Wir sind alle Deterministen

Die Bochumer Professoren Tatjana Hörnle und Rolf D. Herzberg hatten für den 6. und 7. Juni 2009 einen kleinen Kreis zu einem Symposium über »Verantwortung ohne Willensfreiheit« auf die Wasserburg Gemen eingeladen. Die Eingeladenen bekannten mehr oder weniger freimütig: Wir sind alle Deterministen. Es gab aber auch Konsens, dass sich an dem bestehenden Schuldstrafrecht prinzipiell nichts ändern müsse. Reinhard Merkel insistierte zwar darauf, man dürfe sich insoweit nicht mit einem »faulen Agnostizismus« zufrieden geben. Aber die philosophische Ebene wurde weitgehend ausgespart. Vorträge und Diskussionen behandelten die Folgeprobleme auf drei Ebenen:
1. Welche Unordnung richtet die wissenschaftliche Überzeugung der Determiniertheit der Welt in unserer sozialen Semantik an? Wie können wir denken, reden und argumentieren, ohne ständig die Determiniertheit des Handelns mitzuführen?
2. Bleibt tadelnde Strafe zur Normverteidigung trotz Unmöglichkeit des Andershandelns akzeptabel?
3. Welche konkreten Anpassungen des Schuldstrafrechts werden notwendig?
Auf die erste Frage antwortete Bernd Schünemann (München) »konstruktivistisch«: Die »gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit«, wie sie sich in der Sprache realisiert habe, setze nun einmal, jedenfalls in Europa, die Idee der Willensfreiheit voraus [1]Vgl. auch schon Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: ders. (Hg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 153-195, 163 ff.. In der Diskussion wurde klar, dass diese Konstruktion mindestens als kontingent angesehen werden muss. Auf die zweite Frage antworteten Reinhard Merkel (Hamburg) und Rolf Herzberg (Bochum). Merkel rechtfertigte die Schuldstrafe als gesellschaftlich geforderte und notwendige Maßnahme zur Normverteidigung. Therapie werde immer als Prävention verstanden und sei deshalb keine Verteidigung der Norm. Ohne dass der Name gefallen wäre, war doch klar, dass hier Luhmanns Kategorisierung der Normen als lernunwillig festgehaltener Erwartungen herangezogen wurde. Aber doch nur der halbe Luhmann. Ich hatte den Eindruck, dass Strafrechtlicher trotz aller Bemühung um Realismus die partielle Äquivalenz von Maßnahmen und Verfahren mit Sanktionen ausblenden. Herzberg brachte den Gedanken der Charakterschuld ins Gespräch. Dabei ging es nicht um die alte Idee eines Täterstrafrechts, sondern um das Phänomen, dass eine biographische Prägung, die eine konkrete Handlung determiniert, weder das subjektive Freiheitsempfinden noch die Fremdeinschätzung als freie Handlung hindert. Dafür brauche man weder PAM (das Prinzip alternativer Möglichkeiten) noch eine Superfreiheit. In der Diskussion wurde Herzbergs Ansatz »phänomenologisch« genannt und betont, dass seine Vorstellung von Charakterschuld ebenso mit den Thesen des neuronalen Determinismus vereinbar sie wie mit § 20 StGB. Allerdings wurden Zweifel angemeldet, ob das auch für § 3 JGG gelte. Die dritte Frage wurde allgemein dahin beantwortet, es könne im Prinzip alles so bleiben wie es ist. Aber Grischa Merkel (Rostock) setzte doch einen Akzent, indem sie jedenfalls für das Maßnahmenrecht auf Fairness statt Schuld abstellte und den Betroffenen in geeigneten Fällen ein Wahlrecht zwischen Strafe und Maßnahme einräumen wollte. Im Anschluss an ihren Vortrag staunte ein altgedienter Strafrechtler, wie sehr sich durch die laufenden Veränderungen in den §§ 61 ff StGB das Strafrecht längst zum Maßnahmerecht entwickelt habe. Am Rande fielen kritische Bemerkungen zur Unkontrollierbarkeit der Sachverständigen und zum diskretionären Charakter richterlicher Maßnahmeentscheidungen.
Für mich als Außenseiter war mindestens so interessant wie die grundsätzlichen Fragen, was man so am Rande in den Diskussionsbemerkungen erfuhr, z. B.: Auf die Frage, wozu denn wirklich heute die Neurowissenschaften fähig seien, antwortete R. Merkel mit dem Hinweis auf einen Videoclip von der Webseite von Karl Deisseroth (Deisseroth Lab, Stanford), das eine Maus zeigt, die durch einen optischen Reiz auf den Cortex dazu gezwungen wird, gegen den Uhrzeigersinn im Kreis zu laufen. Richtig verstanden habe ich die Bedeutung des Experiments, das auf der Webseite in allen technischen Details beschrieben wird, nicht. Ein halbwegs verständlicher Bericht unter http://www.technologyreview.com/biomedicine/22313/. Anscheinend müssen die Hirnzellen vorher präpariert werden, um derart lichtempfindlich zu werden, und der Lichtimpuls löst dann biochemische Reaktionen aus, die als Belohnung wirken, wie eine Dosis Kokain oder Amphetamin mit der Folge, dass die Maus sich gerne an die Situation erinnert, wo sie den Impuls empfangen hat. Was folgt daraus? Auch früher schon konnte man Tiere und Sklaven mit der Zuckerbrot und Peitsche antreiben, im Kreis zu laufen.
(Beitrag ergänzt am 14. Juni 2009.)
Nachtrag vom 25. 8. 2009: In der Septemberausgabe von Spektrum der Wissenschaft findet sich ein lesenswertes Interview mit dem Neurophysiologen Wolf Singer (S. 74-79). Singer vertritt ja die Auffassung, dass es für verantwortliches Handeln keinen freien Willen im naturwissenschaftlichen Sinne braucht. Das Interview steht im Netz zur Verfügung: http://www.spektrum.de/artikel/1002943

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Vgl. auch schon Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: ders. (Hg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 153-195, 163 ff.

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