Aktenzeichen XY-unbequem als Schnittstelle zwischen Bürger und Bürokratie

Der Digitalisierungsminister hat gerade eine fantastische Neuerung verkündet. Demnächst soll der Kraftfahrzeugschein digital verfügbar sein, so dass er nicht im Fahrzeug mitgeführt werden muss.[1]  Auf anderen Gebieten ist die Digitalisierung schon weiter vorangeschritten. Im Prinzip sind die Kommunen heute im Stande, mit Hilfe von Verkehrsüberwachungseinrichtungen (»Blitzer«) automatisch Verwarnungen und Bußgeldbescheide zu erzeugen.  Solche Bescheide müssen allerdings immer noch mit der Schneckenpost zugestellt werden. Immerhin bieten die Behörden meistens eine Internetadresse an, wenn man antworten will.

Zahlreich sind die Fälle, in denen dem Betroffenen angeboten wird, eine Verkehrsordnungswidrigkeit durch Zahlung eines Verwarnungsgeldes zu erledigen. Dazu wird die IBAN des Behördenkontos mitgeteilt und man wird aufgefordert, den fraglichen Betrag unter Mitteilung des Aktenzeichens oder eines Kassenzeichens zu übeerweisen. Neuerdings gibt es auch einen QR-Code zur Automatisierung des Online-Bankings.

Nun habe ich wegen einer geringfügigen Geschwindigkeitsübertretung ich eine Verwarnung über 30 EUR erhalten. Wollte ich bezahlen. Das gehört nun einmal zu den Nebenkosten des Autofahrens. Selbstverständlich nutze ich seit vielen Jahren das Online-Banking, allerdings nicht auf dem Handy; das ist mir zu fummelig, und Fachleute sagen, das sei auch zu gefährlich. Deshalb kann ich auch den QR-Code nicht nutzen. Da muss ich nun zunächst die IBAN händisch abschreiben. Das ist schon schlimm genug. Freundliche Gläubiger erleichtern diese Aufgabe, indem sie die IBAN optisch in fünf Vierer-Gruppen und eine Zweier-Gruppe aufteilen. Vier Zeichen kann ich mir für die Übertragung ohne weiteres merken, 22 dagegen kaum. Zudem gibt es für die Eingabe der IBAN einen doppelten Kontrollmechanismus, die Prüfziffer und die Wiedergabe von BIC und Geldinstitut. Den Geldbetrag einzugeben, ist dann kein Problem mehr. Anders steht es um den Verwendungszweck. Die Bank sagt in ihrem Formular, die Angabe sei optional.  Da fehlt mir die Motivation, nun noch das Aktenzeichen abzutippen, das aus 15 ohne Abstand gedruckten Ziffern besteht. Da könnte ich zu leicht einen Fehler machen. Einfacher ist, ich gebe das KFZ-Kennzeichen an. Mit Hilfe der Kombination aus Namen, Kennzeichen und Betrag sollte es wohl möglich sein, die Überweisung zuzuordnen. War es aber nicht. Nach drei Wochen wurde das  Geld zurücküberwiesen, weil man es nicht habe zuordnen können. Eine Nachfrage gab es nicht. Nun meint die Stadt natürlich, es sei ein Bußgeld fällig, da das Verwarnungsgeld nicht gezahlt worden sei. Ich bin da anderer Meinung. Aber darum geht es nicht. Diese Meinungsverschiedenheit kann ich allein austragen. Vielleicht ist mein Problem auch nur fiktiv. An dieser Stelle geht es mir allgemeiner um das Aktenzeichen als  Schnittstelle zwischen Bürger und Bürokratie.

Worum es geht, habe ich im Eintrag vom 8. Februar 2022 skizziert; es geht um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, und hier konkret um die Kommunikation zwischen Bürger und Bürokratie.

Klar: Die Verwaltungen wollen und müssen effektiv arbeiten. Das geht nicht ohne Digitalisierung. Bislang ist die Digitalisierung allerdings nur partiell gelungen. Eine Bruchstelle ist die Kommunikation zwischen Bürger und Bürokratie. Wenn der Bürger etwas von der Verwaltung will, bleibt ihm oft keine Wahl mehr, als sich aktiv in den digitalen Prozess einzubringen. Wenn umgekehrt die Verwaltung etwas von dem Bürger will, so ist das für letzteren in aller Regel belastend. Er hat keinen Grund, der Verwaltung digital entgegenzukommen. Die Verwaltung muss den automatischen Prozess durch Briefpost unterbrechen und wünscht, mit Hilfe des Aktenzeichens möglichst schnell in den automatischen Prozess zurückzufinden. Dafür hat der Bürger sogar ein gewisses Verständnis, jedenfalls wenn er sich fair behandelt fühlt. Aber davon kann keine Rede sein, wenn die Verwaltungen ihre Geschäfts- und Aktenzeichen ohne Rücksicht auf den Bürger bilden, von dem sie verlangen, dass er diese Zeichen verwendet. Es wäre unsachlich, an dieser Stelle geltend zu machen, dass nicht wenige Bürger es unfair finden, dass die Verwaltung die Verfolgung von Verkehrsübertretungen automatisiert, aus Bürgersicht, in erster Linie, um damit Einnahmen zu erzielen.

Faire Aktenzeichen, das heißt solche, die die Bürger verstehen, leicht erfassen und wiedergeben können – das geht nicht?  Das Minimum wäre eine drucktechnische Hervorhebung und Gliederung in Dreier- oder Vierer-Gruppen. Auch die Verwendung von sinnhaften Elementen wie Namensbestandteilen oder Sachbezeichnungen im Aktenzeichen ist denkbar. Dann wüsste auch der Bürger, wenn er später seine Kontoauszüge durchsieht, wofür er überwiesen hat. Der Bürger würde wohl gerne bei der Rationalisierung der Verwaltung kooperieren. Voraussetzung ist, dass die Digitalisierung auch ihm Vorteile bringt.

Der mitdenkende Bürger, der durchaus Verständnis für den Rationalisierungszwang der Verwaltung hat, hofft derweil, dass die Digitalisierung so fortgeschritten ist, dass die Verwaltung sein Anliegen oder seine Überweisung mit Hilfe seines Namens und eines weiteren Stichworts – bei Überweisungen sollte da schon der Betrag ausreichen – durch einen schlichten Suchbefehl auch ohne Aktenzeichen identifizieren kann. Heute müsste die EDV Aktenzeichen eigentlich überflüssig machen.

Zurück zum Ausgangsfall: Für die Erfüllung einer Geldforderung gilt als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch jenseits des Bürgerlichen Rechts § 362 BGB. Genau genommen ist die Zahlung durch Banküberweisung die Zahlung an einen Dritten. Die gilt nach § 362 II BGB als Erfüllung, wenn sie mit Einwilligung oder Genehmigung des Gläubigers erfolgt. Grundsätzlich gilt die Mitteilung eines Bankkontos als Einwilligung in diesem Sinne. Nun könnte die Behörde wohl geltend machen, sie habe ihre Einwilligung nur unter der Bedingung erteilt, dass als Verwendungszeck ihr Aktenzeichen mitgeteilt werde. Dann müsste aber wohl ganz allgemein gelten, dass im Geschäftsverkehr Überweisungen nur wirksam sind, wenn der Schuldner den vom Gläubiger gewünschten Verwendungszweck im Überweisungsformular angibt. Auf die Idee ist bisher aber wohl noch niemand gekommen. Dann müsste dazu wohl auch eine bedingungslose alternative Zahlungsmöglichkeit angeboten werden. Ganz interessant, auch noch einmal ins OWIG zu schauen. § 56 II 1 lautet, dass das Verwarnungsgeld »bei der hierfür bezeichneten Stelle oder bei der Post zur Überweisung an diese Stelle« einzuzahlen ist. Dass die Überweisung mit irgendwelchen Aktenzeichen verbunden sein müsste, kann ich dieser Vorschrift nicht entnehmen. Die »bezeichnete Stelle« ist schlicht das angegebene Bankkonto.


[1] § 13 VI Fahrzeug-Zulassungsverordnung – FZV. Vernünftige Leute lassen das Ding ohnehin zu Hause, ebenso den Führerschein.Mein Führerschein ist vom 23. 9. 1955.  Ich habe grundsätzlich nur Kopien im Handschuhfach und damit noch nie Probleme gehabt.

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Digitalisierung verstärkt die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation und erschwert den Zugang zum Recht

Heute, am Tag der Internetsicherheit, ausgerufen von der Europäischen Union, kommen die Schattenseiten der Digitalisierung in den Blick. Digitalisierung befestigt soziale Ungleichheit und erschwert den Zugang zum Recht. Dafür braucht man gar nicht erst nach Spanien zu schauen, wo die Rentner gegen das Online-Banking aufbegehren. Das ist nicht nur ein Altersproblem. Es geht vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die mit der Digitalisierung wächst.

Allerdings hinken die Alten mit der Internetnutzung hinterher:

Ich bin alt. Aber ich bilde mir ein, noch immer digifit zu sein. Anfang der 1980er Jahre war ich der erste in meiner Umgebung mit einem eigenen PC, einem Kaypro II mit dem CPM-Betriebssystem und zwei Floppy-Disk-Laufwerken mit 195 KB Speicherkapazität.

Das Textverarbeitungsprogramm hieß damals Wordstar. Da musste man noch einige Grundeinstellungen wie z. B. die Seitenränder direkt in das Programm eingeben. Ich habe dann alle Umstellungen auf die neueren Betriebssysteme, zuerst MSDOS und dann Windows mit seinen verschiedenen Versionen mitgemacht. Mein erstes Literaturverwaltungsprogramm habe ich mir mit dBase selbst zusammengebastelt. Leider – so muss ich heute sagen – habe ich irgendwann das wunderbare Textverarbeitungsprogramm Nota Bene zugunsten von Word verlassen. Auch den Wechsel zu cloudbasierten Diensten habe ich hinter mir. Noch in den 1980er Jahre gab es in Bochum die erste Tagung, bei der mit Hilfe der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in St. Augustin, die damals mit der Digitalisierung der Justizstatistik befasst war, Daten fernübertragen wurden.[1] Als Direktor des Zentralen Rechtswissenschaftlichen Seminars das erste JURIS-Terminal in Betrieb genommen und für Studenten zugängliche PC aufgestellt. Später habe ich für die Vereinigung für Rechtssoziologie eine Webseite eingerichtet, die – völlig veraltet – immer noch im Netz steht. Meine alte Lehrstuhlseite habe ich bis 2009 noch selbst gepflegt. Noch immer betreibe ich mit RSOZBLOG.de und Rechtssoziologie-online aktiv zwei Internetseiten. Nach alledem bilde ich mir ein, noch immer einigermaßen digifit zu sein. Aber nun bin ich doch mit der Steuererklärung mit dem neuen Mein Elster-Programm vorläufig gescheitert.

Ein Freund, der als Steuerberater zugelassen ist und dem ich davon erzählt habe, hat mir erklärt, er selbst wende sich an ein größeres Büro, um seine eigene und die Steuerklärungen seiner (wenigen) Mandanten abzugeben. Als ich mich heute am Tag der Internetsicherheit wieder bei Mein Elster einloggen will, verlangt das Programm, dass ich zuvor Java aktiviere. War nicht dieses Programm grade als Einfallstor für Computerhacks ins Gerede gekommen?

Keine Frage: Die Digitalisierung bringt viele Vorteile. Das Online-Banking bei der Commerzbank funktioniert erstklassig. Die Steuererklärung mit dem alten Elster-Programm lief ganz gut, und mit dem neuen Programm werde ich es auch noch schaffen. Aber es geht nicht um mich, der ich täglich so lange vor dem PC sitze wie andere vor dem Fernseher. Es geht auch nicht allein um Internetzugang und die Kompetenz zum Umgang mit kleinen und großen Endgeräten. Es geht wie gesagt vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die James S. Coleman schon vor Jahrzehnten für so grundlegend ansah, dass er von der asymmetrischen Gesellschaft sprach[2]. Mit der Digitalisierung ist die Differenz gewachsen, und sie wächst weiter.

Von den acht Merkmalen dieser Differenz, die ich in Rechtssoziologie-online § 76 VI. aufgezählt habe, ist besonders die Außenkommunikation betroffen.

Die alten Kommunikationswege – Präsenz, Brief, Telefon –, die jedermann einfach und kostengünstig zur Verfügung standen, sind unbrauchbar geworden. Sieht man einmal vom stationären Einzelhandel ab, so kommuniziert der Bürger heute mit Behörden und Firmen aller Art in der Hauptsache elektronisch. Der immer noch relativ einfache Email-Kontakt funktioniert in vielen Fällen nicht mehr. Organisationen verlangen, dass man sich auf ihren Webseiten anmeldet. Für den Kontakt genügen nicht Name und Anschrift, sondern es wird nach Passworten und nach vielstelligen Kunden- oder Geschäftsnummern gefragt. Das Individuum muss sich durch eine mehr oder weniger übersichtliche Internetseite durchklicken. Es kann sein Anliegen nicht frei formulieren, sondern nur vorformulierte Antworten ankreuzen. So ist die Kommunikation einseitig kanalisiert. Einen Sachbearbeiter bekommt man nicht mehr zu Gesicht und auch nicht mehr ans Telefon. Behörden und Unternehmen verbergen ihre Durchwahltelefonnummern und bieten nur noch eine Servicenummer an, die in ein Callcenter führt und dort, meistens nach Wartezeiten, oft mit einem automatisierten Sprachdialogsystem beginnt. Personen- oder ressortbezogene Mailadressen bleiben ebenso wie die Telefonnummern verborgen. In Behörden sind persönliche Vorsprachen nur noch nach elektronischer Terminvergabe möglich. Vom Bürger-Individuum wird verlangt, dass es eine Mailadresse unterhält, obwohl es sie aktiv kaum noch nutzen kann. Die Mailadresse dient nur noch den Organisationen als Identifikationsmerkmal und als Zugangskanal. Wenn man heute am Tag der Internetsicherheit in den Zeitungen liest, wie gefährlich der Umgang mit der Email ist, wünscht man sich den guten alten Briefkasten zurück. Man kann seine Email-Adresse aber auch nicht einfach wechseln. Damit hätte man sich aus vielen Diensten ausgesperrt.

Unter dem Thema »Zugang zum Recht – zugängliche Rechte« haben die deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen für 2023 eine Tagung angekündigt. Ich kann nur hoffen, dass dort auch die Erschwerung des Zugangs zu rechtlichen Dienstleistungen durch die Digitalisierung thematisiert wird.

Nachtrag vom 11. 2. 2022: Auch diese Untersuchung von Herbert Kubicek über »Internetnutzung älterer Menschen in Bremen und Bremerhaven« geht davon aus, dass es allein darum gehe, der »Alterslücke« bei der Digitalisieung auf der Nachfrageseite beizukommen. Aber es geht nicht um digitale Teilhabe, sondern um digitale Überwältigung der Bürger durch Bürokratie und Wirtschaft.


[1] Damals war die vom Bundesministerium der Justiz veranlasste #Strukturanalyse der Rechtspflege« in vollem Gang. JURIS war im Aufbau. Im BMJ stand vor allem Dieter Strempel dahinter, aus der GMD ist mir Hellmut Morasch unvergessen. Aus der umfangreichen im Verlag des Bundesanzeiger erschienenen Schriftenreihe »Rechstatsachenforschung« sei hier nur der von Herbert Fiedler und Fritjof Haft herausgegebene Band »Informationstechnische Unterstützung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern« angeführt.

[2] James S. Coleman, The Asymmetric Society, 1982.

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Digitalisierung statt Mobilisierung von Recht

Mobilisierung des Rechts – das war einmal ein großes Thema der Rechtssoziologie.[1] Wirksamkeit des Rechts stellt sich nicht von selbst ein. In der Regel allerdings kann man sich darauf verlassen, dass sich Normbenefiziare finden, die qua rational choice vom Recht Gebrauch machen. Der Rechtsgebrauch verlangt indessen Kompetenz und Ressourcen. Viele rechtliche Möglichkeiten werden deshalb von denen, die davon profitieren könnten, nicht in Anspruch genommen, und zwar gerade von denen, denen damit besonders geholfen wäre. Es fehlt der »Zugang zum Recht«: Das Recht muss erst »mobilisiert« werden. Die herkömmlichen Instrumente sind Rechtsberatung und Prozesskostenhilfe. Aber auch die muss man erst einmal erreichen.

Nun könnte die Digitalisierung Abhilfe schaffen, indem die Verwaltung vom Antrags- auf einen Angebotsmodus umschaltet. Das entnehme ich einem Artikel von Alexander Haneke in der Heimlichen Juristenzeitung, der sich mit den nicht ausgeschöpften Möglichkeiten der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung befasst.[2] Haneke zitiert darin Jan Ziesing vom Berliner Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme[3] sinngemäß wie folgt:

Technologisch wäre es möglich, staatliche Leistungen nicht mehr von einem Antrag abhängig zu machen, sondern dem berechtigten Bürger anzubieten, worauf er einen Anspruch hat. Die Daten, aus denen sich die Anspruchsvoraussetzungen ergeben (Person des Berechtigten, Familienstatus, Kinder, Einkommen), sind den Behörden längst bekannt, sie müssten nur zusammengeführt und genutzt werden. Dann könnte, wer sich bei der Verwaltung auf seinem Nutzerkonto einloggt, eine Benutzeroberfläche vorfinden, wie sie den meisten Menschen vom Onlineshopping vertraut ist. Dort steht dann in einem Feld; »Sie hätten mit Ihren Daten auch einen Anspruch auf diese Leistung oder jene Unterstützung.«

Haneke kommentiert:

»Wie grundstürzend das wäre, lässt sich im Sozialrecht erahnen. Kaum jemand kann abschätzen, wie viele Ansprüche auf Sozialleistungen bislang nicht abgerufen werden, weil die Berechtigten schlicht nichts von ihren Möglichkeiten wissen. ›Auch die Steuererklärung ließe sich bei Standardfällen leicht umdrehen‹, sagt Ziesing. Der Staat habe fast alle relevanten Daten. „Warum bietet das Finanzamt dem Bürger nicht eine Steuererklärung an, die der dann nur noch modifizieren muss?«

Als »proaktive Verwaltung« bekäme das Ganze dann auch einen modischen Namen. Im Hintergrund steht das Onlinezugangsgesetz (OZG), das Bund, Länder und Kommunen verpflichet, bis Ende 2022 ihre Verwaltungsleistungen über Verwaltungsportale auch digital anzubieten. Im OZG-Umsetzungskatalog werden annähernd 600 Verwaltungs-Leistungen in 35 Lebens- und 17 Unternehmenslagen gebündelt und 14 übergeordneten Themenfeldern wie »Familie und Kind« oder »Unternehmensführung und -entwicklung« zugeordnet.


[1] Donald Black, The Mobilization of Law, Journal of Legal Studies 2, 1973, 125-149; Erhard Blankenburg, Mobilisierung von Recht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1, 1980, 33-64; ders., Mobilisierung des Rechts. Eine Einführung in die Rechtssoziologie, 1995.

[2] Alexander Haneke, Urkunden wie aus einer anderen Zeit, FAZ vom 4. 5. 2021.

[3] Ein Original habe ich dazu nicht gefunden.

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Hat die Rechtssoziologie die »Rechtslücke« aus dem Blick verloren?

Den Startschuss gab 1969 ein Aufsatz im Law and Society Review: Legal Needs of the Poor in the City of Denver[1]. Danach waren in den 1970er Jahren die Rechtsbedürfnisse der Bevölkerung und der Zugang zum Recht das große Thema der Rechtssoziologie. Seit Jahren oder gar Jahrzehnten ist es darum still geworden. Ist hierzulande alles in Ordnung? Ist der Verbraucherschutz so gut institutionalisiert, funktioniert die Sozialbürokratie so gut, dass sie keine Rechtsbedürfnisse mehr offen lassen? Hat die Justiz ihre Engangsschwellen gesenkt? Erfüllen Prozesskostenhilfe und Rechtsschutzversicherung ihren Zweck? Fangen Legal Techs und Alternativen zum Recht die letzten Rechtsbedürfnisse auf? Man mag es kaum glauben.

In den USA ist man nach wie vor um den Zugang zum Recht besorgt. Das zeigt das aktuelle Heft der Zeitschrift Daedalus (die bisher nicht mit rechtssoziologischen Themen hervorgetreten ist) mit dem Generaltitel »Access to Justice«. 24 kurze Artikel beleuchten das Thema von vielen Seiten und lassen keinen Zweifel daran, dass es hier nach wie vor ein Problem gibt.

Unter dem Link https://www.amacad.org/daedalus/access-to-justice findet man eine Übersicht mit allen Zusammenfassungen. Das ganze Heft ist im Inernet frei zugänglich.

Bleibt noch anzumerken, dass in den Texten zwei Begriffe auftauchen, die bisher, jedenfalls in diesem Zusammenhang, nicht vertraut waren: justice gap und legal capability. Wie übersetzt man justice gap? Rechtslücke ist zweideutig. Zuerst denkt man an fehlendes Recht, nicht aber an die Versorgung mit Rechtsdienstleistungen. Legal capability wird von den Autoren als capacity to understand and act on justice problems definiert. An anderer Stelle[2] erinnern sie an klassische Texte von Galanter und Felstiner und verweisen auch auf die Ähnlichkeit zu Amartya Sens capability approach. Wikipedia übersetzt den Begriff mit »Befähigungsansatz oder Verwirklichungschancenansatz (auch Fähigkeitenansatz)«. Passt für legal capability Rechtskompetenz oder rechtliche Handlungsompetenz?

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[1] Gresham M. Sykes, Legal Needs of the Poor in the City of Denver, Law and Society Review 4, 1969, 255-277.

[2] Pascoe Pleasence/Nigel J. Balmer, Development of a General Legal Confidence Scale: A First Implementation of the Rasch Measurement Model in Empirical Legal Studies, Journal of Empirical Legal Studies 16, 2019, 143-174.

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