Naturschutz für den Menschen?

Naturschutz auch für den Menschen? Bio-Sex? Bio-Ehe? Bio-Kinder? Da wird die Sache heikel. Wer wäre »der Mensch«, der geschützt werden sollte? Die Frage nach der Natur des Menschen wird schnell zu einem normativen Unternehmen. Der Gedanke drängt sich auf, dass man sich seiner »Natur«, seinem »Wesen« entsprechend »menschlich« verhalten müsse. Wesensbestimmungen der menschlichen Natur haben zu unmenschlichen Konsequenzen geführt. Viele halten deshalb eine deskriptive Bestimmung der Natur des Menschen von vornherein für ausgeschlossen. Wer jedoch grundsätzlich die Unterscheidung von Sein und Sollen akzeptiert, wiewohl sie praktisch immer gefährdet ist, der wird auch Versuche einer wertfreien Bestimmung der »Natur« des Menschen nicht von vornherein abweisen.

Die Philosophie unterscheidet seit Aristoteles zwischen der ersten und der zweiten Natur. Die erste Natur ist die körperlich biologische. Die zweite Natur ist die kulturelle Ausformung der ersten. Die Begriffsbildung ist zwar philosophisch schwer beladen. Dennoch ist sie geeignet, um das Denken aus der konstruktivistischen Umklammerung zu befreien, das heißt, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, ohne ihn vollkommen zu entnaturalisieren.[1]

Für die Bestimmung der Natur des Menschen steht mit der Anthropologie eine ganze Disziplin mit Ausprägungen als naturwissenschaftliche, philosophische und Sozialanthropologie bereit. Anthropologie ist in der kulturalistisch orientierten Sozialwissenschaft herzlich unbeliebt, weil sie im Verdacht steht, nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf Kognitionen und Emotionen, auf Intelligenz und sexuelle Identität zu fragen. Für diese Abneigung kann man sich anscheinend auf den großen Kant berufen. Der hatte erklärt:

»[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet … werden.« (Metaphysik der Sitten, Einleitung II. a. E.)

Aber der Anschein trügt. Kants Ethik bleibt formal, das heißt, letztlich ohne Inhalt. Eine materiale Ethik muss die Kantischen Prinzipien verletzen. Sie muss Aussagen über die Welt aufnehmen, die a priori nicht zu haben sind. Für die Unterscheidung von Natur und Kultur ist Anthropologie jedoch wenig hilfreich.

Handfestere Aussagen findet man in Biologie, Psychologie und Medizin. Auch zwischen diesen Disziplinen und der Kultur gibt es unscharfe Grenzen, verändert doch Kultur auch körperliche Vorgänge, die lange als unveränderlich galten. Aber das ist nicht eigentlich das Problem. Biologen, Mediziner und Psychologen greifen ohne Schwierigkeiten auf die erste Natur des Menschen zurück, die ihnen mindestens als relative Unverfügbarkeit begegnet, und zwar relativ in mehrfacher Hinsicht, nämlich erstens zeitlich, zweitens statistisch und drittens durch die Wahl der Grundgesamtheit. Das zeigt sich gut am Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit, das seit Jahrzehnten die Diskussion bestimmt. Zweigeschlechtlichkeit ist insofern relativ, als sie nicht bei allen Lebewesen, sondern durchgehend nur bei Säugetieren und beim Menschen anzutreffen ist. Zweigeschlechtlichkeit ist statistisch relativ, weil sie nicht bei allen Exemplaren, die zu einer grundsätzlich zweigeschlechtlichen Gattung gehören, ausgeprägt ist. Und sie ist zeitlich relativ, weil sie sich erst im Laufe der Evolution entwickelt hat und weil man sich vorstellen kann, dass sie im Zuge der Evolution auch wieder verloren geht. Aber in diesem relativen Rahmen ist Zweigeschlechtlichkeit eben doch unverfügbar. Dieser Rahmen erscheint uns als Normalität. Was aus der Normalität fällt, ist deshalb nicht unnatürlich. Das Anormale ist Teil der Natur. Das wertend normative Urteil ist damit offen, wiewohl es unreflektiert von der normativen Kraft des Faktischen getrieben wird.

Was folgt daraus? In unserem Kulturkreis wird keiner, den wir ernst nehmen, widersprechen, wenn wir sagen, aus der »Natur der Sache« folge, dass Homosexualität nicht unmoralisch und schon garkeine Straftat sein kann, weil sie zur Natur gehört. Naturalia non sunt turpia. Die Einmütigkeit endet aber schon, wenn jemand erklärt, aus der »Natur der Sache« ergebe sich, dass Homosexualität als Behinderung im Sinne von § 2 SGB IX anzusehen sei, weil für Homosexuelle die Mehrzahl der Menschen als Geschlechtspartner ausscheidet und weil sie ohne Unterstützung Dritter keine Kinder bekommen können. Man wird sogleich entgegenhalten, damit werde ein natürlicher Zustand pathologisiert und in das binäre Geschlechterschema eingepasst. Zum Glück ist die Frage, ob Homosexualität als Behinderung subsumierbar ist, gegenstandslos, weil es keine Hilfemöglichkeiten oder gar Therapien gibt. Sie gegenstandslos aber auch deshalb, weil man aus § 9 SGB VIII Nr. 4 im Umkehrschluss folgern muss, dass die in Nr. 3 genannten nichtbinären Geschlechtlichkeiten nicht als Behinderungen anzusehen sind. Immerhin spricht das Natürlichkeitsargument für eine Privilegierung der traditionellen heterosexuellen Ehe. Doch insoweit ist der Zug längst abgefahren. Es bleibt nur noch Denkmalschutz.

Entscheidungsbedarf gibt es aber schon, wenn man fragt, ob Transsexualität und Intersexualität als Behinderung im Rechtssinne einzuordnen sind, denn hier ist medizinische Hilfe möglich, und sie wird auch gewünscht. Das ändert nichts daran, dass der Zustand ebenso natürlich ist wie ein Klumpfuss oder eine Hasenscharte. Die Situation der Betroffenen ist so individuell, dass Dritte sich schwerlich hineinversetzen können. Oft braucht es einen längeren Entwicklungsprozess, bis die geschlechtliche Identität subjektiv klar ist. Diesen Menschen darf man die sexuelle Selbstbestimmung, die eigentlich gar keine ist, nicht verwehren. Als Argument zulässig bleibt jedoch die Behauptung, die Natur spreche dagegen, fluide Geschlechtlichkeit schlechthin für wünschenswert zu halten. Dieses Argument wendet sich die Forderung nach einem Menschenrecht auf geschlechtliche Selbstbestimmung als Jedermann-Recht. Hier wird das Dilemma der Differenz relevant. Man muss sich entscheiden, was schwerer wiegt, die Vermutung, dass ein unbeschränktes Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung eine gefährliche Jugendmode befördern könnte oder die Aussicht, dass die wirklich Betroffenen entwürdigende Prüfungen über sich ergehen lassen müssen.

Auch bei trivialeren Problemen sind Natürlichkeitsargumente einschlägig, so etwa bei Bekleidungsvorschriften im Schwimmbad. In Berlin war eine Frau mit ihrer Antidiskriminierungsbeschwerde erfolgreich, die beanspruchte, sich im Schwimmbad ebenso mit bloßem Oberkörper aufzuhalten wie Männer. Gleichberechtigung ist hier der falsche Ansatz. Das Natürlichkeitsargument spricht gegen die Heranziehung des Gleichheitssatzes, denn der Oberkörper einer Frau ist »natürlich« anders als der eines Mannes. Viel eher kommt eine unzulässige Freiheitsbeschränkung in Betracht. Da wäre dann abzuwägen, was schwerer wiegt, Bekleidungs-Freiheit oder die Befürchtung vor einer Sexualisierung öffentlicher Plätze. Befürworter des Brustfrei-Schwimmens erhoffen sich im Gegenteil eine Entsexualisierung der weiblichen Brust. Dagegen ließe sich wiederum als Natürlichkeitsargument vorbringen, dass die sexuell stimulierende Wirkung sekundärer Geschlechtsmerkmale biologisch verankert sein könnte. Allein darüber könnte man dann wieder lange streiten. Während dessen käme auf einer anderen Ebene die Diskussion auf, ob aus der Erlaubnis des Brustfrei-Schwimmens nicht alsbald ein sozialer Zwang zum Frei-Schwimmen werden könnte mit der Folge, dass sich die Liste der diskriminierenden Praktiken analog zum fat shaming um ein tit-shaming verlängerte. Man sieht, es gibt keine zwingenden Argumente pro oder contra. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, dass Natürlichkeitsargumente nicht a limine unzulässig sind.

Natürlichkeitsargumente stützen einen Differenzfeminismus. Es gibt natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Daraus folgt aber nicht, dass man dem einen oder dem anderen Geschlecht irgendwelche gesellschaftlichen Positionen verwehren dürfte. Das Natürlichkeitsargument zieht jedoch gegenüber der Forderung, dass alle Geschlechter in allen gesellschaftlichen Positionen gleichmäßig repräsentiert sein müssten.

Streiten muss man über die Frage, ob auch erworbene, aber kontingente Verhaltensmuster des Menschen als natürlich gelten und damit als Basis für Natürlichkeitsargumente gelten können. Der Streit beginnt schon bei der Frage, ob es solche Muster überhaupt gibt, ob sie genetisch oder jedenfalls epigenetisch verankert sind oder ob es sich um sozialevolutionäre Errungenschaften bzw. Überbleibsel handelt. Ich habe mich auf die Sozialanthropologie Hellmuth Mayers bezogen. Mayer hatte die Vorstellung biologisch angelegter Verhaltensweisen zurückgewiesen, aber ein beträchtliches Erbe an Verhaltensmustern aus der Kleingruppenphase der Menschheitsgeschichte behauptet. Zwei Verhaltensmuser stehen immer noch und immer wieder zur Debatte: Männer zeigen ein stärkeres Wettbewerbsverhalten. Frauen haben eine größere Affinität zur Sorge für andere Menschen. Selbst wenn das zuträfe, folgte daraus kein Argument für ethische, politische oder juristische Normen. Der Gleichheitssatz ist stärker.


[1] Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.

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