglichen Lebens entlang von standardisierten unpersönlichen Regeln, die die soziale Ordnung auf unpersönliche Zwecke hin ausrichten. Im Zuge von Rationalisierungsprozessen konstituiert sich Autorität ausdrücklich als formale und zunehmend bürokratisierte Rechtsordnung; Tauschprozesse richten sich an Regeln der rationalen Kalkulation und Buchführung sowie an Regeln zur Konstitution von Märkten aus und beinhalten weitergehende Prozesse wie Monetarisierung, Kommerzialisierung und bürokratische Planung.«[2]. Im Ursprung ist die globale Weltkultur aber religiösen, und hier wiederum vornehmlich christlichen Ursprungs.

Die institutionellen Regeln, die diese Rationalisierung vorantreiben, »liegen auf einer sehr allgemeinen (jetzt oft globalen) Ebene …«. Sie leiten sich aus einer »herrschenden universalistischen historischen Kultur« ab. Aus den »transzendenten Gottheiten (Jehova, Gott, Allah)« sind »transzendentale Begriffe« geworden: Gleichheit, Freiheit, Rechte, Fortschritt. Sie gelten in jeder modernen oder sich modernisierenden Gesellschaft mit der Folge, »dass die konkreten institutionellen Ziele und Definitionen in der Praxis fast überall auffallend ähnlich sind« … »Zum Beispiel pflegen Lehrer unterschiedliche Unterrichtsstile, Unternehmen unterschiedliche Managementmethoden und staatliche Regime unterschiedliche ideologische Standpunkte – aber alles innerhalb der konstitutiven Festlegung dessen, was ein Lehrer, ein Wirtschaftsunternehmen oder ein Nationalstaat überhaupt ist.«.

Bezogen auf den Nationalstaat heißt es etwa:

»Nationalstaaten sind das Produkt von außen kommender, universalistischer und rationalisierter kultureller Modelle und werden von diesen als letztlich ähnliche Akteure konstituiert und konstruiert. Dies führt zu einem hohen Grad an Isomorphie und isomorphem Wandel zwischen Nationalstaaten, ebenso wie zu einem hohen Grad von Diffusion zwischen verschiedenen Nationalstaaten einerseits und zwischen den Zentren des globalen Diskurses und einzelnen Nationalstaaten andererseits.« (Meyer 2005, 158f.)

Im Detail ist die Herleitung der world polity natürlich viel komplexer. Darauf und damit auch auf Zustimmung oder Ablehnung will ich mich hier nicht einlassen. Unbestreitbar scheint jedenfalls die weltweit zu beobachtende Isomorphie der Institutionen zu sein. Gäbe es noch eine unberührte Insel – so Meyer – , dann würden die internationalen Organisationen von den Vereinten Nationen bis Attac, von der Weltbank bis Greenpeace sie schnell in einen Nationalstaat mit Gewaltenteilung, Behörden und Instanzen, Minderheitenschutz, Schulen und Religionsfreiheit verwandeln. Wer Mitglied der UNO werden und an der Entwicklungshilfe der Weltbank und anderer Einrichtungen teilhaben will, kann dies nur als Nationalstaat tun mit einer Regierung an der Spitze, die in ihrer Organisation die westlichen Bürokratiemuster spiegelt. Der Staat muss mindestens pro forma Resolutionen und Leitlinien zu Menschenrechten oder Umweltschutz usw. akzeptieren. Ein Heer von Beratern, »interesselosen« Wissenschaftlern und Experten, IGOs und INGOs tritt in Aktion und sorgt für die Diffusion westlicher Normen und Institutionen.

Für die Rechtssoziologie ist besonders ein dritter Argumentationsstrang interessant, der 1977 von Meyer und Rowan eingeführt worden ist. Ihre These war, dass Organisationen aller Art sich nach außen formal und rational geben, dass sie intern aber nicht, wie es das Gebot der Rationalität eigentlich fordert, bürokratisch mit Weisung und Kontrolle arbeiten, sondern sich von der Formalität abkoppeln (decoupling) und mit informellen Vertrauensbeziehungen arbeiten. Isomorphie der Institutionen heißt deshalb nicht, dass die Organisationen überall gleich sind, sondern dass sie äußerlich einem übergeordneten Rationalitätsimperativ entsprechen. Dieses Formalitätsgebot sei der Mythos, der den Organisationen helfe, in ihrer Umgebung zu überleben, indem er ihnen Legitimität verschaffe und zu Ressourcen verhelfe.

Die Differenz zwischen der formalen Struktur von Organisationen und ihrem praktischen Funktionieren ist ein alter Hut der Organisationsforschung. Auch die Idee, dass Organisationen sich unter gleichen Umweltbedingungen einander angleichen, war in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie nicht neu. Neu war aber die Verortung dieser Umweltbedingungen auf der abgehobenen Ebene der world polity und damit verbunden die Radikalisierung der Differenz zwischen Formalstruktur und Realität von Institutionen: Bis zu einem gewissen Grade ist die globale Isomorphie bloßer Schein. Staaten und Institutionen passen sich äußerlich den globalen »Vorgaben« an, setzen sie aber nur formal oder symbolisch um und füllen sie mit eigenen Inhalten. Oft besteht nur eine sehr äußerliche Ähnlichkeit der Institutionen, die tatsächlich von Land zu Land und teilweise von Ort zu Ort ganz unterschiedlich funktionieren. Historisch betrachtet sind sich die Länder der Welt ähnlicher geworden, und zwar die Rechtssysteme sogar noch stärker als die Kulturen. Diese Konvergenz bedeutet aber keine Homogenität. Homogenität scheitert an der Differenz zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit, die überall unterschiedlich ausfällt, und an der kulturellen Färbung, die die Institutionen in ihrer Umgebung jeweils annehmen.

Literatur: John W. Meyer u. a., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, 2005 (Übersetzung von acht Aufsätzen von Meyer und Koautoren, die zwischen 1997 und 2001 veröffentlicht wurden; eine Rezension des Bandes von Michael Hölscher in der Online-Zeitschrift H-Soz-u-Kult 19. 5. 2006); John W. Meyer/John Boli-Bennett/Chase-Dunn Christopher, Convergence and Divergence in Development, Annual Review of Sociology 1, 1975, 223-246. John W. Meyer/Brian Rowan, Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony, American Journal of Sociology 83, 1977, 340-363.


[1] Zur globalen Konvergenz von Verfassungen David S. Law/Mila Versteeg, The Evolution and Ideology of Global Constitutionalism, 2010, http://ssrn.com/abstract=1643628, auch in California Law Review, Vol. 99, 2011,1163-1253. Die Autoren versuchen ein Ranking aller erreichbaren Verfassungen, allerdings nur unter dem Aspekt subjektiver Individualrechte.

[2] Zitate aus John W. Meyer u. a., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, 2005, S. 32, 34, 37, 40.

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Kritik der Konvergenzthese V: Kampf der Kulturen?

Als Gegenreaktion hat der globale Prozess der Verbreitung von Kultur die Sorge um kulturelle Identitäten, Diversität und Einmaligkeit hervorgerufen. Man befürchtet, dass die exzessive Kommunikation fremder kultureller Produkte eine einheimische Kultur beschädigen oder gar zerstören könne. Manche Beobachter zeichnen das Bild der kulturellen Konvergenz daher nicht als wechselseitige Bereicherung, sondern stellen sich die Welt als kulturelles Schlachtfeld vor. Unter der Überschrift »The Clash of Civilizations« hat Samuel P. Huntington (1993) die These vertreten, in der Welt von morgen würden Konflikte zwar nicht länger aus konkurrierenden politischen Ideen oder wirtschaftlichen Rivalitäten entstehen.[1] Dafür werde es aber zum Zusammenstoß von Zivilisationen kommen, in erster Linie wohl zwischen der europäisch orientierten Industriegesellschaft und den verschiedenen nicht westlichen Zivilisationen.

Huntington unterscheidet sechs große Zivilisationen, die ihrerseits in zahlreiche lokale Kulturen untergliedert sind, den Westen, den Islam, den Konfuzianismus, den Hinduismus, die slawisch-orthodoxe Welt, die japanische Zivilisation und den Latinoamerikanismus. Er lässt offen, ob auch Afrika als Zivilisation in diesem Sinne gelten kann. Der Kalte Krieg werde durch eine neue Form des internationalen Konflikts abgelöst, weil das Bewusstsein der Menschen, einer bestimmten Zivilisation zuzugehören, wachse oder wiedererwache und sie von anderen Zivilisationen abgrenze.

Huntington ist von der Kritik behandelt worden, als hätte er etwas Unanständiges gesagt. Ich halte mich daher an Tenbruck, wenn er der »allseitigen Öffnung, Durchdringung und Vermischung der Kulturen«, die durch die »globale Präsens der Massenmedien in neue Dimensionen« hineingetrieben werde, ein neuartiges Konfliktpotential zuschreibt:

»Das ergibt im Dauereffekt nicht ein ›Kulturkonzert‹ mit Austausch, Bereicherung und Befruchtung auf Gegenseitigkeit, sondern eine Konfrontation, welche den Fortbestand der einzelnen Kulturen in ihrer selbständigen Individualität und Lebendigkeit bedroht. Eine nüchterne Betrachtung der Lage lehrt, daß hier mit verschiedensten kulturellen Kolonialisierungen, Selbstbehauptungsbewegungen, Deklassierungen zu Subkulturen wie auch mit dem Sprachverlust, der Einschmelzung, ja dem Ende von Kulturen gerechnet werden muß. Neu daran aber ist, daß all dies ohne Eroberung vor sich geht wie ein globaler Kulturkampf, dessen Träger und deren Ziele kaum zu erfassen sind. Hier vollzieht sich Geschichte in einer neuen Form, für die uns noch die Kategorien fehlen. Doch eines ist sicher: daß darin nur einige Kulturen und Kulturmuster sich behaupten werden.«[2]

Die Konflikthaftigkeit des Modernisierungsprozesses ist nicht zu übersehen. Konsequente Anhänger der Theorie führen sie jedoch nicht in erster Linie auf religiöse und kulturelle Differenzen zurück, sondern auf die Ungleichheiten, die die Modernisierung durch das unterschiedliche Tempo in den verschiedenen Ländern hat aufbrechen lassen.[3] Danach sind die aktuellen Proteste gegen Mohammed-Videos oder Karikaturen nicht in erster Linie als religiöser oder kultureller Konflikt, sondern als Auflehnung der Modernisierungsverlierer zu interpretieren.

 


[1] Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, Foreign Affairs 72, 1993, 22-49.

[2] A. a. O. Fn. 1027, S. 14, ausführlicher noch S. 30f.

[3] Wolfgang Zapf, Modernisierungstheorie – und die nicht-westliche Welt, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 227-235, S. 234; Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 214.

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Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«

Vorbemerkung: Herr Boulanger hat in seinem Kommentar zum Posting vom 18. September über »Konvergenz als Ende der Geschichte« darauf aufmerksam gemacht, dass auf Sozblog der (deutsche) Soziologe Volker H. Schmidt aus Singapur gerade eine Beitragsserie zum Modernisierungsthema schreibt. Die war mir bisher entgangen, und da ich verreist war, habe ich Schmidts Beiträge erst heute gelesen. Sie sind lesenswert und wichtig, denn sie bieten eine Fortschreibung der Modernisierungstheorie, die deutlich über das hinausgeht, was etwa Wolfgang Zapf oder David E. Apter angeboten haben und die ich selbst nicht leisten kann. Ich hatte immerhin Schmidts Aufsatz über »Die ostasiatische Moderne« (Berliner Journal für Soziologie 20, 2010, 123-152) gefunden. Er hat mir sehr geholfen, als ich in den letzten Monaten mit einem Festschriftbeitrag über »Entwicklungshilfe durch Recht und die Konvergenzthese« befasst war. Ich hätte natürlich gleich auf Schmidts Webseite gehen und nach weiteren einschlägigen Arbeiten fahnden sollen. Das habe ich versäumt, bis ich heute seine Postings auf Sozblog las. Ich bin ein bißchen in Eile, weil ich mit meiner Beitragsreihe zur Modernisierung noch bis zum Soziologentag in Bochum am 1. Oktober bei der »Einfalt der Vielfalt« ankommen möchte. Deshalb in diesem Monat die schnelle Folge der Beiträge, die ich teilweise schon auf Vorrat geschrieben hatte und die WordPress zu vorbestimmten Terminen dann automatisch veröffentlicht hat. Auch der heutige Beitrag ist schon länger fertig. Ich habe ihn nicht mehr verändert, obwohl Schmidt dazu allerhand Wichtiges gesagt hat. Immerhin liege ich wohl ziemlich genau auf seiner Linie, wozu sein Aufsatz über »Die ostasiatische Moderne« entscheidend beigetragen hat.

Die Berücksichtigung der Pfadabhängigkeit führt zu einer Verfeinerung der Modernisierungstheorie, lässt deren zentrale Aussage aber unberührt. Dagegen wird das Konzept der multiplen Modernen von Shmuel N. Eisenstadt von vielen so verstanden, als rühre es an die Substanz der Modernisierungstheorie.

»Im Gegensatz zur Ansicht, moderne Gesellschaften seien der natürliche Endpunkt der bisherigen Evolution menschlicher Gesellschaft, geht diese Sicht davon aus, dass die Moderne eine im Westen entstandene Zivilisation ist, die sich zum Teil analog zu der Kristallisierung und Expansion der großen Religionen — Christentum, Islam, Buddhismus, Konfuzianismus – in der ganzen Welt ausgebreitet hat. Die zweite Annahme multipler Modernen ist, dass diese Zivilisation, mit ihrem spezifischen kulturellen Programm und seinen institutionellen Auswirkungen sich ständig verändernde kulturelle und institutionelle Muster hervorgebracht hat, die unterschiedliche Reaktionen auf die Herausforderungen und Möglichkeiten, die in den Kernmerkmalen moderner zivilisatorischer Prämissen enthalten sind, darstellen. Mit anderen Worten, die Expansion der Moderne brachte keine uniforme und homogene Zivilisation hervor, sondern, in der Tat, multiple Modernen.« (Eisenstadt 2006:37)

Eisenstadt geht zwar davon aus, dass es sozusagen einen Kern der Moderne gibt, der aber unterschiedliche Ausprägungen findet, die nicht bloß als Varianten einer zielgerichteten Entwicklung verstanden werden dürfen, sondern jeweils eigenständige Gesellschaftsformationen bilden. Die Basis der Moderne verlegt Eisenstadt in die (von Karl Jaspers so getaufte) Achsenzeit, also in die Zeit von 800 bis 200 v. Chr., in der mythische Kulturen durch abstrakt-transzendente Religionen abgelöst wurden und in der sich die vier großen Kulturkreise gebildet haben, die bis heute die Welt prägen, die griechisch-römische Antike, das Judentum, der Buddhismus und der Konfuzianismus. Eisenstadt dehnt die Achsenzeit noch auf die Entstehung des Islam aus und bedenkt die japanische als eine Kultur ohne ausgeprägte transzendente Konzeption. Das führt zu einer Betonung der Nachwirkung dieser Kulturkreise auch für den Modernisierungsprozess.

Mit diesem Modell hat Eisenstadt viel Zustimmung erfahren. Das Problem liegt darin, dass das, was Eisenstadt selbst als »Kern der Moderne« bezeichnet, verschwommen bleibt.

Stichworte aus Eisenstadt 2006:»Anerkennung der Möglichkeit …, zwischen mannigfaltigen, über festgelegte und askriptive hinausgehende Rollen« zu wählen und »Teil umfassender translokaler, womöglich auch sich wandelnder Gemeinschaften zu sein« (S. 38f.); Reflexivität und Autonomie. Größeren Wert legt Eisenstadt auf die mit der Moderne verbundenen »Spannungen« (Suche nach Wiederherstellung von Gewissheit, Spannung zwischen »Kontrolle und Autonomie, oder Disziplin und Freiheit« (S. 39), Zweckrationalität und Wertrationalität (S. 40), zwischen »absolutierenden« und pluralistischen Tendenzen (S. 40).»Verlust der Grundlagen aller Gewissheit und die Suche nach ihrer Wiederherstellung« (S. 39), »zentrale Rolle des Politischen« (S. 42), »Nationalstaaten und revolutionäre Staaten als charismatische Träger des Leitbildes der Modernität« (S. 51), »Anerkennung der Möglichkeit …, zwischen mannigfaltigen, über festgelegte und askriptive hinausgehende Rollen« zu wählen und »Teil umfassender translokaler, womöglich auch sich wandelnder Gemeinschaften zu sein« (S. 38f.)

Mit Blick auf die Globalisierung charakterisiert Eisenstadt die »klassische Epoche der Moderne« auf eine Art, dass man ihn für einen Anhänger der Modernisierungstheorie halten könnte:

»… vier unterschiedliche Prozesse: erstens, weitreichende, mit der Entwicklung neuer Technologien und der Herausbildung neuer Muster der politischen Ökonomie eng verbundene strukturelle Transformationen hin zur Wissens- und Informationsgesellschaft … ; zweitens, gleichzeitige umfangreiche Veränderungen der allgemeinen sozialen Strukturen sowie der Klassen- und Statusbeziehungen; drittens, kontinuierliche Demokratisierungstendenzen auf der gesamten Welt …; viertens, ein umfassender ideologischer und kultureller Wandel.« (S. 46.)

Was Eisenstadt als »Kern der Moderne« bezeichnet lässt sich nicht empirisch festmachen, ebenso wenig wird die Qualität der Varianten deutlich formuliert. Deshalb fällt es leicht, überall Variation, Differenz oder gar Divergenz zu finden. Eisenstadts Paradebeispiel für eine eigenständige Variation der Modernität ist das moderne Japan.[1] Wenn man sich auf operationalisierbare Parameter festlegt, mit denen Modernisierung gemessen wird[2], so entspricht die Entwicklung Japans, und auch die der asiatischen Tigerstaaten, sehr genau den Prognosen der Modernisierungstheorie. Das hat kürzlich Volker H. Schmidt vorgerechnet.[3]

Wenig überzeugend ist auch die Auszeichnung fundamentalistischer Bewegungen als Variante der Moderne, weil sie insofern modern sind, als sie antimoderne Ideen verkünden.[4] Eisenstadt betont, dass sie »die Grundthematik der Moderne« nicht verlassen. Er bescheinigt ihnen, sie seien »zutiefst reflexiv«  und »sich dessen bewusst, dass es keine definitiven Antwort auf die Spannungen der Moderne gibt, selbst wenn jede auf ihre Art eindeutige, unbestreitbare Antworten auf die unlösbaren Dilemmas der Moderne anzubieten versucht.« (2006:59) So zeigen sich im Prozess der Globalisierung für Eisenstadt vielfältige Reaktionen auf die »Grundantinomien des modernen Programms«. Ich werde sie gleich noch als Rückkopplungsschleifen einordnen. Der andauernden Schubkraft dieses Programms tun sie keinen Abbruch.

Eisenstadt stellt auch die Interdependenzbehauptung der Modernisierungstheorie in Frage, denn »in allen oder fast allen Gesellschaften zeigen die verschiedenen institutionellen Sphären – Wirtschaft, Politik, Familie – stets relativ voneinander unabhängige Merkmale«.[5] Richtig ist sicher, dass die Institutionen eines jeden Landes – außer den genannten auch Recht und Religion, Bildungssektor und Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und soziale Sicherung – nicht nur in ihrer je einzelnen Ausprägung, zu spezifischen Paketen »verschnürt« sind, die dem Lauf der Modernisierung jeweils Tempo und Richtung vorgeben.[6] Doch eben darin besteht die Pfadabhängigkeit der Entwicklung. Das Interdependenztheorem behauptet nicht mehr, als dass alle Institutionen der Gesellschaft vom Modernisierungsprozess affiziert werden. Es behauptet keinen Gleichschritt und keine Homogenisierung. Eisenstadts Vielfaltsthese ist letztlich nur eine emphatische Ausarbeitung des Theorems von der Pfadabhängigkeit der Entwicklung.

Die große Zustimmung, die Eisenstadt gefunden hat[7], dürfte darauf beruhen, dass er die Modernisierung aus der Verklammerung mit einer amerikanischen Leitkultur befreit, ohne einen global wirksamen Modernisierungstrend in Abrede zu stellen. Damit hat er mehr zur Stützung der Modernisierungstheorie beigetragen, als zu ihrer Überwindung.

Literatur: Shmuel N. Eisenstadt, Comparative Civilizations and Multiple Modernities, Leiden 2003 (Aufsatzsammlung, darin »Multiple Modernities in an Age of Globalization« von 1999 sowie »Multiple Modernities« von 2000); ders., Multiple Modernen im Zeitalter der Globalisierung, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 37-61; ders., Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011; Volker H. Schmidt, Die ostasiatische Moderne – eine Moderne ›eigener‹ Art?, Berliner Journal für Soziologie 20, 2010, 123-152; Thomas Schwinn, Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen, Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, 454-476.



[1] Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, Kap. 3, S. 110ff.

[2] Als solche werden genannt und in verschiedenen Reports gemessen: Bruttosozialprodukt je Einwohner, relativer Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, Urbanisierung, Anstieg der Lebenserwartung, höhere Bildungsbeteiligung, höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, Abnahme der Kinderzahl und Verkleinerung der Familie, Freiheitlichkeit, Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit, Effektivität des Regierungshandelns und Korruptionskontrolle, Infrastruktur und Innovationsfähigkeit.

[3] Volker H. Schmidt, Die ostasiatische Moderne – eine Moderne ›eigener‹ Art?, Berliner Journal für Soziologie 20, 2010, 123-152.

[4] Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, Kap. 4, S. 174ff.

[5] Die Vielfalt der Moderne, 3. Aufl., 2011, S. 11.

[6] Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 207.

[7] Zur Kritik etwa Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225.


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Kritik der Konvergenzthese II: Pfadabhängigkeit der Modernisierung

Das Konzept der Pfadabhängigkeit wendet sich nicht direkt gegen die Modernisierungstheorie, leistet aber eine gerne akzeptierte Differenzierung. Die Pfadabhängigkeit begründet einen gewissen Widerstand gegen die Konvergenz gesellschaftlichen Wandels. Sie bewirkt, dass Wirtschaftsverfassung und Demokratie, Rechts- und Sozialstaat, Familie und Kultur je nach den historischen und situativen Gegebenheiten unterschiedlichen »Pfaden« folgen und sich variantenreich entwickeln können.

Das Konzept der Pfadabängigkeit kommt aus der Wirtschaftswissenschaft, wo aufgefallenen war, dass sich von mehreren Alternativen nicht immer die effizientesten durchsetzen. Der Gedanke wurde populär, nachdem Paul A. David ihn dazu nutzte, um am Beispiel der Qwerty-Tastatur zu zeigen, warum eine Technologie auch dann noch langfristig überleben kann, wenn der für ihre Entwicklung verantwortliche Grund längst weggefallen ist, so dass sich eigentlich unter Effizienzgesichtspunkten eine verfügbare bessere Technologie durchsetzen müsste. Später machte Douglass North (1990) Pfadabhängigkeiten zur Grundlage für eine Theorie des institutionellen Wandels.

Grob gesprochen geht es bei der Pfadabhängigkeit darum, dass historisch gegebene Situationsbedingungen Einfluss darauf haben, wie sich aus einem neuen Impuls etwas entwickelt, kurz gesagt: Geschichte bleibt wichtig (»history matters«). Gemeint ist nicht nur die politische Geschichte, sondern Geschichte in einem umfassenderen Sinn, so dass man sagen muss, auch »culture matters« und religion matters«. Die Pfadabhängigkeit begründet einen gewissen Widerstand gegen Wandlungsprozesse überhaupt, so dass manchmal von einem »institutional lock-in« die Rede ist. Die Übernahme des Konzepts in die Soziologie hat wohl zu einer Pfadabhängigkeit im soziologischen Denken geführt derart, dass es die gesellschaftlichen Beharrungstendenzen im Allgemeinen überschätzt (Werle S. 129). olitische Geschichte, sondern Geschichte in einem umfassenderen Sinn, so dass man sagen muss, auch »culture matters« und religion matters«. Die Pfadabhängigkeit begründet einen gewissen Widerstand gegen Wandlungsprozesse überhaupt, so dass manchmal von einem »institutional lock-in« die Rede ist. Die Übernahme des Konzepts in die Soziologie hat wohl zu einer Pfadabhängigkeit im soziologischen Denken geführt derart, dass es die gesellschaftlichen Beharrungstendenzen im Allgemeinen überschätzt (Werle S. 129).

Literatur: Jürgen Beyer, Pfadabhängigkeit ist nicht gleich Pfadabhängigkeit, 34, 2005, 5–21; Paul A. David, Clio and the Economics of QWERTY, The American Economic Review 75, 1985, 332-337; Raymund Werle, Pfadabhängigkeit, in: Arthur Benz u. a. (Hg.), Handbuch Governance, Wiesbaden 2007, 119-131.

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Konvergenz als »Ende der Geschichte«

Den wackeligen Gipfel der Konvergenztheorie bildet die These vom Ende der Geschichte.

Schon 1974 hatte Arnold Gehlen in einem Aufsatz über das »Ende der Geschichte« geschrieben: »Der alte, überspannte, großherzige Utopismus mit seiner Opferbereitschaft für nichtprofitable Zwecke verschwindet«. Damit schicke sich die Großgeschichte an abzuziehen. Der Mensch werde sich damit abfinden, dass er seine Grundsituation festgelegt vorfinde. Diese Beschränkung werde ihm durch die »Gratifikation des Dogmatismus« entgolten, die er genießen könne, wenn die meisten Probleme vorentschieden und die Handlungsziele definiert seien. Doch nach dem Ende der Geschichte und des Fortschritts gelte es, »die Wirklichkeit der offensichtlich empörenden Not anzugreifen – das wäre Fortschritt«.

1989 erregte Francis Fukuyama, ein Beamter im amerikanischen Außenministerium, großes Aufsehen mit der These, die Geschichte nähere sich ihrem Ende, wir seien Zeugen nicht bloß der Reformpolitik eines Michail Gorbatschow, des Endes des Kalten Krieges oder einer besonderen Epoche der Nachkriegsgeschichte, wir erlebten vielmehr das Ende der Geschichte schlechthin, denn die Evolution der politischen Ideologien habe mit weltweiter Ausbreitung der liberalen Demokratie westlichen Musters ihr Endstadium erreicht. Dagegen stand und steht die Auffassung, dass sich insbesondere die Staaten Ostasiens aufgrund ihrer einzigartigen kulturellen Traditionen für eine Demokratie westlichen Musters auf Dauer als unzugänglich erweisen würden. Auch wenn diese Staaten sich die technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften des Westens zum Vorbild genommen und zu ihrer Durchsetzung viele der institutionellen Arrangements kopiert hätten, so füllten sie diese Institutionen doch mit anderem Inhalt. An die Stelle der liberalen Demokratie des Westens trete eine »asiatische Demokratie«, als deren Kennzeichen der Vorrang personenbezogener Loyalitäten vor Institutionen und Gesetzen, der Respekt vor Autorität und Hierarchien, von einer übermächtigen, konservativen Partei dominierte Parteiensysteme und ein starker, in wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe intervenierende Staat genannt werden.[1] Andere halten jedoch die Berufung auf »asiatische Werte« für einen »Versuch des konservativen und autoritären politischen Establishments …, durch einen konservativen Wertediskurs die Kontrolle über Gesellschaft und Politik zurück zu gewinnen«[2]. Ähnliche Argumente liegen für die Ausbreitung der Demokratie in der Islamischen Welt nahe. Über 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks, nach islamischen Aufbruch und Arabellion ergibt sich immer noch kein einheitliches Bild.

Aus der Sicht der Modernisierungstheorie bedeutet Konvergenz nicht das Verschwinden von Konflikten und damit das Ende der Geschichte, denn Modernisierung ist ein Prozess, der vielleicht alte Probleme überwindet, aber dafür neue aufwirft und damit auch neue Konfliktfronten aufreißt. Die Geschichte ist noch immer für Überraschungen gut. Wirtschaftskrisen, Terrorismus und technischer Wandel, Klimaveränderungen und Kriege bringen den geordneten Verlauf der Dinge immer wieder durcheinander.

Nichtsdestoweniger ist die Geschichte in einem anderen Sinn zu einem Ende gekommen. Bis in das 20 Jahrhundert konnten wir erwarten, tatsächlich noch etwas Neues zu entdecken, eine neue Kultur, eine neue Gesellschaft oder gar eine neue, bislang unbekannte Rechtskultur. Globalisierung heißt insofern, dass nichts mehr zu entdecken bleibt. Auf der Karte der Gesellschaften finden sich keine weißen Flecken mehr. Der Globus ist zur geschlossenen Gesellschaft geworden. Allenfalls könnten wir unsere Phantasie anspannen, um uns außerirdische Gesellschaften vorzustellen, aber nur in der Rolle eines Filmproduzenten oder -betrachters, nicht als Rechtssoziologen. Die Weltgesellschaft ist die einzige Gesellschaft ohne soziale Umwelt. Das hat Folgen, die auf den ersten Blick widersprüchlich wirken. Auf der einen Seite beginnen Konzepte mit universellem Anspruch wie die Idee der rule of law oder der Menschenrechte die globale Gesellschaft zu uniformieren. Auf der anderen Seite provoziert die Abwesenheit einer äußeren Umwelt die Weltgesellschaft, durch Differenzierung in neue Subsysteme ihre eigene, innere Umwelt hervorzubringen, als Ersatz oder neben der existierenden Substruktur aus Nationen.

Literatur: Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Europäische Rundschau, 1989, Nr. 4, 3-25 (Original in: The National Interest, Summer 1989); Arnold Gehlen, Ende der Geschichte? Zur Lage des Menschen im Posthistoire, in: Oskar Schatz (Hg.): Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker, 1974, 61-75 = Gehlen, Einblicke, 1975, 115-133; Friedrich H. Tenbruck, Der Traum der säkularen Ökumene. Sinn und Grenze der Entwicklungsvision, Annali di Socologia/Soziologisches Jahrbuch 3, 1987, 11-36.



[1] Clark D. Neher, Asian Style Democracy, Asian Survey (Berkeley) 34, 1994, 949-961.

[2] Thomas Meyer, Theorie der sozialen Demokratie, Wiesbaden 2005, S. 459.

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Konvergenz der Ethnien und Rassen

Über Rassen redet man in Deutschland nicht mehr gerne. Aber es ist unübersehbar, dass es unterschiedliche Rassen gibt, und die Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer Rasse ist ein großes Thema des Rechts und der Rechtssoziologie. Es ist nur daran zu erinnern, dass es in historischer Zeit Rechtsnormen gab, die eine Heirat oder auch nur den Geschlechtsverkehr zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen untersagten. Das Verbot »rassischer Mischehen« durch die Nürnberger Gesetze von 1935 wird man nicht vergessen. In den Südstaaten der USA wurden Gesetze, die eine Verbindung zwischen Schwarz und Weiß verboten, erst 1967 endgültig aufgehoben. 2010 erhielt die Rechtshistorikerin Peggy Pascoe von der Law and Society Association den James Willard Hurst Prize in Legal History für ihr Buch »What Comes Naturally: Miscegenation Law and the Making of Race in America« (2009), in dem sie 300 Jahre Rechtsgeschichte daraufhin durchmustert, wie das Recht die Vorstellungen der Menschen darüber beeinflusst hat, was »natürlich« ist.

Es braucht keine Wissenschaft für die Vermutung, dass sich im Zuge der Globalisierung Ethnien und Rassen auch biologisch vermischen. Wieweit dieser Prozess schon vorangeschritten ist und wieweit er am Ende reichen wird, kann hier nicht erörtert werden. Als Beispiel sehe man sich die Zusammensetzung der Bevölkerung von Belize (des früheren Britsch-Honduras) an. Von den 313.000 Einwohnern (2010) sind fast die Häfte Mestizen und über 25 % Kreolen. Auch die 9 % Garifuna sind aus der Verschmelzung verschiedner Rassen entstanden.

Es fehlt handfeste Forschung zu der Frage, ob und wieweit die Globalisierung zu einer Konvergenz von Rassen und Ethnien führt. Die Fragestellung ist tabuisiert, weil mit ihr der Begriff des Schmelztiegels und damit Harmonievorstellungen assoziiert werden, von denen man befürchtet, dass sie soziale und kulturelle Heterogenität und damit verbundene Diskriminierungen auf eine biologische Ebene verdrängt.

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Modernisierung durch Recht: Konvergenz der Kulturen I

Inglehart und der World Value Survey

Mit der Modernisierung geht ein Wertewandel einher. Ronald Inglehart hat mit dem World Value Survey in Instrument zur global vergleichenden Messung kultureller Einstellungen entwickelt, das davon ausgeht, dass der Prozess der sozialen und ökonomischen Entwicklung, die als Modernisierung geläufig ist, zu einer kulturellen Konvergenz führt. Dazu ordnet er alle Länder in einer Vierfeldertafel, die auf der Hochachse unten traditionelle Werte und oben säkular-rationale Werte anzeigt, während auf der horizontalen Achse links Überlebenswerte (survival values) und rechts Selbstenfaltungsungswerte (self-expression-values notiert werden. Die Hochachse markiert den Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft, die Längsachse soll dem Übergang von der Industriegesellschaft zur postmodernen Gesellschaft Rechnung tragen, der durch die Verlagerung des Wertehorizonts von materialistischen zu postmaterialistischen Werten gekennzeichnet sei. Seit 1981 wurden für den World Value Survey bisher fünf Befragungswellen abgeschlossen.

Ronald Inglehart/Christian Welzel, Changing Mass Priorities: The Link Between Modernization and Democracy.  Perspectives on Politics 8, 2010, 554-56.

Pippa Norris und Ronald Inglehart sind in ihrem Buch »Cosmopolitan Communications. Cultural Diversity in a Globalized World« (das im Volltext im Internet zur Verfügung steht), der These nachgegangen, dass die Globalisierung der Massenkommunikation letztlich zur kulturellen Konvergenz führen werde. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass noch in vielen Regionen Gesellschaften verbleiben, die nicht über den vollen Zugang zu den Medien verfügen, und dass es auch auf individueller Ebene Barrieren gibt, aus den Medien neue Werte und Verhaltensweisen zu lernen. Die Bedrohung der kulturellen Diversität durch die Massenmedien werde daher oft übertrieben. Aber das würde bedeuten, dass auf lange Sicht eben doch eine weitere Konvergenz zu erwarten wäre.

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Modernisierung durch Recht: Die Konvergenzthese II

Selbstverstärkung der Modernisierung durch Rechenhaftigkeit und Ranking

Die Modernisierung wird von Rationalität und Effizienzstreben angetrieben. Die von der Wirtschaft ausgehende Effizienzorientierung erreicht heute mehr oder weniger alle Bereiche der Gesellschaft. Viele Ursachen kommen hier zusammen. Eine ist natürlich die Monetarisierung oder Ökonomisierung im engeren Sinne. Für die Wirtschaft bedeutet Rationalität Rechenhaftigkeit, wie sie mit der doppelten Buchführung möglich wurde. Die überall verfügbare EDV will mit Zahlen gefüttert werden. Eine weitere Ursache ist die Versozialwissenschaftlichung des Denkens. Für die empirische Sozialforschung gibt es nichts, was nicht messbar wäre. Jeden Tag werden wir mit Zahlen, z. B. in der Form von Prognosen, Preisen, Risikobewertungen, Kostennutzenanalysen, Schulnoten, Bilanzen, Sportergebnissen oder Testnoten konfrontiert. Das organisationale Rechnen jenseits der Wirtschaft hat inzwischen als Soziokalkulation einen Namen.[1] Zahlen und Rechenpraktiken sind allgegenwärtig. Sie versprechen einen rationalen Zugang zum Verständnis der Welt.

Man hat sich daran gewöhnt, dass alles in Zahlen und in Mengenbildern ausgedrückt wird und bemerkt gar nicht, dass die Durchnummerierung der Welt auch veränderte verhaltens- und leistungsbezogene Erwartungen zum Ausdruck bringt. Zahlen fordern zum Vergleich heraus. In Tortengrafiken, Balkendiagrammen oder Kurven drängt sich der Vergleich geradezu auf. Vergleiche führen, ob sie darauf angelegt sind oder nicht, zu einer Bewertung. Und Bewertungen haben Aufforderungscharakter.

Rechenhaftigkeit ist zum Bestandteil des Persönlichkeitssystems geworden. Was vor 20 Jahren noch unerhört schien, ist heute selbstverständlich. Anfangs haben alle oder viele noch gegen den Managementjargon protestiert. Heute hantieren sie wie selbstverständlich mit Begriffen wie Inputsteuerung, Outputsteuerung, Controlling, Produkten, Kosten-Leistungs-Rechnung usw. Mit den Begriffen und Formulierungen übernehmen sie eine anonyme Steuerungslogik, die auf eine mögliche Effizienzsteigerung angelegt ist. Darin liegt eine Änderung der Art und Weise, die Welt wahrzunehmen. In Verwaltungen, Krankenhäusern Universitäten, Theatern und Museen und selbst in der Justiz hat das Kosten-Leistungs-Denken Einzug gehalten. Eine kalkulative Mentalität bildet sozusagen die Tiefenstruktur der Ökonomisierung. Diese Mentalität macht Befehl und Recht bis zu einem gewissen Grade überflüssig.

Ein Ausfluss der Rechenhaftigkeit ist das Scoring, Ranking oder Benchmarking, das inzwischen auch auf globaler Ebene Einzug gehalten hat. Für die makrosozialen und vor allem für makroökonomische Daten gibt es eine erstaunliche Anzahl offizieller oder semioffizieller Quellen, die meistens in Gestalt jährlicher Reports und Rankings erscheinen. UNO, Weltbank, Internationaler Währungsfonds, die OECD, Stiftungen und NGOs offerieren Statistiken und Berichte, meistens in Gestalt von Ländervergleichen.[2] Mehr oder weniger alle verwenden Indikatoren aus der Merkmalsliste der Modernisierungstheorie. Auf den Spitzenplätzen der Ländervergleiche sind überall dieselben 30 bis 50 Länder anzutreffen, die als modern gelten können. Auf der Mitte der Skala beginnt die Liste der Kandidaten mit Nachholbedarf. Auf den hinteren 50 Plätzen sind in allen Ratings dieselben Länder versammelt, die deutlich unterentwickelt sind.

Die Rankings wirken. Nach und nach entdeckt die Wissenschaft das Antriebspotential des vergleichenden Berichtswesens.[3] Davis, Kingsbury und Merry haben es ausführlich als neue Governancetechnik analysiert. Darauf sei verwiesen und daraus nur zitiert, dass die Weltbank für sich in Anspruch nimmt, sie habe viele Länder allein durch die Zusammenstellung und Verbreitung der Indikatoren für Wirtschaftsfreundlichkeit in ihren Doing-Business Reports veranlasst, ihr Rechtssystem zu modernisieren.[4]

 


[1] Uwe Vormbusch, Die Kalkulation der Gesellschaft, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hg.), Zahlenwerk, 2007, 43-64. Eine historische Perspektive auf die scheinbar theoriefreie Repräsentation der Welt in Zahlen gibt Mary Poovey, A History of the Modern Fact: Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Univ. of Chicago Press, 1998 (mehrfach nachgedruckt).

[2] Insgesamt gibt es wohl über 200 solcher Berichte. Romina Bandura hat eine Aufstellung von 178 Untersuchungen zusammengestellt, die mit Hilfe von zusammengesetzten Indikatoren Ländervergleiche anstellen und mit einem Ranking enden: A Survey of Composite Indices Measuring Country Performance: 2008 Update. Office of Development Studies United Nations Development Programme, New York. (UNDP/ODS Working Paper).

[3] Zu Berichtsforschung: Kevin E. Davis/Michael B. Kruse, Taking the Measure of Law: The Case of the Doing Business Project; Law & Social Inquiry, 32, 2007, 1095–1119; Kevin E. Davis/Kingsbury Benedict/Sally Engle Merry, Indicators as a Technology of Global Governance, Law and Society Review 46, 2012, 71-104; Klaus F. Röhl, Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS für Hubert Rottleuthner, 2011, 357-393; Peter Thiery/Jenniver Sehring/Wolfgang Muno, Wie misst man Recht?, in: Josef Estermann (Hg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung, Bern 2010, 211–230.

[4] Law and Society Review 46, 2012, S. 84 (ohne Quellenangabe).

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Modernisierung durch Recht: Die Konvergenzthese I

»Industrialism and Industrial Man«

Als das Schlüsselwerk der Konvergenztheorie galt lange »Industrialism and Industrial Man« von Kerr u. a. (1962). Die Kernthese des Buches lautete, dass eine den Industrialisierungsprozessen innewohnende Logik als Antriebskraft einer weltweiten Konvergenz wirkt, die im Ergebnis zu einer einzigen modernen Gesellschaft führt. Die Industrialisierung wurde als großer Motor verstanden, der die Welt in Richtung auf Urbanisierung und Bürokratisierung, zur Kernfamilie und, auf kultureller Ebene, in Richtung auf Säkularisierung, Pluralismus und Rationalisierung bewegt. Als Endprodukt erwartete Kerr den »industrial man«, von dem er sagte, er sei »seldom faced with real, ideological alternatives within his society« (S. 283).

Heute würde Kerr vielleicht eine Fortsetzung schreiben mit dem Titel »Digitalization and Communication Man«. Die »alte« Konvergenztheorie sah in der Industrialisierung die treibende Kraft hinter der Angleichung unterschiedlicher sozialer Systeme. Sie hatte die dritte industrielle Revolution durch den Einzug der elektronischen Datenverarbeitung noch gar nicht im Blick. Die Datenverarbeitung hat zunächst die industrielle Produktion selbst noch einmal grundlegend verändert. Weltweit sind qualitativ hochwertige Telekommunikationsnetze und -dienste entstanden (Telefon, Telex, Telefax, E-Mail, Videokonferenzen, Datenbanken, Electronic Banking, Internet mit dem World Wide Web). Kommunikationstechnologie ist genuin global, weil sie die Möglichkeit bietet, Informationen kostengünstig und verlustfrei um die Welt zu transportieren. Die neuen Kommunikationstechniken haben die Internationalisierung der Produktion und die globale Verteilung von Gütern erleichtert. Informationen sind selbst zum überragend wichtigen Wirtschaftsgut geworden. 1962 beschrieb der Ökonom Fritz Machlup den Wandel zur Informationsgesellschaft, in der schon damals 30 % aller Wirtschaftstätigkeiten Informationen zum Gegenstand hatten. Heute dürften es weit mehr als 50 % sein. Die Informationstechnik hat auch Wirtschafts- und Staatsbürokratie grundlegend verändert. Und schließlich hat sie der Weltgesellschaft mit dem World Wide Web eine gemeinsame Wissensbasis geliefert.

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