Rennlisten aus dem Social Science Citation Index

Wer wen zitiert wird seit 1993 im Social Sciences Citation Index (SSCI) ausgezählt. Ausgewertet werden 1725 der weltweit wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitschriften (mit Originalartikeln, Besprechungen, Korrekturen, Diskussionen, Editorials, biographischen Vermerken etc.). Zusätzlich erfolgt Auswertung (in Auswahl) von mehr als 3300 der weltweit führenden sozialwissenschaftlichen Zeitschriften. Der Index ist über die meisten Universitätsbibliotheken zugänglich. Eine erhebliche Einschränkung besteht darin, dass nur Zeitschriften, aber keine Bücher ausgewertet werden. Zwar werden auch Zitate von Büchern, die in Zeitschriften erscheinen, gezählt. Aber es gibt doch wohl immer noch eine Buchkultur, die Zusammenhalt und Fortschritt eines Faches bestimmt und im Index nicht hinreichend abgebildet wird. Der Index ist im Übrigen auf die englischsprachige Welt ausgerichtet. Um ausgewertet zu werden, muss eine Zeitschrift sich anmelden und bestimmte Voraussetzungen erfüllen, darunter insbesondere ein Reviewverfahren und regelmäßiges und pünktliches Erscheinen. Das ist der Zeitschrift für Rechtssoziologie bisher nicht gelungen. Allerdings werden in den angemeldeten Zeitschriften auch die Zitate aus nicht angemeldeten Zeitschriften gezählt.
Für eine Herausgeberbesprechung der Zeitschrift für Rechtssoziologie hatte Wolfgang Ludwig-Mayerhofer 2007 einige Zahlen aus dem SSCI zusammengestellt. Er hat mir freundlich gestattet, seine Zahlen zu verwenden.
Bis Sommer 2007 wurden insgesamt 49 Aufsätze aus der ZfRSoz zusammen 118 mal in SSCI-Journals zitiert. Die Spitzenreiter waren:
(1) Gunther Teubner/Helmut Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Steuerung durch reflexives Recht (Bd. 6, 1984, 4-35): 18 Zitationen [Google Scholar 123]
(2) E. Allan Lind, Procedural Justice and Culture: Evidence for Ubiquitous Process Concerns (Bd. 15, 1994, 24-36): 9 Zitationen [Google Scholar 29]
(3) Niklas Luhmann, Einige Probleme mit »reflexivem« Recht (Bd. 6, 1985, 1-18): 7 Zitationen [Google Scholar 19]
(4) Alfons Bora, Grenzen der Partizipation? Risikoentscheidungen und Öffentlichkeitsbeteiligung im Recht (15, 1994, 126-152): 6 Zitationen [Google Scholar 13]
(5) Klaus Eder, Prozedurale Legitimität. Moderne Rechtsentwicklung jenseits von formaler Rationalisierung (Bd 7, 1986, 1-30): 5 Zitationen [Google Scholar 11]
[Ich habe in eckigen Klammern die neuesten Zahlen aus Google Scholar hinzugefügt. Sie bestätigen die Reihenfolge.]
Unterschiedliche Dimensionen werden deutlich, wenn man erfährt, dass in derselben Zeit 1.020 verschiedene Aufsätze aus dem Law & Society Review insgesamt 17.250 mal in SSCI Journals zitiert wurden. Hier die Spitzenreiter:
(1) Marc Galanter, Why the »Haves« Come Out Ahead: Speculations on the Limits of Legal Change (Bd. 9, 1974/75, 95-160): 755 Zitationen
(2) William L. F./Richard Abel/Austin Sarat, The Emergence and Transformation of Disputes: Naming, Blaming, Claiming… (Bd. 15, 1980/81, 631-654): 257 Zitationen
(3) John Hagan, Extra-Legal Attributes and Criminal Sentencing: An Assessment of a Sociological Viewpoint (Bd. 8, 1973/1974, 357-384): mit 212 Zitationen
(4) Abraham S. Blumberg, The Practice of Law as a Confidence Game: Organizational Cooptation of a Profession (Bd. 1, Heft 2, 1967, 14-40): 159 Zitationen
(5) Harold G. Grasmick/Robert J. Bursik, Jr., Conscience, Significant Others, and Rational Choice: Extending the Deterrence Model (B. 24, 1990, 837-862): 158 Zitationen
(6) Daniel S. Nagin, Enduring Individual Differences and Rational Choice Theories of Crime (Bd. 27, 1992/1993, 467-496: 139 Zitationen
(7) Tom R. Tyler, What is Procedural Justice?: Criteria Used by Citizens to Assess the Fairness of Legal Procedures (Bd. 22, 1988, 103-135): 125 Zitationen
(8) Gunther Teubner, Substantive and Reflexive Elements in Modern Law (Bd. 17, 1982/1983, 239-286): 118 Zitationen
(9) Donald T. Campbell/H. Laurence Ross, The Connecticut Crackdown on Speeding: Time Series Date in Quasi-Experimental Analysis (Bd. 3, 1968/1969, 33-54): 117 Zitationen
(10) Kirk R. Williams/Richard Hawkins, Perceptual Research on General Deterrence: A Critical Review (Bd. 20, 1986, 545-572): 114 Zitationen.

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Empirische Rechtsforschung – Methode oder Philosophie?

Jonathan Simon hat durch ein Posting mit dem Titel Empirical Legal Bulls? eine rege Diskussion ausgelöst. Simon – der anscheinend wichtige Bücher zu Kriminologie und Kriminalpolitik geschrieben [1]Poor Discipline: Parole and the Social Control of the Underclass, 1890-1990, University of Chicago Press, 1993; Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and … Continue reading hat und mir zuvor durch Rezensionen zu Foucaults »Überwachen und Strafen« [2]Discipline and Punish: The Birth of a Postmodern Middle-Range, in: Dan Clawson (Hg.), Required Reading: Sociology’s Most Influential Books, Amherst, MA, University of Massachusetts Press, 1998, S. … Continue reading und zu Macaulay/Friedman/Mertz, Law in Action [3]Law after Society, Law & Social Inquiry, 24, 1999, 143-194 aufgefallen war – hat die kühne These in die Welt gesetzt, die empirische Rechtsforschung habe immer dann Konjunktur (gehabt), wenn die Börsen haussierten. Das hänge damit zusammen, dass empirische Forschung teuer sei. Der schwarze September 2009 müsse jetzt aber kein Ende der aktuellen Konjunktur empirischer Rechtsforschung (von der wir hierzulande wenig spüren ist) bedeuten, denn:

First, it was more than Bull markets that fueled empirical peaks. These were also periods characterized by the emergence of new industries and markets that produced new demands for governance (and new questions about the adequacy of laws), social movements producing new demands for legal reform, and relatively activist administrations in Washington (Hoover in the 20s, Kennedy and Johnson in the 60’s, Clinton and Bush in the 1990s and 00’s), These factors may drive growth even after the bulls stop running on Wall street. In the 1930s, many of the empiricists drifted out of the academy to participate in the New Deal, and Obama’s New New Deal may be just in time for such a transfer.
But two reasons lead me to believe this current empirical wave will be more enduring. First, the cost of empirical research is expensive but much less than was true in the ’20s, when computers did not exist, or in the 1960’s, when they were hugely expensive to access. Second, unlike the previous periods when law schools opened up to empirical work, this wave has been generated largely internally by the emerging scholarly norms of the professoriate itself (rather than ambitions of foundation or university visionaries to change the faculty).

Dieser Beitrag hat eine Reihe von Kommentaren nach sich gezogen. Darin geht es vor allem um die Frage, ob die Konjunktur empirischer Rechtsforschung etwas mit dem Niedergang linkskritischer Soziologie und dem parallelen Aufstieg von Law & Economics zu tun hat.
Für den Legal McLuhanite ist das Diskussionsforum nicht weniger interessant als die Sache. Es ist ein Weblog mit dem Namen PrawfsBlawg. Sein Motto: »Where Intellectual Honesty Has (Almost Always) Trumped Partisanship — Albeit in a Kind of Boring Way Until Recently — Since 2005«. »BLawg« nennt man in der Blogosphäre ein Weblog, das Recht (Law) zum Thema hat. PrawfsBlawg ist dann wohl Law Professors’ Blog. Es handelt sich um einen Gemeinschaftsblog von neun Rechtsprofessoren. Ich habe ihn bis auf Weiteres in meine Blogroll aufgenommen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Poor Discipline: Parole and the Social Control of the Underclass, 1890-1990, University of Chicago Press, 1993; Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford University Press, 2007
2 Discipline and Punish: The Birth of a Postmodern Middle-Range, in: Dan Clawson (Hg.), Required Reading: Sociology’s Most Influential Books, Amherst, MA, University of Massachusetts Press, 1998, S. 47-54.
3 Law after Society, Law & Social Inquiry, 24, 1999, 143-194

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Evolution des Rechts – mehr als eine Metapher oder nicht einmal das?

Heute, an seinem 200. Geburtstag, ist die Frage angebracht, wie Darwin [1]Darwins Geburtstag ist nicht der Tag, um auf die Verdienste von Wallace um die Evolutionstheorie hinzuweisen. hilft, die Evolution des Rechts zu erklären. In der Rechtssoziologie fällt, wenn von der Entwicklung des Rechts die Rede ist, wie selbstverständlich auch sein Name. [2]Z. B. bei Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2007, S. 344. Doch bleibt weithin offen, was genau die biologische Evolutionstheorie für die (Rechts-)Soziologie bedeutet.
Niklas Luhmann hatte schon auf der Grundlage der funktional-strukturellen Systemtheorie eine Evolutionstheorie des Rechts entworfen. [3]Z. B. Evolution des Rechts, in: Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34 = Rechtstheorie 1, 1970, 3-22. Sein großes Thema war die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in immer neue soziale Systeme und damit verbunden eine immense Steigerung ihrer Komplexität. Luhmann nahm an, dass sich die Evolution des Rechts in drei Schritten vollzöge, die er Variation, Selektion und Stabilisierung nannte. Damit kam er der biologischen Evolutionstheorie sehr nahe. Variation ist die durch Zufall oder wie auch immer erzeugte Möglichkeit neuer Formen oder Alternativen. In der Biologie spricht man von Mutationen. Aus einer Vielzahl solcher Neuerungen überleben diejenigen, die den Anforderungen der Umwelt am besten angepasst sind. Darwin sprach ursprünglich vom Überleben im Kampf um das Dasein (struggle for life) und übernahm später den von Spencer geprägten Ausdruck survival of the fittest. Schließlich müssen die so ausgewählten Neuerungen zur Normalität werden. In der Biologie geht es um die Reproduktion der brauchbaren Formen, also um Vermehrung. Für die Gesellschaft spricht Luhmann von der Stabilisierung neuer Möglichkeiten im System. Im Rechtssystem sollte die Variation auf der Normebene stattfinden, die Selektion in institutionellen Strukturen, insbesondere Verfahren, und die Stabilisierung durch begrifflich dogmatische Verfestigung. Die drei Schritte der Evolution treffen, so Luhmann, auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der Gesellschaft auf unterschiedliche Voraussetzungen, aus denen sich jeweils spezifische Probleme der Rechtsentwicklung ergeben sollen.
Mit der Umstellung auf die autopoietische Systemtheorie kam Luhmann der Biologie noch ein Stück näher, denn die Systeme wurden lebendig und ihre Evolution nun zum Herzstück seiner großen Bücher. Im »Recht der Gesellschaft« von 1995 handelt das ganze 6. Kapitel (S. 239-296) von der »Evolution des Rechts«. Darin wird der »Evolutionsbegriff in Anlehnung an die Theorie Darwins« benutzt. In der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) trägt das umfangreiche Kapitel 3 (181 Seiten) die Überschrift »Evolution«. Es beginnt: »Gesellschaft ist das Resultat von Evolution. Man spricht auch von ›Emergenz‹. Das ist aber nur eine Metapher, die nichts erklärt …«. »Evolution« dagegen ist also keine Metapher? So klingt es jedenfalls.
Gunther Teubner (Recht als autopoietisches System, 1989) hatte schon tiefer geschürft. In einem Kapitel über »Blinde Rechtsevolution« wies er Kritik am Evolutionsbegriff als Missverständnis zurück. Damit wandte er sich gegen evolutionistische Vorstellungen von einer gerichteten Entwicklung und den damit meistens verbunden Normativismus. Er widersprach aber auch soziobiologischen Konzepten und Habermas’ Vorstellung von der Autonomie normativer Phänomene in der sozio-kulturellen Evolution. Sein Ziel war ein »gereinigter Evolutionsbegriff« [4]Teubner bezieht sich hier besonders auf Arbeiten von Donald T. Campbell. Eine jüngere einschlägige Arbeit von Campbell (und Francis Heylighens) habe ich im Netz gefunden: Selection of Organization … Continue reading (S. 63), »der den fruchtbaren Kern aus biologistischen Analogien herausschält«. Als solchen nennt er: »(1) das ›blinde Zusammenspiel der Evolutionsmechanismen Variation, Selektion und Retention; (2) die Kombination ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung; (3) die Vorstellung der Ko-evolution von Rechtssystem, Gesellschaftssystem und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen.« (S. 66)
Eine besonders sorgfältige und materialreiche Analyse soziologischer Theorien der Rechtsevolution stammt von Marc Amstutz (Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, Kapitel 3 bis 5). Ich greife nur zwei Punkte heraus. Für die Biologie gilt heute eine sog. synthetische Evolutionstheorie. Sie kombiniert Darwins Theorie mit Erkenntnissen der Genetik. Deren Übertragung auf die Sozialwissenschaften scheidet nach Ansicht von Amstutz aus, »da soziale Phänomene kein eigentliches Äquivalent zum Gen kennen« (S. 186). Amstutz hat einen weiteren Gesichtspunkt eingebracht: Die »Eigenlogik des Rechtsystems markiert nun gerade die äußerste Grenze der Variabilität seiner Normen. In der Argumentation Darwins taucht diese Grenze nicht auf …« (S. 184.). Also keine »echte« Evolution des Rechts? In der Tat: für Amstutz kann evolutorisches Rechtsdenken nur ein Denken in Metaphern sein (S. 167).
Deutlich wird auch Thomas Vesting. 30 von 157 Seiten seiner »Rechtstheorie« von 2007 verwendet er auf das Thema »Evolution«. Zu Beginn (Rn. 245) wird der Leser auf »die unhintergehbare Paradoxie der historischen Zeit, der Identität von Kontinuität (Identität) und Entwicklung (Differenz)« eingestimmt. Die Evolutionsbiologie kennt keine Paradoxien. Von dieser setzt Vesting sich ab: »Die Verwendung von Begriffen Darwins in der Rechtstheorie sollte nicht als analoge Anwendung biologischer Erkenntnisse oder ›Metaphern‹ interpretiert werden. Darwins Begriff der ›natural selection‹ wird nicht einfach auf die Systemtheorie übertragen; der Systemtheorie geht es um interne Selektion und um die vorübergehende Eigenstabilisierung dynamischer (Sinn-)Systeme, nicht aber um externe Selektion und ausschließlich phylogenetische Gesetzmäßigkeiten wie Darwin.« Evolution des Rechts also nicht einmal eine Metapher?
Luhmann und Teubner, Amstutz und Vesting arbeiten auf der Grundlage der autopoietisch gewendeten Systemtheorie. Jürgen Habermas meint, Gesellschaft, vom Persönlichkeitssystem getrennt, könne die Evolution nicht alleine tragen. Vielmehr stellten Gesellschafts- und Persönlichkeitssystem zusammengenommen ein evolutionsfähiges System dar. »Wohl trägt das Persönlichkeitssystem den Lernvorgang der Ontogenese; und in gewisser Weise sind es allein die vergesellschafteten Subjekte, die lernen. Aber Gesellschaftssysteme können unter Ausschöpfung des Lernniveaus vergesellschafteter Subjekte neue Strukturen bilden, um ihre Steuerungskapazität auf ein neues Niveau zu bringen.« [5]Zum Theorievergleich in der Soziologie: am Beispiel der Evolutionstheorie, in: Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 3. Aufl. 1982, 129 ff., 133..
Vielleicht darf man gar nicht so fragen, wie es meine Überschrift nahelegt. Vermutlich hat das (biologische) Evolutionsgesetz für die Soziologie nur heuristischen Wert. Ich formuliere trotzdem einige Fragen, die sich bei dem Versuch einer direkten oder analogen Anwendung stellen.
Biologie sucht nach dem Anfang des Lebens (Biogenese). Die Frage nach dem Anfang des Rechts (Legogenese?) wird uns von der Systemtheorie untersagt (Vesting, Rn. 265). Dafür werden wir auf einen rechtsintern erzeugten Ursprungsmythos verwiesen. Aber das kann nur die Antwort der (einer) Rechtstheorie sein. Ethnologen und Soziologen lassen sich die Frage nach dem Anfang des Rechts nicht verbieten.
Für die Biologie gilt:
»1. Arten sind nicht unabänderlich. Sie entstanden in einer ununterbrochenen Generationenfolge vom Zeitpunkt der Entstehung des Lebens bis hin zu den heute existierenden (rezenten) Arten.
2. Individuen einer Art sind untereinander nicht gleich. Innerhalb einer jeden Art lässt sich für jedes Merkmal eine beträchtliche Variation feststellen.
3. Jedes Individuum ist einer natürlichen Selektion (einem Selektionsdruck) unterworfen. Nur die der Umwelt am besten angepassten haben eine Chance, zu überleben und sich fortzupflanzen.« [6]Peter von Sengbusch, Botanik online, 2002, URL: http://www.biologie.uni-hamburg.de/b-online/d36/36.htm.
Thema der Evolutionsbiologie ist die Phylogenese der Lebewesen. [7]Kutschera, S. 15. Die Erklärung findet sich auf der Ebene der Ontogenese, d. h. der Generationenfolge. Als Phylogenese des Rechts kommt die Rechtsgeschichte oder die Entwicklung des Rechtssystems in Betracht. Die Analogie zur Ontogenese ist nicht so einfach. Dazu müsste man über eine Analogie zum Begriff des Individuums verfügen. Der Mensch als Naturwesen kann es kaum sein. Vielleicht aber, wie Habermas meint, sein Persönlichkeitssystem? Teubner findet die Ontogenese in der konkreten Interaktion des Verfahrens (S. 76).
Das Individuum – und nicht die Art – ist auch Grundeinheit der Selektion. Erneut drängt sich die Frage auf, welche Einheit in der sozialen Evolution für das Individuum steht. Ist die Grundeinheit der Rechtsevolution ein System? Aber welches System? Das Rechtssystem? Oder irgendwelche Subsysteme? Alle Systeme? Und was steht dann für die Arten? Was für die Umwelt? Teubner wird genauer und erklärt uns, Einheiten sozialer oder rechtlicher Evolution seien »nicht menschliche Individuen oder ihre Aggregate, also Gruppen, Nationen, Rassen …, sondern soziokulturelle Phänomene: Ideen, Gebräuche, Organisationsformen etc.« (S. 66). Auf der folgenden Seite ist Einheit der Evolution dann »das Recht selbst als System sozialer Kommunikationen«.
Biologen diskutieren heute, ob die Selektion wirklich nur bei Individuen angreift oder ob nicht auch Gruppen (Populationen) dem Selektionsdruck ausgesetzt sind. [8]Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 3. Aufl. 2008, David Sloan Wilson/Edward O. Wilson, Evolution – Gruppe oder Individuum, Spektrum der Wissenschaft Januar 2009, S. 32-41. Diese Erweiterung der biologischen Theorie könnte ihre Übertragung auf die Gesellschaft erleichtern.
Weiter ergibt sich die Frage, wie Variationen und damit die Anpassung an die Umwelt zustande kommt. Luhmann [9]Das Recht der Gesellschaft, S. 245 ff verwendet zwölf Seiten auf die Bedeutung der Schrift, um mit der Feststellung zu enden, »alle Rechtsevolution, vor allem die einmalige, zweitausendjährige Evolution des römischen Zivilrechts, [sei] durch die Differenz von Text und Interpretation ermöglicht worden«, die neue Variationen entstehen ließ. Vesting (Rn. 262) hat ein Beispiel zur Hand: »Der Versammlungsbegriff wurde in der Vergangenheit stets weit ausgelegt, unter dem Druck der Zunahme eines neuen Typus von Unterhaltungsdemonstration (›Love-Parade‹) sieht sich das Bundesverfassungsgericht jedoch mit einer veränderten Sachlage konfrontiert und sucht nach neuen Möglichkeiten, mit dem abweichenden Demonstrationstypus umzugehen (Variation). In einer Entscheidung wird die Unterhaltungsdemonstration aus dem Versammlungsbegriff ausgeschlossen (Selektion)., in weiteren Entscheidungen verfestigt sich die neue Rechtsprechung (Restabilisierung).« So einfach ist das?
Biologisch entstehen Variationen zufällig durch Mutation oder – bei höheren Lebewesen sehr viel wichtiger – durch bisexuelle Vermehrung. Auf der Ebene der Gesellschaft kommen biologisch vererbte sozial relevante Eigenschaften und erworbene Eigenschaften in Betracht. Erworbene Eigenschaften sind in der Gesellschaft wichtiger als in der Natur. Wichtiger ist deshalb auch die Frage nach der Möglichkeit epigenetischer Vererbung. Davon hält die Biologie bisher wenig oder gar nichts. [10]Kutschera, S. 62 Zwar ist in der Soziologie öfter von sozialer Vererbung die Rede. Aber dabei denkt man kaum an Evolution. [11]Typisch Andreas Diekmann/Henriette Engelhardt, Die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, Zeitschrift für Soziologie 24, 1995, 215-228.
Selektion ist für die Biologie schlicht eine Frage des Ergebnisses. Wer sich fortpflanzt, ist der Selektion nicht zum Opfer gefallen. Für die Gesellschaft können wir uns schwer von der Vorstellung frei machen, dass Anpassung und Selektion ganz mechanisch erfolgen. Teubner (S. 68) hält es sogar für »offenkundig …, daß evolvierende Systeme wie das Recht über höhere Autonomie im Evolutionsprozeß verfügen«.
Die Stabilisierung erfolgt biologisch im Genom oder Erbgut. Amstutz’ Verdikt soll uns nicht hindern, jedenfalls nach einer Analogie zu suchen. Das Äquivalent ließe sich vielleicht im sozialen Gedächtnis finden. Diesen Ausdruck verwendet Luhmann. Er verweist uns auf die Speicher- und Verbreitungsmedien als Gedächtnisort. Der Legal McLuhanite wird ihm darin gerne folgen. Auch für Vesting spielen die Medien für die Evolution des Rechts eine zentrale Rolle. Er sieht in ihnen jedoch nicht das »Genom« des Rechts, sondern spricht von der Coevolution von Rechtssystem und Mediensystem. [12]Rechtstheorie, Rn. 274 ff., 280.
Makroevolution in der Natur wird von der Biologie als eine Summierung von vielen kleinen Veränderungen behandelt. [13]Ulrich Kutschera/Karl J. Niklas, The Modern Theory of Biological Evolution: An Expanded Synthesis, Naturwissenschaften 2004, 91, 255–276, S. 263.[ http://www.evolutionsbiologen.de/niklas.pdf] Der Emergenzbegriff spielt keine Rolle. In der Soziologie dagegen haben wir es immer wieder mit Emergenzeffekten und manchmal auch mit Eigendynamiken zu tun. Wie passt beides zusammen?
Einfacher ist es vermutlich, soziologische Entsprechungen für den Reproduktionsüberschuss und die Sterblichkeit natürlicher Lebewesen zu finden. Am Einfachsten ist es aber, die hier aufgelisteten Fragen als unzulässig zurückzuweisen.

Nachtrag: Im Dezember 2012 gab es eine interessante Tagung der Vereinigung für Recht und Gesellschaft and der Universität Freiburg/Schweiz über »Rechtsevolution: Theoretische und Soziologische Perspektiven«. Die Vorträge sind leider nicht veröffentlicht worden. Hier will ich noch auf vier Cluster von einschlägiger Literatur hinweisen. Der erste umfasst Arbeiten von Evolutionsspezialisten, die von der Biologie herkommen. Es handelt sich besonders um Robert Boyd, Peter J. Richerson, ihre Schüler und Mitarbeiter. Das zweite Cluster enthält Arbeiten aus dem Max Planck Institute of Economics in Jena. Das dritte besteht aus den Beiträgen zu einem Symposium on Evolutionary Approaches to (Comparative) Law, das 2010 in Ghent stattfand. Das vierte Cluster ist ein Sammelsurium aus Internetressourcen, die von SEAL, der Society for Evolutionary Analysis in Law, auf ihrer Webseite gesammelt werden.

 

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Darwins Geburtstag ist nicht der Tag, um auf die Verdienste von Wallace um die Evolutionstheorie hinzuweisen.
2 Z. B. bei Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2007, S. 344.
3 Z. B. Evolution des Rechts, in: Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34 = Rechtstheorie 1, 1970, 3-22.
4 Teubner bezieht sich hier besonders auf Arbeiten von Donald T. Campbell. Eine jüngere einschlägige Arbeit von Campbell (und Francis Heylighens) habe ich im Netz gefunden: Selection of Organization at the Social Level: Obstacles and Facilitators
of Metasystem Transitions
5 Zum Theorievergleich in der Soziologie: am Beispiel der Evolutionstheorie, in: Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 3. Aufl. 1982, 129 ff., 133.
6 Peter von Sengbusch, Botanik online, 2002, URL: http://www.biologie.uni-hamburg.de/b-online/d36/36.htm.
7 Kutschera, S. 15.
8 Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 3. Aufl. 2008, David Sloan Wilson/Edward O. Wilson, Evolution – Gruppe oder Individuum, Spektrum der Wissenschaft Januar 2009, S. 32-41.
9 Das Recht der Gesellschaft, S. 245 ff
10 Kutschera, S. 62
11 Typisch Andreas Diekmann/Henriette Engelhardt, Die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, Zeitschrift für Soziologie 24, 1995, 215-228.
12 Rechtstheorie, Rn. 274 ff., 280.
13 Ulrich Kutschera/Karl J. Niklas, The Modern Theory of Biological Evolution: An Expanded Synthesis, Naturwissenschaften 2004, 91, 255–276, S. 263.[ http://www.evolutionsbiologen.de/niklas.pdf]

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Neue Online-Zeitschrift: Journal of Legal Analysis

Harvard University Press und das John M. Olin Center for Law, Economics, and Business an der Harvard Law School haben eine neue frei zugängliche Online-Zeitschrift mit dem Titel Journal of Legal Analysis gestartet. Sie ist zu erreichen unter http://jla.hup.harvard.edu. Natürlich wird das Allerbeste versprochen:

The Journal of Legal Analysis aspires to publish the best legal scholarship from all disciplinary perspectives and in all styles, whether verbal, formal, or empirical.

Die Zeitschrift wird von der Fakultät herausgegeben, die Artikel sollen vor der Annahme begutachtet werden. Es gibt keine kalendergesteuerten Publikationstermine. Die einzelnen Arbeiten sollen erscheinen, sobald sie druckreif sind. Allerdings sollen jährlich auch gedruckte und gebundene Ausgaben angeboten werden.
Gleich aus dem ersten Artikel [1]Adrian Vermeule, Many Mind Arguments in Legal Theory. habe ich mindestens einen neuen Begriff gelernt: many mind arguments. Der Begriff soll von Cass Sunstein erfunden worden sein und bezeichnet wohl alle Rechtsansichten, die von einem Kollektiv geäußert werden, also von Parlamenten, Gerichten und wohl auch von ganzen Rechtssystemen. Solche kollektiven Rechtsmeinungen sollen von höherer Qualität sein als individuelle Ansichten. Vermeule liegt wohl richtig, wenn er sich damit kritisch auseinandersetzt.
Ich will die neue Publikation beobachten und nehme sie dazu in die Linkliste für die Allgemeine Rechtslehre auf.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Adrian Vermeule, Many Mind Arguments in Legal Theory.

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Siems über Zitiermuster in englischen und deutschen Gerichtsentscheidungen

Die Digitalisierung verändert Recht und Rechtswissenschaft. Aber zunächst bietet sie neue Forschungsmöglichkeiten, u. a., indem sie es gestattet, mit vertretbarem Aufwand Zitiermuster (citation patterns) nachzuweisen. Von dieser Möglichkeit hat Matthias M. Siems Gebrauch gemacht: Citation Patterns of the German Federal Supreme Court and the Court of Appeal of England and Wales (24. Januar 2009). Seine Untersuchung ist bei SSRN verfügbar: http://ssrn.com/abstract=1305185. Hier das Abstract:

This paper presents citation statistics on decisions of the Court of Appeal of England and Wales (CA) and the German Federal Supreme Court (Bundesgerichtshof, BGH) for the last 55 years. This data is used in order to identify whether the citation patterns of the CA and the BGH reflect the conventional comparative perceptions about the English and German legal system. For instance, it is addressed how often the CA and the BGH cite the highest national and European courts and higher foreign courts from different legal families. The paper also examines the cross-citations between the highest courts of the United Kingdom (House of Lords, Court of Appeal of England and Wales, Court of Appeal in Northern Ireland, Court of Session and the High Court of Justiciary).

Man erfährt u. a., dass der BGH mit 7,96 Zitaten sogar geringfügig mehr Präjudizien anführt als der Court of Appeal (7,26). Besonders interessant, wie die beiden Gerichte sich auf den EUGH und den EGMR berufen und in welchem Umfang sie ausländische Obergerichte zitieren.

Nachtrag: Jetzt neu von Mathias Siems: A Network Analysis of Judicial Cross-Citations in Europe, Law & Social Inquiry 48, 2023, 881–905.

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Die Bilder der heimlichen Juristenzeitung

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ist die heimliche Juristenzeitung. Seit eh und je gibt es mittwochs die Seite »Recht und Steuern«. Ziemlich neu ist die wöchentliche Seite »Staat und Recht«. Dafür verantwortlich ist Reinhard Müller. Auch sonst schreibt er über »alles, was Recht ist«. Die Seite »Die Gegenwart« bot am 8. 9. 2008 einen großen Aufsatz von Roman Herzog und Lüder Gerken über Kompetenzanmaßungen des EUGH, der eine rege Diskussion auslöste. Selbstverständlich, dass die Zeitung über wichtige rechtspolitische Entwicklungen und bemerkenswerte Gerichtsverfahren schreibt. Die Artikel von Friedrich Karl Fromme zu staats- und verfassungsrechtlichen Themen sind in guter Erinnerung. Heute sorgen Alexandra Kemmerer und Melanie Amann für zuverlässige und interessante Berichte. Für den Wirtschaftsteil hat Frau Amann die Anwaltschaft im Blick. Über die Rechtswelt in den USA berichtet zitierwürdig Katja Gelinsky. Im letzten Jahr ist der »Rechtsstab« noch um Hendrik Wieduwilt erweitert worden, der sich der Zeitung dem Vernehmen nach als Blogger [1]Mit Juratexter.de, wo besseres Deutsch für Juristen propagiert wurde. Die Seite wird nicht mehr gepflegt. Wieduwilt bloggt jetzt mit RechtReal über virtuelle Welten und Recht. empfohlen hatte. Auch die alte Tradition, über völkerrechtliche Fragen zu informieren, wird fortgeführt. Am 7. 1. gab es – zwar aus aktuellem Anlass, aber doch ganz abstrakt gehalten – gleich zwei Artikel zum Kriegsvölkerrecht [2]Thomas Speckmann, Sie mögen uns Rebellen nennen, und Reinhard Müller, Totaler Krieg verboten.. Früher war es vor allem Gerd Roellecke, der rechtsphilosophische Themen behandelte. Ihn hat mehr und mehr Michael Pawlik abgelöst. [3]Pawlik listet auf seiner Webseite 110 Rezensionen rechtsphilosophischer Bücher für die FAZ (seit 1991). Die Startseite seiner Internetpräsenz ziert Pawlik mit dem Titelkupfer des Leviathan. Ganze Debatten zwischen Richtern und Professoren werden in der FAZ ausgetragen. [4]An die Kontroverse zwischen Hirsch einerseits und Möllers und Rüthers andererseits knüpft Dieter Simon mit einem Vortrag an, den er am 3. 11. 2008 für den Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit … Continue reading
Es liegt beinahe in der Natur der Sache, dass eine anspruchsvolle Zeitung umfangreich über Themen berichtet, die im Fach unter »Law & Society« laufen. Miloš Vec sorgt dafür, dass Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte gut vertreten sind. Der interdisziplinär orientierte Jurist findet in den Artikeln von Jürgen Kaube (der meine Skepsis gegenüber dem kulturwissenschaftlichen Staubsauger teilt) Information und Anregung. Über »Law and Economy« erfährt man, vor allem in den Buchbesprechungen des Wirtschaftsteils am Montag, allerhand. Am 5. 1. wurde Richard A. Posner von Patrick Bahners als »Sozialdarwinist auf der Richterbank« vorgestellt, und am 6. 1. erfuhr man aus der Feder von Hendrik Wieduwilt, dass sich die Rechtswissenschaft der Verhaltensforschung öffnet.
Für das Projekt »Recht anschaulich« verfolge ich am Rande auch, wie die Presse juristische Themen illustriert. Daraus war für die Münchener Rechtsvisualisierungstagung ein Diskussionsbeitrag über die »Ästhetisierung der Sachinformation« entstanden. Für das Blog ist er zu lang. Deshalb steht er hier zum Download zur Verfügung.
Hier folgt dazu noch ein Nachtrag: Am 5. 1. druckte die Zeitung in der Rubrik »Neue Sachbücher« unter dem Titel »Bloße Begriffsanalyse ist ausgereizt« eine Rezension von Michael Pawlik zu Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008.
Die Rezension wird, für die Illustrationspraxis der FAZ eher ungewöhnlich, durch ein vermutlich billiges Agenturfoto angereichert, und zwar durch das Foto eines Doppelknotens aus dickem Tau, der auf einem hellen Bouclé-Teppichboden plaziert ist.
faz-knoten
Die Legende lautet: »Hält der Knoten, den die Rechtsphilosophie bindet?« Die Knotenmetapher könnte eigentlich ganz gut zu dem rechtsphilosophischen Thema passen. In der Interpretation durch die Legende beißt sie sich aber mit der Überschrift.
Die Illustration bleibt mit ihrer Qualität hinter dem sonst in der FAZ anzutreffenden Niveau zurück. Das Bild macht den Eindruck eines Amateurfotos. Als Bildquelle wird »BilderBox.com« angegeben. Dabei handelt es sich um eine Agentur aus Österreich. Die Bildagentur nennt zu dem Bild folgende Stichworte:

assisted suicide, aufhaengen, aufhängen, death penalty, Dinge, Example, hang, hangman, Henker, Henkerknoten, henkerschlinge, Henkerseil, Illustration, knod, Mord, murder, rope, Selbstmord, Strick, Suizid, Symbol, symbol image, symbol-image, symbol-photo, Symbolaufnahme, Symbolaufnahmen, Symbolbild, Symbolbilder, Symbole, Symbolen, Symbolfotos, symbolically, symbolisch, Symbolischen, symbolphoto, symbols, thread, Todesstrafe

So also werden Bilder verschlagwortet. Die Webseite fordert damit zu einer rechtsoziologischen Inhaltsanalyse heraus. Hier kann man sehen, welche Bilder und welche Wortwolken juristische Laien mit Rechtsbegriffen verbinden. Das Suchwort »Gericht« zeigt unter den 573 Treffern zuerst »Junge Frau mit Salat« an. Davon darf man sich nicht irritieren lassen. Aber bemerkenswert ist es doch, wenn die ersten zehn von insgesamt 27 Bildern, die auf das Suchwort »Richter« antworten, amerikanische Symbole nutzen, und zwar die ersten eine gavel über Euroscheinen (Legende: Eurogeldscheine und Richter-/ Auktionshammer) und die folgenden sieben eine grüne Spritze in Variationen mit oder ohne Union Jack (Legende: Giftspritze – lethal injection).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mit Juratexter.de, wo besseres Deutsch für Juristen propagiert wurde. Die Seite wird nicht mehr gepflegt. Wieduwilt bloggt jetzt mit RechtReal über virtuelle Welten und Recht.
2 Thomas Speckmann, Sie mögen uns Rebellen nennen, und Reinhard Müller, Totaler Krieg verboten.
3 Pawlik listet auf seiner Webseite 110 Rezensionen rechtsphilosophischer Bücher für die FAZ (seit 1991). Die Startseite seiner Internetpräsenz ziert Pawlik mit dem Titelkupfer des Leviathan.
4 An die Kontroverse zwischen Hirsch einerseits und Möllers und Rüthers andererseits knüpft Dieter Simon mit einem Vortrag an, den er am 3. 11. 2008 für den Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit gehalten hat (Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, verfügbar auf der Webseite des BAR. Simon flüchtet sich, wie es heute üblich ist, in Paradoxievorstellungen, und plädiert am Ende für bessere Bezahlung, Fortbildung und mehr Respekt für die Richter.

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Burri über soziologische Bildforschung

»Soziologie«, das Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, das für alle Mitglieder im Jahresbeitrag eingeschlossen ist, hat sich zu einer stattlichen Soziologie-Zeitschrift gemausert. Da vermutlich nicht alle Leser dieses Blogs Mitglieder der DGS sind, will ich auf einen Aufsatz hinweisen, der in Heft 1, 2009 von »Soziologie« erschienen ist: Regula Valérie Burri, Aktuelle Perspektiven soziologischer Bildforschung. Zum Visual Turn in der Soziologie (S. 24-39). Obwohl ich eigentlich glaubte, mit der Thematik vertraut zu sein, habe ich den Artikel mit Gewinn gelesen. Es setzt neue Akzente und zitiert andere Literatur. Mich irritiert ein bißchen der Akzent auf der konstruktivistischen Wissenschafts- und Technikforschung.
Burri selbst hat 2008 ein Buch mit dem Titel »Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder« veröffentlicht, das mir bisher entgangen war. Auf der Verlagsseite gibt es eine Leseprobe mit großen Teilen des Aufsatzes.
Den Aufsatz habe ich als Legal McLuhanite natürlich daraufhin gelesen, was Burri über das Recht zu sagen weiß. Das ist so wenig, dass ich es hier wörtlich zitieren kann:

Während die oben beschriebene Perspektive auf die Bilder in der Wissenschaft die Entstehung wissenschaftlicher Evidenz in den Vordergrund rückt, haben sich die kulturwissenschaftlichen Ansätze in der Wissenschaftsforschung zunächst mit der Rolle visueller Repräsentationen bei der Bildung juristischer Evidenz beschäftigt, indem sie die Verwendung wissenschaftlich-technischer Bilder in der Expertenkultur der Rechtsprechung rekonstruieren. Diese Ansätze gehen davon aus, dass die Zulassung von Bildern als Beweismittel in Gerichtsprozessen als Gradmesser für die gesellschaftliche Durchsetzung und kulturelle Akzeptanz des wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs visueller Repräsentationen interpretiert werden kann.

Als Beleg werden zwei ältere Arbeiten von Golan und Gugerli zitiert. [1]T. Golan, The Authority of Shadows: The Legal Embrace of the X-Ray, Historical Reflections 24, 1998, 437-458, und D. Gugerli, Soziotechnische Evidenzen. Der »pictorial turn« als Chance für die … Continue reading Die Arbeit von Tal Golan ist mir nicht zugänglich. [2]Serendipity: Auf der Suche habe ich eine schöne Arbeit von Ramón Reichert, Erotisch-voyeuristische Visualisierungstechniken im Röntgenfilm, gefunden, die Golan zitiert: … Continue reading In meiner Kopiensammlung fand sich jedoch von demselben Autor eine jüngere Arbeit, die anscheinend den Inhalt der älteren einschließt. [3]Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, 2002, S. 171-210. Darin erzählt Golan, wie sich Fotografien und vor allem Röntgenbilder erst langsam als Beweismittel durchsetzten. Bei Fotografien ging es zunächst um Probleme, die wir in Deutschland unter dem Stichwort »Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme« einordnen würden. Bei den Röntgenbildern kam die Abwehr der Ärzte hinzu, die fürchteten, solche Bilder könnten Haftpflichtprozesse auslösen. Außerdem gab es anfangs Zweifel an der Echtheit solcher Bilder und Probleme wegen ihrer Interpretationsbedürftigkeit, die erst mit der Professionalisierung der Radiologie ganz ausgeräumt werden konnten. Das ist ein hübsches Stück Rechtsgeschichte ohne eine Spur soziologischer Theorie.

Meniskusschaden im MRT
Meniskusschaden im MRT

Der Aufsatz von Gugerli ist im Internet zugänglich. Hier wird die Geschichte des anfänglichen Widerstands gegen die Akzeptanz von Röntgenbildern und Magnetresonanztomographiebildern als Beweismittel mit wissenssoziologischem Vokabular aufgewertet. Aber auch hier kann ich weder eine Hypothese noch ihre Einbettung in soziologische Theorie entdecken. Ich würde das Stück als ein – fraglos berichtenswertes– Kapitel Technik- und Rechtsgeschichte einordnen. Die visuelle Rechtskommunikation ist Burri weitgehend entgangen. Das ist keine Kritik an ihrem Buch, denn das hatte ein anderes Thema. Aber ein Übersichtsaufsatz über soziologische Bildforschung bleibt auf diese Weise lückenhaft.
Der kulturwissenschaftliche Staubsauger, den Burri benutzt, packt nur, was lose auf der Oberfläche liegt. Das ist auch anderen schon so gegangen, etwa mit dem Sammelband »Bildregime des Rechts«. [4]So der Titel eines Tagungsbandes, hrsg. von Cornelia Vismann, Thomas Weitin und Jean Baptiste Joly, Akademie Schloss Solitude, 2007. Kulturwissenschaftler sind anscheinend nicht bereit, sich näher auf den Objektbereich, über den sie reden wollen, einzulassen. Deshalb geben sie sich schon zufrieden, wenn sie »Überschneidungen zwischen den Bilderwelten und den Welten des Gesetzes« entdeckt haben. Die finden sie leicht im forensischen Bildgebrauch – daher ja auch die Beispiele Burris – , in der Kunst, im Urheber- und im Medienrecht. So entgeht ihnen, dass das Recht als Kommunikationssystem selbst auf Speicher- und Verbreitungsmedien angewiesen ist und an den Bildern nicht mehr vorbeikommt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 T. Golan, The Authority of Shadows: The Legal Embrace of the X-Ray, Historical Reflections 24, 1998, 437-458, und D. Gugerli, Soziotechnische Evidenzen. Der »pictorial turn« als Chance für die Geschichtswissenschaft, Traverse 3, 1999, 131-158.
2 Serendipity: Auf der Suche habe ich eine schöne Arbeit von Ramón Reichert, Erotisch-voyeuristische Visualisierungstechniken im Röntgenfilm, gefunden, die Golan zitiert: http://www.zeitenblicke.de/2008/3/reichert/index_html#d57e77.
3 Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, 2002, S. 171-210.
4 So der Titel eines Tagungsbandes, hrsg. von Cornelia Vismann, Thomas Weitin und Jean Baptiste Joly, Akademie Schloss Solitude, 2007.

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Amerikanische Justizforschung

Tamanahas Kritik und Cristian Boulangers Kommentar waren Anlass, dem aktuellen Stand der amerikanischen Justizforschung nachzugehen. Dabei hat mir ein neuer Aufsatz von Joshua B. Fischman und David Law sehr geholfen (What Is Judicial Ideology, and How Should We Measure It? [October 19, 2008]. Washington University Journal of Law and Policy, Vol. 29, No. 1, 2008; verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=1121228). Das Thema ist im Hinblick auf die Amtsübernahme eines neuen Präsidenten in Washington brandaktuell. Katja Gelinsky hat in der FAZ vom 2. 1. 2009 S. 10 berichtet, wie George W. Bush die Federal Courts im republikanischen Sinne geprägt hat. [1]Katja Gelinsky, Hoffen auf die Wende, FAZ Nr. 1 vom 2. 1. 2009, S. 10. Er hat nicht nur John G. Roberts Jr. als Nachfolger des Chief Justice William H. Rehnquist und Samuel Alito als Nachfolger von Sandra O’Connor nominiert, sondern auch mehr als ein Drittel der 678 Richter an den District Courts und der 179 Richter an den Courts of Appeal eingesetzt.
Die amerikanische Justizforschung ist andere Wege gegangen als die deutsche. Sie erhielt ihren ersten großen Anschub aus dem Widerstand des US Supreme Court gegen die New-Deal-Gesetzgebung Roosevelts. Von Anfang an lag sie in den Händen von Politikwissenschaftlern. Ihr gedankliches Fundament bezog sie von den Legal Realists mit der Folge, dass nicht die soziale Herkunft der Richter im Vordergrund stand, sondern die Vermutung, dass die Entscheidungen weitgehend von außerrechtlichen (»ideologischen«) Motiven gelenkt würden. Es boten sich auch ganz andere Anknüpfungspunkte für die Empirie. Die Richter am US Supreme Court und an den Bundesgerichten werden vom Präsidenten ernannt, haben also einen parteipolitisch gefärbten Start. Ihre Zahl ist geringer, die personelle Konstanz größer als bei uns. Dadurch und durch offene Abstimmungen sowie die Möglichkeit von Dissenting Votes gewinnen die einzelnen Richter Profil, das der Forschung viele Anknüpfungspunkte bietet. Während die deutsche Justizforschung resigniert hat, ist die amerikanische Justizforschung trotz mancher Kritik höchst lebendig. Inzwischen haben sich wohl über 200 Untersuchungen angesammelt. Dazu tragen Datenbanken bei, in denen die persönlichen Daten der Richter am US Supreme Court [2]States Supreme Court Database, zusammengestellt von Harold J. Spaeth (http://www.cas.sc.edu/poli/juri/sctdata.htm [5.1.09]). und an den Federal Courts [3]Courts of Appeals Database, zusammengestellt von Donald R. Songer (http://www.cas.sc.edu/poli/juri/appctdata.htm [5.1.09]). sowie ihr Abstimmungsverhalten über lange Zeiträume gesammelt und allgemein zugänglich sind.
Die amerikanische Justizforschung baut auf ein aus der Sozialpsychologie übernommenes Attitüdenmodell. Es behauptet, dass richterliche Entscheidungen bis zu einem näher zu bestimmenden Maß die Konsequenz aus Einstellungen zu allgemeinen politischen Fragen wie Stärkung der Bürgerrechte oder Regulierung der Wirtschaft seien. Man spricht geradezu von einem behavioral turn der Politikwissenschaft. Als Kontrastfolie dient das Subsumtionsmodell (legal model), nachdem die Entscheidung aus einer spezifischen Konstellation von Fakten und Rechtsnormen abgeleitet wird.
Im Kern geht es bei dem Attitüdenmodell darum, dass sich Gerichtsentscheidungen bis zu einem gewissen Grade auf die »Ideologie« der Richter zurückführen lassen. Die »Ideologie«, also die politische Einstellung, ist die unabhängige Variable, die die Urteile als abhängige Variablen erklären soll. Sie lässt sich nicht direkt beobachten, sondern kann nur mittelbar aus möglichst stichhaltigen Merkmalen erschlossen werden. Ein naheliegendes Merkmal ist die Parteizughörigkeit des Richters oder des ihn ernennenden Präsidenten. Es liegt aber kaum weniger nahe, aus dem Inhalt seiner Entscheidungen auf die politische Einstellung des Richters zu schließen. Gleich die erste große Untersuchung von Pritchett ging jedoch auf eine raffiniertere Weise indirekt vor, indem sie weder auf ein Hintergrundmerkmal noch auf den Inhalt der Entscheidungen abstellte, sondern nur fragte: Welcher Richter hat mit welchem anderen zusammen gestimmt? [4] C. Herman Pritchett, The Roosevelt Court. A Study in Judicial Politics and Values 1937-1947, 1948. Dazu wurden alle nicht einstimmig ergangenen Entscheidungen aus der Zeit von 1937 bis 1947 untersucht. Es stellte sich heraus, dass sich drei Gruppen von Richtern gebildet hatten, die mehr oder weniger oft gemeinsam abstimmten und die Pritchett einem liberalen und einem konservativen Flügel sowie einem Mittelblock zuordnete.
Den Rückschluss vom Inhalt ihrer Entscheidungen auf die Einstellung der Richter wurde 1969 erfolgreich von Joel B. Grosman erprobt. [5] Joel B. Grossman, A Model for Judicial Policy Analysis. The Supreme Court and the Sit-in-Cases, in: Grossman/Tanenhaus, Frontiers of Judicial Research, 1969, 405-460. Dazu wählte Grosman eine Fallgruppe, an der sich die Geister scheiden. Er stellte die Frage, wie die Richter des Supreme Court zwischen 1957 und 1967 auf 61 Verfassungsbeschwerden von Sitzdemonstranten geantwortet hatten. Sit-Ins waren in dieser Zeit das bevorzugte Kampfmittel der schwarzen Bevölkerung um den Zugang zu den sog. Public Accommodations, also zu Verkehrsmitteln, Kinos, Restaurants usw., von denen sie durch die privaten Eigentümer ausgesperrt wurden. Grosman stellte also die Frage, ob die Richter auf diesen »Reiz« zugunsten oder zu Ungunsten der Demonstranten reagiert hatten. Dabei zeigte sich erneut nicht nur ein bemerkenswert konstantes Abstimmungserhalten der einzelnen Richter, sondern es ergaben sich auch wieder drei Gruppen, eine liberale Gruppe aus den Richtern Douglas, Warren, Brennan und Goldberg, die in allen Fällen zugunsten der Demonstranten entschied, eine (konservative) Oppositionsgruppe von drei Richtern, die zwar viele einstimmig ergangene Entscheidungen zugunsten der Demonstranten mittrug, aber sich in kaum weniger Fällen doch zu einem dissenting vote gegen die Mehrheit zusammenfand. Und schließlich gab es noch zwei Richter, die zwar mehrheitlich den Demonstranten Recht gaben, sich aber keiner der beiden anderen Gruppen zuordnen ließen. [6]Noch immer lesenswert die ausführliche Darstellung und Würdigung der Untersuchungen von Pritchett und Grosman bei Raiser, Einführung in die Rechtssoziologie, (JA Sonderheft 9) 2. Aufl. 1973, S. … Continue reading Das Attitüden-Modell beherrscht bis heute die Forschung. Murphy, Epstein, Maltzman u. a. haben es allerdings zu einem Strategie-Modell umgebaut. [7]Walter F. Murphy, Elements of Judicial Strategy, University of Chicago Press, 1964; Walter F. Murphy/C. Herman Pritchett/Lee Epstein, Courts, Judges and Politics, Washington, DC: Congressional … Continue reading Danach verfolgen Richter ihre politischen Präferenzen im Einzelfall nur »strategisch«
– Sie nehmen Rücksicht auf die Positionen der anderen Richter im Kollegium. Dabei gibt es auch gruppendynamische Effekte.
Den statistischen Beweis führen Meinke und Scott. [8]Scott R. Meinke/Kevin M Scott, Collegial Influence and Judicial Voting Change: The Effect of Membership Change on U.S. Supreme Court Justices, Law & Society Review 41, 2007, 909-938. Ein anekdotisches Beispiel aus dem deutschen Kontext bietet das Urteil des BVerfG vom 9. 12. 2008 zur Pendlerpauschale (2 BvL 1/07). Die Presse vermutet, dass es sich um ein Geschenk des Senats an den neuen Richter und Senatsvorsitzenden Vosskuhle gehandelt haben könnte, der hier sein erstes Urteil zu verkünden hatte.
– Sie nehmen Rücksicht auf die Meinung und mögliche Reaktionen der Öffentlichkeit.
Eine Untersuchung, die 146 Entscheidungen des US Supreme Court aus der Zeit von 1934-1986 mit den Ergebnissen von Meinungsumfragen vergleicht, die etwa zur gleichen Zeit durchgeführt wurden, gelangt zu dem Ergebnis, dass die Entscheidungen de facto überwiegend mit der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung übereinstimmten. [9]Thomas R. Marshall, Public Opinion and the Supreme Court, Boston 1989
– Sie nehmen Rücksicht auf Reaktionen in der institutionellen Umgebung des Gerichts, d. h. auf mögliche Reaktionen der Verwaltung oder des Gesetzgebers. So könnte die Implementation einer Entscheidung vorhersehbar an der Bürokratie scheitern oder ein konservativer Gesetzgeber könnte eine liberale Entscheidung durch ein neues Gesetz unterlaufen.
Letztlich soll es aber auch nach dem strategischen Modell dabei bleiben, dass Richter auf ihre politischen Ziele hinarbeiten. Recht wird dabei mehr oder weniger nur als Restriktion angesehen, die man sozusagen opportunistisch respektieren muss.
Ganz gleich, ob das Votum eines Richters für eine bestimmte Entscheidung als abhängige oder als unabhängige Variable dienen soll, es muss zuvor codiert werden. Das ist nicht immer so einfach wie bei den Demonstrationsfällen in der Auswahl von Grosman. Aber im Großen und Ganzen gibt es doch eine erhebliche Übereinstimmung, welche Fälle als »Reiz« für unterschiedliche Reaktionen dienen können. Als »liberal« gelten etwa Entscheidungen für die Ausweitung von Bürgerrechten, für die Einschränkung oder Abschaffung der Todesstrafe, für die Erweiterung von Verfahrensrechten von Angeklagten, für die Rechte von Strafgefangenen, für Arbeitnehmerrechte, für die Ansprüche von Minoritäten, von Frauen und Homosexuellen, gegen die Einschränkung oder das Verbot der Abtreibung, für Asyl, für die Einschränkung des Waffenbesitzes, für Umweltschutzmaßnahmen, gegen Verwaltungsakte, die Individuen belasten. Die bloße Zweiteilung ist sehr grob. Dieselben Richter, die sich bei bestimmten Fallgruppen als »liberal« erweisen, können bei anderen auch »konservativ« stimmen. Das Ergebnis der Auszählungen zeigt regelmäßig einen dritte Gruppe, die sich keinem Lager zuordnen lässt.
Für die Zuordnung der Richter zu einer Einstellung dienen heute hauptsächlich vier unterschiedliche Codierungsverfahren.
(1) Das einfachste Merkmal, das sich aber als erstaunlich robust erwiesen hat [10]Eine Metastudie von 1999, die über 100 Einzeluntersuchungen heranzieht, bestätigt die verbreitete Ansicht, dass die Beziehungen eines Richters zu einer politischen Parteien als verlässlicher … Continue reading, ist die Parteizugehörigkeit des Präsidenten, der den Richter ernannt hat. Heute werden jedoch drei andere Merkmale bevorzugt.
(2) Segal-Cover-Scores: Die politische Einstellung der Richter wird aus der Einschätzung in den Leitartikeln von vier führenden Zeitungen ermittelt, die vor der Bestätigung der Richter durch den Kongress erscheinen. Dieser Wert hat es zu Wikipedia-Ehren gebracht.
(3) Martin-Quinn-Scores: Hier wird lediglich gezählt, ob der Richter für die Bestätigung oder für die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und wer dabei mit wem gestimmt hat. [11]Andrew D. Martin/Kevin M. Quinn, Dynamic Ideal Point Estimation via Markov Chain Monte Carlo for the United States Supreme Court, 1953-1999, Political Analysis 10, 2002, 134-153; Andrew D. Martin u. … Continue reading Die Maßzahl, die dabei herauskommt, soll auf einer Skala von 0 bis 1 den ideal point des Richters anzeigen, die Richtung, in der er Politik gestalten möchte. Die Martin-Quinn-Scores werden für jedes Jahr neu berechnet und können damit einen Einstellungswandel der Richter abbilden. Der ideological drift ist zurzeit ein heißes Thema; es wird behauptet, dass die meisten Richter während ihrer Amtszeit ihre politische Einstellung ändern. [12]Lee Epstein u. a., Ideological Drift Among Supreme Court Justices: Who, When, and How Important? http://www.law.northwestern.edu/lawreview/Colloquy/2007/8/ [5.1.2009].
(4) Die politische Einstellung der Richter wird aus ihrem Entscheidungsverhalten ermittelt (behavioral assessment). Ein Richter wird also als »liberal« eingestuft, wenn er für »liberale« Urteile votiert und umgekehrt. Das ist der Weg, den Grosman zuerst eingeschlagen hatte. Damit kein Zirkelschluss herauskommt, eignet sich die so gewonnene Einstufung als unabhängige Variable nur für Fälle, die nicht schon der Einstufung zugrunde lagen.
Fischman und Law haben alle vier Methoden durchgerechnet und bei allen statistisch signifikante Ergebnisse erhalten. Allerdings führen – so Fischman und Law – die Martin-Quinn-Scores und das behavioral assessment zu den genauesten Vorhersagen. Die Schwankungsbreite ist dennoch erheblich, und die Interpretation der Zahlen bleibt schwierig. Das gilt zunächst, weil viele Entscheidungen, und zwar auch solche, die sich als »liberal« oder »konservativ« einordnen lassen, einstimmig ergehen. Und das gilt ferner, weil strategisches Richterverhalten nicht erfasst werden kann. Schließlich weisen Fischman und Law auf eine besondere Problematik des Ideologiebegriffs hin, die sich daraus ergibt, dass sich auch bestimmte juristische Grundeinstellungen als »ideologisch« ansehen lassen, ohne dass sie von vornherein politisch sein müssten. Das gilt in den USA insbesondere für die Methoden der Verfassungsauslegung, für originalism und textualism auf der einen sowie für intentionalism und das Prinzip der living constitution auf der anderen Seite.
Die Juristen in den USA haben sich mit dem Attitüdenmodell der Politikwissenschaft, nachdem Richter bei ihren Entscheidungen in erster Linie ihren politischen Vorstellungen folgen, nicht anfreunden können. Ungeachtet aller empirischen Untersuchungen bestehen sie darauf, dass Richter sich durch das Recht, und das heißt in den USA vor allem, von Präjudizien, leiten lassen. Man sieht eine Kluft zwischen Politikwissenschaft und öffentlichem Recht, und verlangt, das Recht ernst zu nehmen. [13]Barry Friedman, Taking Law Seriously. Perspectives on Politics, Bd. 4, No. 2, Juni 2006; verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=896921. Tamanaha macht geltend, die Politikwissenschaft habe sich durch das Subsumtionsmodell in die Irre führen lassen. Juristen selbst hätte nie daran geglaubt, dass sie das Recht umstandslos mit logischen Schlüssen allein aus Tatsachen und Rechtsnormen ableiten könnten, und auch die Legal Realists seien nicht so unrealistisch gewesen, das zu unterstellen. Die Rezeption ihrer Schriften habe jedoch den Mythos von Jurisprudenz und Rechtsprechung als mechanischen Tätigkeiten begründet, nach dem Juristen kein Recht schafften, sondern es nur anwendeten. Die Politikwissenschaft habe es sich zur Aufgabe gemacht, mit ihren quantitativen Untersuchungen, diesen Mythos zu widerlegen, indem sie den politischen Charakter der Rechtsprechung beweise. Damit reite sie auf einem tiefsitzenden Vorurteil und gebe dem Nachweis, das Normen, Präjudizien und Rechtsprinzipien die Entscheidung leiten könnten, keine Chance.
Letztlich geht es bei dieser – wie bei vielen anderen Kontroversen auch – wohl eher um ein Missverständnis. Es folgt daraus, dass Juristen die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen zur Kenntnis nehmen, ohne die Leistungsfähigkeit der eingesetzten Methoden zu bedenken. Umgekehrt tragen die Politikwissenschaftler zu diesem Missverständnis bei, indem sie mit missionarischem Eifer einen Popanz in Juristenköpfen zu bekämpfen versuchen. Sie erscheinen auch dadurch als befangen, weil sie ihren Blick ganz überwiegend nur auf den Supreme Court legen, die relativ unpolitische Arbeit der anderen Gerichte aber vernachlässigen. [14]Neuere Untersuchungen der Urteile anderer Gerichte kommen daher auch zu viel differenzierteren Ergebnissen (David E. Klein, Making Law in the United States Court of Appeals, Cambridge University … Continue reading
Fischman und Law verteidigen die empirische Justizforschung gegen Kritik, die in jüngerer Zeit aufgekommen ist, darunter auch die Kritik von Tamanaha. Der Weg, den sie dazu einschlagen, führt durch eine minutiöse Darstellung der vielen Probleme, die empirische Untersuchungen richterlichen Entscheidungsverhaltens mit sich bringen. Die Autoren beginnen mit dem unklaren Ideologiebegriff und führen durch die Schwierigkeiten der Messbarmachung und Operationalisierung der Variablen bis hin zu den verschiedenen statistischen Modellen. Damit wollen sie bekämpfen, was interdisciplinary ignorance genannt wird, nämlich die Unfähigkeit vieler Juristen, die Ergebnisse quantitativer Sozialforschung angemessen zu interpretieren. Der Artikel mit seinen 53 eng bedruckten Seiten steht bei SSRN zum Download zur Verfügung.

Nachtrag vom 8. 12. 2009: Zum Thema jetzt William M. Landes, Richard A. Posner, Rational Judicial Behavior: A Statistical Study, in der neuen Online-Zeitschrift Journal of Legal Analysis 1, 2009, Heft 2. Hier das Abstract:

This paper analyzes the connection between ideology and voting of judges using a large sample of court of appeals cases decided since 1925 and Supreme Court cases decided since 1937. The ideological classifications of votes (e.g., liberal or conservative) are dependent variables in our empirical analysis and the independent variables include the party of the appointing President, the relative number of Republican and Democratic Senators at the time of the judge‘s confirmation, the appointment year, characteristics of the judge (e.g., gender, race and prior experience), and the ideological make-up of the judges on the court in which the judge sits as measured by the relative number of judges appointed by Republican and Democratic Presidents. We have a number of interesting results, including how a judge‘s voting‘s is affected by the voting of the other judges he serves with. We find a political-polarization effect among Justices appointed by Democratic but not by Republican Presidents; that is, the fewer the judges appointed by Democratic Presidents, the more liberally they vote. With regard to court of appeals judges, we find a conformity effect: if the number of judges appointed by Republican Presidents increases (decreases) relative to the number appointed by Democratic Presidents, all judges in the circuit tend to vote more conservatively (more liberally).

Nachtrag vom 7. 4. 2021: Zum Einfluss politischer Parteien auf die Bestellung von Richtern und ihre Entscheidungen

Stolzenberg, Ross and Lindgren, James T., Judges as Party Animals: Retirement Timing by Federal Judges and Party Control of Judicial Appointments (March 23, 2021). Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=3810451 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3810451 .
Nachtrag vom 13. 10. 2022: Die Thematik erhält eine neue Wendung durch die Entwicklung künstlicher Intelligenz. In den USA werden Programme entwickelt, mit deren Hilfe verfügbare Daten individueller Richter ausgewertet werden, um seine Entscheidungen vorhersehbar zu machen. Diese Programme arbeiten mit der Prämisse, das einzelne Richter aus einer politischen oder religiösen Perspektive urteilen, die sich aus Mustern in den von ihnen verfügbaren Daten herausfinden lässt. Konstantin Kuchenbauer (Der Gläserne Richter, JZ 2021, 647-655) sieht in der Verwendung solcher Programme einen Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit. Er übergeht allerdings die Frage, ob sie nicht zu wissenschaftlichen Zwecken i. S. des Art. 85 DS-GVO gerechtfertigt sein könnte. Auch seine Ansicht, dass »eine softwarebasierte Datenanalyse zur Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen für die breite Öffentlichkeit nicht von Interesse« sei, ist diskussionswürdig.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Katja Gelinsky, Hoffen auf die Wende, FAZ Nr. 1 vom 2. 1. 2009, S. 10.
2 States Supreme Court Database, zusammengestellt von Harold J. Spaeth (http://www.cas.sc.edu/poli/juri/sctdata.htm [5.1.09]).
3 Courts of Appeals Database, zusammengestellt von Donald R. Songer (http://www.cas.sc.edu/poli/juri/appctdata.htm [5.1.09]).
4 C. Herman Pritchett, The Roosevelt Court. A Study in Judicial Politics and Values 1937-1947, 1948.
5 Joel B. Grossman, A Model for Judicial Policy Analysis. The Supreme Court and the Sit-in-Cases, in: Grossman/Tanenhaus, Frontiers of Judicial Research, 1969, 405-460.
6 Noch immer lesenswert die ausführliche Darstellung und Würdigung der Untersuchungen von Pritchett und Grosman bei Raiser, Einführung in die Rechtssoziologie, (JA Sonderheft 9) 2. Aufl. 1973, S. 39-49. In den »Grundlagen der Rechtssoziologie« (2007) ist davon nicht mehr die Rede.
7 Walter F. Murphy, Elements of Judicial Strategy, University of Chicago Press, 1964; Walter F. Murphy/C. Herman Pritchett/Lee Epstein, Courts, Judges and Politics, Washington, DC: Congressional Quarterly Press 1997.
8 Scott R. Meinke/Kevin M Scott, Collegial Influence and Judicial Voting Change: The Effect of Membership Change on U.S. Supreme Court Justices, Law & Society Review 41, 2007, 909-938.
9 Thomas R. Marshall, Public Opinion and the Supreme Court, Boston 1989
10 Eine Metastudie von 1999, die über 100 Einzeluntersuchungen heranzieht, bestätigt die verbreitete Ansicht, dass die Beziehungen eines Richters zu einer politischen Parteien als verlässlicher Indikator für eine »ideologische« Rechtsprechung gelten können (Daniel R. Pinello, Linking Party to Judicial Ideology in American Courts: A Meta-Analysis, The Justice System Journal 20, 1999, 219-254, verfügbar unter http://www.danpinello.com/Meta-Analysis.htm).
11 Andrew D. Martin/Kevin M. Quinn, Dynamic Ideal Point Estimation via Markov Chain Monte Carlo for the United States Supreme Court, 1953-1999, Political Analysis 10, 2002, 134-153; Andrew D. Martin u. a., The Median Justice on the United States Supreme Court, N.C. L. REV. 83, 2005, 1275 (verfügbar unter http://www.law.nyu.edu/ecm_dlv/groups/public/@nyu_law_website__academics__colloquia__law_economics_and_politics/documents/documents/ecm_pro_059079.pdf) Die statistischen Methoden kann ich nicht nachvollziehen. Eine für Juristen bestimmte Erläuterung bietet Ward Farnsworth, The Use and Limits of Martin-Quinn Scores to Assess Supreme court Justices, Northwestern University School of Law Review Colloquy 101, 2007, 142-154 (http://www.law.northwestern.edu/lawreview/colloquy/2007/11/LRColl2007n11Farnsworth.pdf).
12 Lee Epstein u. a., Ideological Drift Among Supreme Court Justices: Who, When, and How Important? http://www.law.northwestern.edu/lawreview/Colloquy/2007/8/ [5.1.2009].
13 Barry Friedman, Taking Law Seriously. Perspectives on Politics, Bd. 4, No. 2, Juni 2006; verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=896921.
14 Neuere Untersuchungen der Urteile anderer Gerichte kommen daher auch zu viel differenzierteren Ergebnissen (David E. Klein, Making Law in the United States Court of Appeals, Cambridge University Press, 2002; Frank B. Cross, Decision Making in the U.S. Court of Appeals, Stanford Univ. Press 2007).

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Der Emeritus als Privatgelehrter

Mit der Emeritierung verabschiedet man sich in aller Regel von einem Mitarbeiterstab, von seiner über Jahre hin aufgebauten Handbibliothek und von der Ausstattung mit Geldmitteln für neue Bücher, Reisen und was man sonst noch so brauchen kann. Man behält ein kleines Zimmer mit Telefon und einem Computer älteren Datums. Darüber hinaus gibt es Kollegen, die ihre Hilfsbereitschaft zusichern, die man aber doch ungern so oft in Anspruch nimmt, wie man sie brauchen könnte. So wird man denn zum Privatgelehrten. Der Schwerpunkt der Arbeit verlagert sich in das häusliche Arbeitszimmer, wo im Zweifel der bessere Computer steht und wo sich im Laufe der Jahre auch eine private Bibliothek angesammelt hat. Da kann man nun versuchen, den Anschluss an sein altes Fach zu halten, sich von Zeit zu Zeit mit Veröffentlichungen, Vorträgen oder der Neuauflagen seiner alten Bücher zu Wort zu melden und voller Selbstmitleid den Verlust aller wesentlichen Ressourcen beklagen. Reflektiert man dann aber die eigenen Arbeitsbedingungen, so muss das Urteil gar nicht so trübe ausfallen. Erst jetzt lernt man den Kollegen Computer richtig zu schätzen. Er hilft mit Datenbanken und bringt Dokumentenlieferdienste auf Trab. Die im Internet ohne den Gang zu Bibliothek erreichbaren Materialien haben einen solchen Umfang angenommen, dass man sie nicht gar mehr ausschöpfen kann. Man muss zwar vorsichtiger sein als mit gedruckten Büchern. Das Internet ist ein großer Selbstverlag, in dem jeder ohne Kontrolle publizieren kann. Doch viele Autoren stellen auch bereits gedruckte oder noch zu druckende Arbeiten ins Netz, weil sie aus gutem Grund annehmen, dass man sie sonst kaum lesen würde. Andere, und sie werden zahlreicher, veröffentlichen ihre Arbeiten von vornherein unter einer Creative Commons Lizenz oder stellen sie gar in die Public Domain. Auf technische Hilfe und materielle Ressourcen ist jedenfalls der Geisteswissenschaftler gar nicht mehr so sehr angewiesen.
Vielleicht kann er sich sogar eine kleine Nische erobern, weil er anders arbeitet, insbesondere andere Quellen heranzieht, als die aktiven Kollegen. Wer den Gang zur Bibliothek Hilfskräften überlässt und die Bücher nicht selbst aus dem Regal holt oder wer gar nur noch mit Kopien arbeitet, die er sich aus Büchern und Zeitschriften anfertigen lässt, dem entgehen viele Kollateralfunde. So nenne ich Informationen, nach denen ich nicht unmittelbar gesucht habe, die auch gar nicht direkt zum Thema gehören müssen, die mir aber doch beim Stöbern auffallen, die aus eingefahrenen Gedankengeleisen herausführen können und die sich nicht selten in die laufende Arbeit einbauen lassen. Noch viel häufiger ist solcher Beifang beim Surfen im Internet. Deshalb bekommt er auch gleich einen neuen Namen: Serendipity-Effekt. Beim Gugeln (kein Schreibfehler) nach bestimmten Informationen stoße ich immer wieder auf andere, die ich im Augenblick gar nicht gesucht habe, die aber doch interessant und relevant erscheinen, und die ich, hätte ich sie direkt gesucht, vielleicht gar nicht gefunden hätte.
Was der Emeritus am meisten entbehrt, ist das tägliche Gespräch mit Mitarbeitern und Studenten. Dafür ist das Internet nur ein dürftiger Ersatz. Es zeigt sich, dass – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – die Interaktivität, für die das Internet so gepriesen wird, bloße Möglichkeit bleibt. So dient mein Weblog vor allem dem (vernehmbaren) Selbstgespräch.
Kann man den Privatgelehrten unserer Tage vielleicht sogar beneiden? So abwegig ist die Frage nicht. Bachelorisierung der Studiengänge und Modularisierung des Stoffes einschließlich der zugehörigen Prüfungsverpflichtungen darf er anderen überlassen. (Meine Nachfolgerin durfte zum Semesterschluss gerade 420 Rechtsphilosophieklausuren korrigieren.) Man hört und liest von der auch in der Universität überall spürbaren Kommerzialisierung, von der drängenden Forderung nach Effizienz, von permanenter Evaluation, die messbaren Output und Erfolge bei der Gewinnung von externem Geld zum Maßstab nimmt. Vor aller Forschung kommt heute das Schreiben von Drittmittelanträgen. Die schwierige Situation der aktiven Professoren war im Sommer mehrfach Thema in der FAZ (Heike Schmoll, Die Omnipräsenz der Professoren im Wissenschaftstourismus, F.A.Z., 12.06.2008, Nr. 135 / Seite 8; Alexander Kosenina, Der Vollzeitprofessor stirbt langsam aus, FAZ, 12.06.2008, Nr. 135 / Seite 41; Leserbrief »Wo bleibt der Protest der Hochschullehrer?« von Prof. Dr. Horst Haider Munske, F.A.Z., 30.06.2008, Nr. 150 / Seite 9). Der Emeritus bleibt von alledem ziemlich unberührt und kann unbesorgt zwischen Schreibtisch und Golfplatz pendeln.
Dienen solche Überlegungen nur der Dissonanzreduktion? Es bleibt das Problem: Der Privatgelehrte weiß nicht, was ihm entgeht, weil er es nicht erlebt.

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Eine Diskussion über H. L. A. Harts Anerkennungsregel

Was für die Rechtstheorie in Österreich und Deutschland Kelsens Grundnorm, das ist für England und die USA Harts »rule of recognition«. Der Unterschied liegt darin, dass die Grundnorm (wie ich sie verstehe) eine bloße Denkvoraussetzung in Sinne der Philosophie des Als-Ob bildet, während die rule of recognition eine empirisch greifbare Basisnorm meint, die allerdings nicht als förmlicher Rechtstext gefasst sein muss. Der richtige Vergleichspunkt für die rule of recognition ist daher gar nicht die Grundnorm, sondern die höchste positive Norm im Stufenbau der Rechtsordnung. Wenn man konkret auf eine bestimmte Rechtsordnung sieht, so geht es um die zentralen Kompetenznormen der Verfassung. In der Allg. Rechtslehre (S. 318 f.) ordnen wir die Lehre Harts als Anerkennungstheorie ein. Aber das ist doch sehr grob.
Wer einen feineren Theorievergleich unternehmen will, dem hilft jetzt ein Aufsatz von Scott J. Shapiro, What is the Rule of Recognition (and Does it Exist)? Und vielleicht das ganze Buch, in dem er erscheinen soll (The Rule of Recognition And the U.S. Constitution, herausgegeben von Matthew Adler und Kenneth Himma, Oxford University Press, 2009). Shapiros Aufsatz (auf den ich natürlich einmal wieder durch Lawrence L. Solum aufmerksam geworden bin) steht jedenfalls zur Zeit noch bei SRRN zum Abruf bereit.
Hier das Abstract:

One
of the principal lessons of The Concept of Law is that legal systems are not only comprised of rules, but founded on them as well. As Hart painstakingly showed, we cannot account for the way in which we talk and think about the law – that is, as an institution which persists over time despite turnover of officials, imposes duties and confers powers, enjoys supremacy over other kinds of practices, resolves doubts and disagreements about what is to be done in a community and so on – without supposing that it is at bottom regulated by what he called the secondary rules of recognition, change and adjudication.

Given this incontrovertible demonstration that every legal system must contain rules constituting its foundation, it might seem puzzling that many philosophers have contested Hart’s view. In particular, they have objected to his claim that every legal system contains a rule of recognition. More surprisingly, these critiques span different jurisprudential schools. Positivists such as Joseph Raz, as well as natural lawyers such as Ronald Dworkin and John Finnis, have been among Hart’s most vocal critics. In this essay, I would like to examine the opposition to the rule of recognition. What is objectionable about Hart’s doctrine? Why deny that every legal system necessarily contains a rule setting out the criteria of legal validity? And are these objections convincing? Does the rule of recognition actually exist?

This essay has five parts. In Part One, I try to state Hart’s doctrine of the rule of recognition with some precision. As we will see, this task is not simple, insofar as Hart’s position on this crucial topic is often frustratingly unclear. I also explore in this part whether the United States Constitution, or any of its provisions, can be considered the Hartian rule of recognition for the United States legal system. In Part Two, I attempt to detail the many roles that the rule of recognition plays within Hart’s theory of law. In addition to the function that Hart explicitly assigned to it, namely, the resolution of normative uncertainty within a community, I argue that the rule of recognition, and the secondary rules more generally, also account for the law’s dexterity, efficiency, normativity, continuity, persistence, supremacy, independence, identity, validity, content and existence. In Part Three, I examine three important challenges to Hart’s doctrine of the rule of recognition. They are: 1) Hart’s rule of recognition is under- and over-inclusive; 2) Hart cannot explain how social practices are capable of generating rules that confer powers and impose duties and hence cannot account for the normativity of law; 3) Hart cannot explain how disagreements about the criteria of legal validity that occur within actual legal systems, such as in American law, are possible. In Parts Four and Five, I address these various objections. I argue that although Hart’s particular account of the rule of recognition is flawed and should be rejected, a related notion can be fashioned and should be substituted in its place. The idea, roughly, is to treat the rule of recognition as a shared plan which sets out the constitutional order of a legal system. As I try to show, understanding the rule of recognition in this new way allows the legal positivist to overcome the challenges lodged against Hart’s version while still retaining the power of the original idea.

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