Multisensorisches Recht – taugt nicht einmal für die Kulturwissenschaften

Eines meiner Themen sind nach wie vor die Bilder im Recht. Soweit es um den mediensoziologischen Aspekt geht, schreibe ich dazu an dieser Stelle. In der Regel geht es aber um die praktische Frage, wie sich Rechtsthemen visualisieren lassen und wie sie tatsächlich visualisiert werden. Diese Frage behandelt der Blog »Recht anschaulich«. Bisher war dieses Thema als »Rechtsvisualisierung« geläufig. Im Herbst 2008 war »Rechtsvisualisierung« auch Thema einer Tagung im Hause des Beck-Verlages in München, und wie bereits damals verabredet, soll diese Tagung am 23. und 24. 11. 2009 eine Fortsetzung finden. Doch nun lautet der Titel der Veranstaltung »Tagung zur Rechtsvisualisierung, zum Audiovisuellen und Multisensorischen Recht«. Diese Richtungsänderung hat sich mit einem Aufsatz der Organisatorin, Frau Dr. Colette C. Brunschwig (Zürich), vom Februar dieses Jahres angebahnt, der unter dem Titel »Rechtsvisualisierung – Skizze eines nahezu unbekannten Feldes« in der Zeitschrift für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (MMR) erschienen war. Gleich im ersten Absatz macht die Verfasserin einen überraschenden Sprung, indem sie von Multicodierung und Multimedialität zu Multisensorik übergeht. Ohne dass das an dieser Stelle schon deutlich wird, werden am Ende nicht mehr nur um die Medienkombination aus Schrift und Sprache, Bild und Ton, sondern alle fünf Sinne gefordert.
Brunschwig meint, Juristen stünden mit ihrer skeptischen oder gar ablehnenden Haltung gegenüber nichtsprachlichen rechtlichen Inhalten »im Widerspruch zu den Zeichen der Zeit«. Die »Beispiele aus der Rechtspraxis«, die diesen Widerspruch belegen sollen, sind aber nicht sehr eindrucksvoll. Es geht in erster Linie um die forensische Verwendung von Bildern. Doch das ist ein alter Hut. Und die Quelle, auf die Brunschwig sich dazu beruft, ist problematisch, denn sie stammt aus einem Band mit dem zweideutigen Titel »Bildregime des Rechts«, der – obwohl Juristen beteiligt waren – die Ebenen durcheinander bringt, weil der Rechtsbezug der Bilder nicht klargestellt wird. Bilder der Medien vom Recht, Bilder als Objekt von Rechtsnormen und Rechtsprechung, forensische Bilder und (eigentlich nur historische) Bilder in der Kommunikation über Recht – für Kulturwissenschaftler ist das alles ein großer Brei. Ich hätte mir aber auch von Brunschwig gewünscht, dass sie in ihrem zweiten Absatz den unterschiedlichen Rechtsbezug von Bildern und meinetwegen anderen nichttextlichen Kommunikationsmitteln noch deutlicher bestimmt hätte. Sie spricht von rechtlichen, rechtlich bedeutsamen und rechtlich relevanten Inhalten. Von der genauen Bestimmung des Rechtsbezugs der Worte, Bilder, Töne usw. hängt vieles ab. So hat sich z. B. in der juristischen Ausbildung die Einstellung gegenüber dem Multimediaeinsatz geändert. Die Filme von Tele-Jura und Law Vodcast, die Frau Brunschwig erwähnt, werden vielleicht nicht überall wahrgenommen. Doch wer sie einmal entdeckt, ist heute gerne auch bereit, sie mindestens der Abwechslung halber einmal einzusetzen, wenn er die technischen und urheberrechtlichen Möglichkeiten dazu hat. Aber Frau Brunschwig hat natürlich recht: In der professionellen Kommunikation über Rechtsinhalte gibt es eine extreme Abstinenz gegenüber Bildern, auch wenn ich nicht von einem Tabu reden würde. Doch hier steht der Beweis, dass Bilder nicht nur in Einzelfällen wirklich nützlich sind, noch immer aus.
In einem weiteren Schritt trägt Frau Brunschwig zusammen, was alles bisher über Bilder und Recht geschrieben und gezeigt worden ist. Sie meint, es sei da eine veritable Wissenschaftsdisziplin entstanden, hadert aber mit dem Namen. Der von ihr selbst einst vorgeschlagene Begriff Rechtsvisualisierung sei zu eng. Heute müsse von der Wissenschaft vom multisensorischen Recht gesprochen werden. Der einzige Hinweis auf halbwegs einschlägige Inhalte geht nach Edinburgh zu einem Project »Beyond Text in Legal Education«. Auf der Webseite liest man:

We want to create a space where there will be opportunities for learning ’through the body’, and thereby to investigate the unique kind of knowledge (known in the literature as “embodied knowledge”) that may emerge from this improvisatory practice. This space would take the form of workshops we will arrange, lead by artists from dance … and the visual arts …, where participants will be involved in the production of visual and movement-based artwork.

Ich habe mich nie mit »embodied knowlegde« befasst. Wenn ich richtig informiert bin, wird der Ausdruck mit zwei oder sogar drei Bedeutungen verwendet, nämlich einmal steht er für implizites Wissen (tacit knowledge, M. Polanyi) und zum anderen geht es um die körperliche Fundierung mentaler Prozesse und um wirklich körpergebundenes »Wissen« im Sinne von mehr oder unbewussten Reaktionsfähigkeiten. Da wäre doch ein altmodischer Juristenball noch ein besseres Beispiel für die multisensorische Betätigung von Juristen. Ein bisschen habe ich das Gefühl, als ob man in Edinburgh das alte Thema »Law and Literature« auf »Law and Arts« ausweitet. Das verdient kaum die Benennung als multisensorisches Recht. In Edinburgh bezieht man sich u.a. auf das Buch von Paul Maharg, Transforming Legal Education: Learning and Teaching the Law in the Early Twenty-first Century (2007). Aber auch darin entdecke ich kein multisensorisches Recht.
Geschmack, Geruch und Tastsinn sind zwar an der Aufnahme von Signalen beteiligt. Aber anders als die Signale, die von Augen und Ohren empfangen werden, dienen jene – von der Brailleschrift einmal abgesehen – gewöhnlich nicht der Kommunikation. Es kommt natürlich darauf an, was man will. Wenn ich mich mit Text und Bild beschäftige, dann tue ich das entweder als Jurist oder als Legal McLuhanite. Dazu konzentriere ich mich auf die Kommunikationsmedien. Die körperliche Fundierung mentaler Prozesse durch Geschmack, Geruch oder Gefühl überlasse ich den Psychologen.
Man könnte immerhin – was Brunschwig unterlässt – die Ausweitung des Visualisierungsthemas zum »multisensualen Recht« als einen zeitgemäßen kulturwissenschaftlichen Ansatz zu rechtfertigen versuchen. Seit Kahn 1997 forderte, die Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft neu zu formieren, hat dieser Ansatz eine gewisse Verbreitung gefunden.. Die Hinwendung zu »Kultur« ermöglicht eine beinahe beliebige Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Geistes- und Sozialwissenschaften. Kulturwissenschaftler fühlen sie sich für alles zuständig, auch für das Recht. Sozusagen als Gegenleistung gibt es ein dreifaches Versprechen:
Aus dem Abbau der Disziplingrenzen soll eine Perspektivenerweiterung resultieren.
Es sollen neue Themenfelder eröffnet werden.
Eine neue Methode soll die »kulturellen Differenzerfahrungen« der Moderne erschließen.
Zu den Themen, die für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Rechtsforschung empfohlen werden, gehört auch das Verhältnis von Körper und Recht. Dabei geht es wohl mindestens um drei Unterthemen. Erstens geht es um die physische Gewalt. Die ist immer schon ein Thema von Psychologie und Soziologie gewesen. Das Recht hat sie geächtet. Zweitens geht es um die materielle (körperliche) Basis der Rechtskommunikation: »Das Recht wird als Zeichenkörper konstituiert.« Diesen Aspekt behandelt der Legal McLuhanite als Zusammenhang von Recht und Medien. Manchmal geht es auch nur um metaphorischen Sprachgebrauch, so wenn wir erfahren, in Hobbes’ Leviathan erscheine der Staat als Verkörperung des Rechts. Immer wieder fasziniert Geschichte der Leibes- und Lebensstrafen. Aber es ist wohl richtig, dass heute über der Technik und den sozialen Strukturen die Leiblichkeit vernachlässigt oder gar vergessen wird. Es scheint, als ob das moderne Recht direkte Zugriffe auf den menschlichen Körper möglichst ausspart. Folter und Todesstrafe sind indiskutabel, körperliche Züchtigung jeder Art verboten. Gegenüber dem Zugriff von Medizin und Neurowissenschaft auf den Körper ist das Recht ratlos.
Drittens: Der vielleicht interessanteste Aspekt von Körperlichkeit wird in der Soziologie als »tacit knowledge« (M. Polanyi) oder (von Bourdieu) als Habitus thematisiert. Es geht darum, dass es zur Erklärung von Handlungen nicht genügt, bloß das Bewusstsein der Handelnden zu analysieren, weil es von einer unbewussten Handlungsbereitschaft getragen wird, die zu situationsadäquaten Improvisationen befähigt. So können Jazzmusiker zusammen spielen, ohne dass sie bewusst bestimmten Regeln folgen, weil sie die Fähigkeit entwickelt haben, auf das zu hören, was die anderen spielen, und darauf passend zu reagieren. Autofahrer entwickeln einen »sens pratique«, der sie Gas geben, lenken und bremsen lässt, ohne dass sie überlegen oder sich auch nur bewusst machen, was sie tun. Wenn ich an der Tastatur sitze und schreibe, geben meine Finger nicht ganz selten Zeichenketten ein, die dem gemeinten Wort ähnlich sind.
Man könnte an Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie denken. Wenn sie Tiere und Objekte als »Aktanten« installiert, müsste eigentlich auch der menschliche Körper dazu gehören. Tut er aber m. W. nicht. Und davon abgesehen kann man alles, was diese Theorie leistet, auch mit dem guten alten Situationskonzept erreichen. Bleibt also die Möglichkeit, das »multisensorische Recht« für die Kulturwissenschaften zu reklamieren? Ich sehe für das Multisensorische nicht einmal in den Kulturwissenschaften [1]Was ich davon halte, wenn »Kulturwissenschaftler« auf den Gefilden der Rechtssoziologie wildern, habe ich 2008 auf der Rechtssoziologietagung in Luzern vorgetragen (und das erscheint demnächst … Continue reading einen Platz, denn Geruch Geschmack und der Tastsinn partizipieren kaum an den Symbolwelten der Kultur. Eine neue Wissenschaft vom multisensorischen Recht braucht man dafür nicht.

Nachtrag vom 7. Februar 2010: Inzwischen gibt es eine Beck-Community »Multisensory Law«. Da kann man sich insbesondere den Vortrag anhören und ansehen, den Frau Brunschwig auf der 2. Münchener Tagung zur Rechtsvisualisierung gehalten hat.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Was ich davon halte, wenn »Kulturwissenschaftler« auf den Gefilden der Rechtssoziologie wildern, habe ich 2008 auf der Rechtssoziologietagung in Luzern vorgetragen (und das erscheint demnächst auch im Druck).

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Crossover Parsifal

Der »Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-vereinigungen« in Luzern ist vorüber. Es handelte sich um einen Versuch, die Rechtssoziologie nach dem Vorbild der Law & Society Association interdiszlipinär zu öffnen, ein Versuch, der von Michael Wrase (Rechtssoziologie und Law and Society – Die Deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch, ZfRSoz 27, 2006, 289) theoretisch vorbereitet worden war. Um Ausrichtung und Organisation der Tagung hat sich vor allem der »Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit« verdient gemacht (Christian Boulanger, Michelle Cottier, Josef Estermann, Michael Wrase).

Bis hin zur äußeren Gestaltung des Programmhefts folgte man in Luzern dem amerikanischen Vorbild. Auch wenn das sicher Zufall war, so trug doch auch der Konferenzort zum Law&Society-Feeling bei. Die Tagung fand in dem Gebäude des alten Grand-Hotel Union statt, dass der jungen Universität Luzern als Hörsaalgebäude dient. Die Tagung war gut organisiert und dank einiger Sponsoren mit Annehmlichkeiten ausgestattet, die die kleine und arme Gemeinschaft der Rechtssoziologen nur auf Medizinerkongressen vermutet.

Mit 204 aktiven Teilnehmern war die Tagung ein Erfolg. Nach dem bewährten Law&Society-Vorbild wurden in jeweils vier parallelen Sessionen im 90-Minuten Rhythmus jeweils drei bis fünf Referate gehalten. Die 15minütigen Pausen waren für den fliegenden Wechsel etwas zu knapp, so dass viel kostbare Vortragszeit für die Einrichtung der Laptops und Präsentationen verlorenging. Daraus ergab sich eine gewisse Hetze, und die Diskussion kam oft zu kurz. Wichtiger aber scheint mir, dass es gelungen ist, eine große Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für die Teilnahme zu gewinnen, die man bisher in Tagungen und Publikationen, die mit Rechtssoziologie überschrieben waren, nicht angetroffen hat. Angesichts dieses Erfolgs relativieren sich die Vorbehalte, die ich in meinem Vortrag für die Session »Das Rechts zwischen den Disziplinen« zum Ausdruck gebracht habe. Das Manuskript mit dem Titel »Crossover Parsival«, das etwas ausführlicher ist, als es mündlich vorgetragen werden konnte, steht hier zum Download bereit: crossover-parsifal

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Wie wirkt Recht?

Unter diesem Titel findet vom 4. – bis 6. September 2008 in Luzern eine Tagung der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen statt. Das umfangreiche Programm lässt eine spannende Veranstaltung erwarten. Ich selbst beteilige mich an zwei Sessionen:

Das Recht zwischen den Disziplinen – Rechtsforschung als Bewegung?

Organisator und Moderator: Michael Wrase (Humboldt-Universität zu Berlin)

Ankündigung: Die institutionelle Verankerung der Rechtsforschung auf der Schnittstelle zwischen traditionellen und neuen Disziplinen erweist sich als schwierig. Das mitteleuropäische Wissenschaftssystem verlangt traditionell Disziplinarität, auch wenn die Grenzen andernorts brüchig werden. So zeigen nicht zuletzt die US-amerikanische Law and Society-Forschung sowie die socio-legal studies im Vereinigten Königreich, dass eine Kooperation von Sozial-, Kultur- und Rechtswissenschaften nicht nur dauerhaft möglich ist, sondern wissenschaftlich äußerst produktiv und innovativ sein kann – und auch tatsächlich in der Lage ist, ein gemeinsames, interdisziplinär belangvolles und nutzbares Wissen zu erzeugen. Der Workshop widmet sich der Frage, auf welchem Weg eine dauerhafte und gewinnbringende Zusammenarbeit über die Disziplingrenzen hinaus erreicht werden kann.

Erhard Blankenburg (Vrije Universiteit):
Justizforschung im internationalen Vergleich
Abstract: Mein Thema ist die Justizforschung. In England und den Niederlanden hat sich dort ein Kranz von Forschungsinsituten gebildet, von denen auch Aufträge an die Universitäten vergeben werden. Das können Rechtssoziologen sein, aber auch Ökonomen oder Politikinstitute. Der gesamte Umfang kann sich durchaus an den vielen Kriminologie-Forschungen messen. Die Nachfrage kommt von den Richtervereinigungen, der Justiz, der Rechtshilfe und von NGO’s. Warum haben die Deutschen nichts Vergleichbares entwickelt? Meine Antwort ist bei den Staatsexamen zu suchen, auch beim Föderalismus, also der Kompetenz der Länder für die Justizorganisation, und dem Fehlen von Effektivitäts- und Effizienzbemühungen bei der Justiz und der Rechtshilfe (Prozesskostenhilfe ist zwar teuer, aber doch keine legal aid). Eine Disziplin im Sinne von Lehrstühlen und Kanonisierung von Lehrinhalten ergibt die Justizforschung alleine allerdings nicht. Rechtssoziologen haben sich über alle möglichen Themen ausgelassen, oft mehr durch Essays als durch (empirische) Forschung. Das lässt sich allenfalls mit Hilfe von stets wechselnden Themen vernetzen, wie die Law and Society Association dies tut.

Inga Markovits (University of Texas at Austin, School of Law):
Soziologische Rechtsforschung zwischen den Stühlen: Amateure und Eklektiker
Abstract: Üblicherweise wird man einem Forscher, der ein rechtssoziologisches Projekt ins Auge fasst, empfehlen, nicht ohne wissenschaftliche Ausrüstung ins Feld zu ziehen. Dazu gehören vor allem drei wichtige Artikel: eine Theorie, eine Methode und eine Hypothese. Die Theorie ist der begriffliche Hintergrund, das Raster, auf dem die Ergebnisse der Arbeit eingeordnet werden können. Die Methode ist die Strategie, mit der ein Forscher seinen Untersuchungsgegenstand verfolgt und die bestimmt, was und wie herausgefunden, definiert, gemessen, abgewogen und in Beziehung zu setzen ist. Die Hypothese ist der Kompass, der dafür sorgt, dass das ganze Unternehmen nicht auf Abwege gerät, sondern auf das Ergebnis ausgerichtet bleibt, das nach der Theorie des Forschers zu erwarten ist. Ich möchte über Forschungsunternehmen sprechen, die sehr viel bescheidener ausgestattet sind und sich auf nicht viel mehr als auf die Neugier des Forschenden und auf die Fragen verlassen, die er an seinen Forschungsgegenstand stellen möchte. Das Vorgehen ist nicht ganz so amateurhaft, wie es klingt, weil man nicht viel Fragen an etwas stellen kann, mit dem man nicht schon vorher halbwegs vertraut ist. Auch ein Forscher außerhalb der Schul-Soziologie braucht also Familiarität mit dem Gebiet, das er untersuchen möchte, und es ist wahrscheinlich, dass er auch gewisse Erwartungen an das hegt, was er finden wird. Aber die Erwartungen sind durch Theorie und Hypothese unfixiert, wie die vage Hoffnung eines Reisenden auf gutes Wetter, sodass er seine Forschungsfragen einem Wetterwechsel leicht anpassen und neuen Anregungen folgen kann, mit denen er ursprünglich nicht gerechnet hatte. Das Wichtige an meinem Amateur-approach (und es ist offensichtlich, dass ich als Nicht-Soziologin hier pro domo spreche) ist, was man einen Dialog zwischen dem Forscher und seinen Daten nennen könnte. Der Untersuchende lässt sich durch seinen Gegenstand zu neuen Fragerichtungen inspirieren.

Klaus F. Röhl (Ruhr-Universität Bochum):
Crossover Parsival
Abstract: Die cultural studies der Anthropologie und Ethnologie haben sich mit postmoderner Philosophie verbündet und mehr oder weniger alle Gegenstandsfelder der Sozial- und Geisteswissenschaften erobert. »Kulturwissenschaft« ist zum Leitbegriff sowohl für die methodisch-inhaltliche Orientierung als auch für die politische Diskussion um Wissenschaftsförderung und Hochschulreform geworden. Eine eigenständige Rechtssoziologie findet darin keinen Platz mehr. Es hat sich jedoch eine merkwürdige Eigendynamik entwickelt. Während die cultural studies mit einem kritischen Impetus gestartet waren, stehen heute glamouröse Vorzeigeinstitute, Studiengangsplanung und Berufsorientierung akademischer Abschlüsse im Sinne der ökonomischen Verwertbarkeit kultureller Kenntnisse im Vordergrund. In dieser Situation sollte man sich auf die gute alte Rechtssoziologie besinnen.

Die Macht der Symbole

Organisator: Klaus F. Röhl (Ruhr-Universität Bochum)

Discutant/in: Hubert Rottleuthner (Freie Universität Berlin)

Ankündigung: Die Beschäftigung mit Symbolen hat in den sog. Kulturwissenschaften große Attraktivität gewonnen. In der Rechtssoziologie ist zwar oft von Symbolen die Rede. Das geschieht jedoch mehr oder weniger beiläufig und untechnisch. Jedenfalls verbirgt sich hinter solcher Rede keine ausgearbeitete Symboltheorie. Andererseits gibt es in der Rechtssoziologie einen Bedarf. Normen sind regelmäßig als Texte gefasst oder lassen sich jedenfalls sprachlich formulieren. Um solche Normen herum existiert jedoch ein Universum von Bedeutungen, die nicht nur an Texte, sondern auch an Orte oder Gegenstände, bestimmte Wortfolgen, Handlungen oder Bilder anknüpfen. Es besteht die Hoffnung, solche Bedeutungen mit dem Symbolbegriff einzufangen. Das soll in drei Referaten aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln geschehen.

Jochen Dreher (Universität Konstanz)
Zur Wirkungsweise von Kollektivsymbolik im Recht – Differenzkonstitution symbolischer Macht

Abstract: Das Recht als soziales Phänomen ist eingebettet in kollektive Vorstellungen und Wertungen, die – wie im Rahmen dieser Präsentation hervorgehoben werden soll – in sozialen Gruppierungen insbesondere symbolisch etabliert werden. Entscheidend für die Wirkungsweise von Symbolen, vor allem Kollektivsymbolen, ist die Tatsache, dass sie im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft über eine ‚Brückenfunktion’ verfügen und in einer Bezugnahme auf ‚außeralltägliche Sinnwelten’ für die Einbindung individueller Akteure in Kollektivzusammenhänge zuständig sind. In diesem Sinn unterliegen auch Rechtsnormen kollektivsymbolischen Vorstellungen und sind so ein Abbild einer entsprechenden gesellschaftlichen Ordnung. Aus wissenssoziologischer Perspektive kann Recht schwerlich als objektive Gegebenheit untersucht werden, da Individuen dem Recht in einem symbolisch etablierten Kollektivzusammenhang Bedeutungen zuschreiben und so auch die Wirklichkeit des Rechts prozesshaft aktualisieren. Exemplarisch werden am Fallbeispiel der Volkswagen-Affäre aus rechtssoziologischer Sicht die Konstruktion unterschiedlicher Rechtsauffassungen sowie die Herausbildung von Differenzen symbolischer Macht untersucht.

Jens Newig (Universität Osnabrück, Lehrstuhl Stoffstrommanagement):
Machtaspekte von Symbolik in der Gesetzgebung
Abstract: Symbolik spielt für Gesetzgebung und deren Wirksamkeit in unterschiedlicher Weise eine Rolle. Der Beitrag untersucht zum einen, wie Symbole als Bilder (beispielsweise „Waldsterben“) gesellschaftliche Stimmungen bündeln, die relevant für die Gesetzgebung sind. Zum anderen wird symbolische Gesetzgebung, d.h. Gesetzgebung, in der das Gesetz selbst zum Symbol wird, diskutiert. Deren Entstehung lässt sich aus Macht- und Informationsasymmetrien zwischen organisierten Interessen, dem Gesetzgeber und der Wählerschaft erklären. Wird symbolische Gesetzgebung strategisch eingesetzt, kann sie zur Durchsetzung von Interessen durch Verschleierung von Sachverhalten dienen. Die Wirksamkeit von Gesetzgebung wird dabei in zwei Dimensionen, einer rechtsnormativ-sachlichen und einer symbolisch-politischen, analysiert. Zwei empirische Beispiele aus dem deutschen Umweltrecht erläutern die Überlegungen.

Klaus F. Röhl (Ruhr-Universität Bochum):
Symboltheorie für die Rechtssoziologie
Abstract: Das einleitende Referat soll klarstellen, dass es keinen Zweck hat, sich lange über den richtigen Symbolbegriff zu streiten und statt dessen Beispiele für Symbole nennen, die das Recht jenseits von Normtexten stützen, und für andere, die als rechtsfeindlich gelten und deshalb vom Recht bekämpft werden.

Zu dieser Thematik gibt es in anderen Sessionen noch weitere einschlägige Vorträge:

Simone Seifert (Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg):
»Behandlungspflicht« von Sexualstraftätern – nur symbolische Gesetzgebung?

Michael Jasch (Johann W. Goethe-Universität Frankfurt a.M., Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie ):
Das Strafrecht im Wohnzimmer: Symbolisches Recht

Und das sind noch längst nicht alle Beiträge, bei denen in der Ankündigung von »Symbol« oder »symbolisch« die Rede ist. Das Symbol ist anscheinend eine theoretische Allzweckwaffe. Ob sie mehr als Seifenblasen verschießt?

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