Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken

»Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« lautet das Generalthema der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster stattfinden soll. Dazu der Untertitel: »Rechtsphilosophie zwischen Abstraktion und Konkretion«. Der Eröffnungsvortrag von Ulfried Neumann ist überschrieben »Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken«. Genau das war das Thema der IVR-Tagung in Saarbrücken vor 35 Jahren. Dazu referierte damals Arthur Kaufmann.[1] Die Thematik ist anscheinend unerschöpflich.

Es liegt nahe zu fragen, wie sich die Vorstellungen über das Verhältnis von Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken über  die 35 Jahre seit der Tagung von 1990 verändert haben. Die Frage habe ich an   ChatGPT und an Microsoft Copilot gestellt. Die Antworten sind gar nicht schlecht. Aber das mag jeder selbst ausprobieren. Ich will hier den Versuch unternehmen, meine Beobachtung des Rechts unter dem Aspekt von konkret und abstrakt zu ordnen, zusammenzufassen und vielleicht auch zu ergänzen, indem ich zusammentrage, was auf Rsozblog und in meinen Notizen zum Thema zu finden ist. Wie immer auf Rsozblog geht es mir nicht darum, die wissenschaftliche Literatur zu bereichern, sondern darum (unter den virtuellen Augen der Öffentlichkeit) die eigenen Gedanken zu ordnen.

Beginnen müsste man wohl damit, dass man abstrakt über Abstraktion  nachdenkt, und das heißt konkret über Begriffsbildung. Dazu steht einiges in dem Eintrag »Abstrakt und Konkret« vom 10. 1. 2021. Dort steht bereits der Hinweis, dass der wichtigste Abstraktionsmodus des Rechts die Formulierung allgemeiner Regeln ist. Daher muss die Allgemeinheit des Gesetzes zum Thema werden. Historisch hat sich die Rechtswelt vermutlich vom Fall zur Regel entwickelt. Regeln entstanden erst aus der Vorbildwirkung von Einzelfallentscheidungen. Sie waren zunächst bloß, wie es in der Digestenstelle D. 50,17,1 heißt, ein Kurzreferat des Falles (»breviter enarrat«). In der Moderne hat sich Priorität umekehrt. Die Regel steht vor dem Fall. Der Weg dahin führte über Juristen, die sich das »Referat« von Fällen zum Beruf machten, zu Autoritäten, die Regeln setzen. Daraus ist die Allgemeinheit des Gesetzes als Grundprinzip des modernen Rechtsstaats gewachsen. Die Frage steht im Raum, wieweit dieses Prinzip in der Postmoderne gelitten hat.

Am Beginn steht also das Verhältnis von Fall und Regel. Dazu gab es auf der Tagung von 1990 einen Vortrag von Lüderssen[2] (mit denen ich nicht viel anfangen kann). Auf Rsozblog finden sich gleich drei Einträge zum Thema. Der erste Eintrag vom 20. August 2025, überschrieben Casus und Regula, beginnt mit einer Auflistung von Fragen, die sich aus dem Verhältnis von Fall und Regel, von konkret und abstrakt ergeben, um dann, ausgehend von der Digestenstelle  D. 50, 17 auf den (angeblichen?) Methodenstreit der Prokulianer und Sabinianer über den Vorrang von casus oder regula einzugehen. Der Folgebeitrag vom 1. 11. 2015  erinnert an die daran anschließende Kontroverse unter Romanisten über den Einfluss griechischer Philosophie auf römische Juristen. Der abschließende Eintrag vom 11. 11. 2015 handelt von dem Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«. Das Verhältnis von Fall und Regel ist noch einmal im Eintrag vom 22. 11. 2022 Thema im Zusammenhang mit der Analogie, genauer, mit er Frage, ob die Verwertung eines Präjudizes die Anwendung einer der präjudiziellen Entscheidung entnommenen Norm bedeutet oder ob es unmittelbar die Ähnlichkeit des Falles ist, die die Folgeentscheidung bestimmt.

Zum Verhältnis von Fall und Regel will ich noch einige Sätze über

Einzelfallvorbehalt und Verallgemeinerungsgrundsatz

ergänzen: Kann man sich ein Recht ohne Regeln vorstellen? Schon die Römer waren sich nicht einig, ob der gerechten Lösung des Einzelfalls oder einer regelgeleiteten Entscheidung der Vorrang gebühre. Ohne Regel kann man nicht subsumieren, sondern muss abwägen. Aber die Abwägung kann doch in verschiedener Absicht erfolgen. Sie kann zum Ziel haben, eine Regel zu formulieren, um sie dann auf den Fall anzuwenden. Die Abwägung kann sich aber auch darauf beschränken, den Streitfall nur aus seinem Kontext heraus einer Lösung zuzuführen.

Der praktische Unterschied zwischen einer bloßen Einzelfallabwägung und einer regelbewussten Entscheidung liegt darin, dass letztere den konkreten Fall aus größerer Distanz betrachtet, weil sie gleichzeitig andere Fälle bedenkt, auf welche die Regel anwendbar sein könnte. Eine Regel bedeutet immer eine Abstraktion. Der Tatbestand muss griffig gehalten werden. Eine Regel kann daher nie alle Umstände des Falles berücksichtigen, sie ist immer nur eine Faustregel. Regeln sagen nicht nur, was für die Entscheidung relevant sein soll; wichtiger noch, sie verbieten die Berücksichtigung aller nicht genannten Umstände als irrelevant. Eine regelbewusste Entscheidung führt dazu, viele Umstände des Einzelfalles, die den Parteien und auch manchen Beobachtern bedeutsam erscheinen mögen, für unerheblich zu erklären. Die Einzelfallabwägung geht näher an den Fall heran. Sie kann mehr und konkretere Details aus seinem Umfeld berücksichtigen. Nichts ist von vornherein unwichtig. Im Idealfall ergeht die Entscheidung aufgrund »aller Umstände des Einzelfalles«.

Allgemein gedachte Gesetze machen den Kern des modernen Rechts aus. Für eine Einzelfallabwägung ist grundsätzlich kein Platz. Der Grundsatz kennt drei Ausnahmen. Die erste Ausnahme, ist der Fall, dass die strikte Anwendung des Gesetzes zu einem für untragbar gehaltenen Ergebnis gelangt. Dann gestattet der Gedanke der Billigkeit im Einzelfall eine Abweichung.[3] Der zweite Fall ist derjenige, dass das Gesetz eine Lücke zu haben scheint. H. L. A. Hart stellte in diesem Fall die Entscheidung in das richterliche Ermessen. Dworkin dagegen hätte die Entscheidungen in Prinzipien gesucht. Der Dritte Fall ist dem zweiten ähnlich, nur dass die Lücke insofern offen ist, als das Gesetz mit absichtlich unbestimmten Begriffen arbeitet. Für diesen Fall steht das Gericht vor der Frage, ob es sich auf den Einzelfall konzentrieren oder bedenken soll, dass seiner Entscheidung eine Regel entnommen werden könnte.[4]

Das Bundesverfassungsgericht hat die Abwägung im Einzelfall zur Methode der Wahl gemacht. Es weigert sich, als Ergebnis der Abwägung »Vorrangbedingungen« zu formulieren. Pawlowski hat auf die grundlegende Bedeutung dieses Vorgangs hingewiesen: An sich ist die Güter- oder Interessenabwägung ein herkömmliches Konzept, um unbestimmte Rechtsbegriffe auszufüllen. Doch mit einer Güterabwägung ist es nicht getan. Es soll sich um eine »Güterabwägung im Einzelfall« handeln. Am Beispiel des allgemeinen Persönlichkeitsrechts:

»So wurde – und wird – das Verbot der ungenehmigten Veröffentlichung von Privatbriefen und Tagebüchern bereits im vergangenen Jahrhundert damit begründet, dass dem Interesse des Verfassers nach derartigen Aufzeichnungen an der Achtung seine Privatsphäre größeres Gewicht beizumessen sei, als dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit – was z.B. J. Kohler ausführlich mit rechtsvergleichenden Belegen dokumentiert hat. Diese ›Abwägung‹ führt aber dann zu dem generellen Verbot der ungenehmigten Veröffentlichung derartiger Schriftstücke. Die Abwägung wird hier also als Mittel zur Ableitung neuer allgemeiner Rechtssätze eingesetzt.

Im Rahmen des neuen Konzepts dient die Abwägung dagegen der Entscheidung des Einzelfalles. Dies wird z.B. besonders deutlich in dem abweichenden Votum Rupp-v. Bruennecks in der ›Mephisto-Entscheidung‹ des Bundesverfassungsgerichts. Sie stützte nämlich ihre Ablehnung der Mehrheitsentscheidung unter u.a. darauf, dass die Mehrheit bei ihrer Abwägung zwischen dem Grundrecht der Kunstfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Romanfigur das Emigrantenschicksal des Autors (Klaus Mann) nicht berücksichtigt habe. Das macht deutlich, dass es bei dieser Art Abwägungen um Argumente geht, die nicht verallgemeinerungsfähig sind: Man wird nicht davon ausgehen können, dass Emigranten allgemein die Befugnis zuerkannt werden kann, das Persönlichkeitsrecht von Nicht-Emigranten stärker zu beeinträchtigen als andere Bürger. Die ›Abwägung‹ orientiert sich hier vielmehr an der Biographie (an der ›Geschichte‹) zweier Einzelpersonen mit allen ihren Implikationen.« [5]

In der Aufgabe des Allgemeinheitsgrundsatzes zugunsten der Abwägung im Einzelfall sieht Pawlowski einen grundsätzlichen Wandel des Rechtsdenkens und der Rechtskultur. Die Ursache dieses Wandels findet er darin, dass Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht nicht aus Normen, sondern unmittelbar aus Werten abgeleitet werden.[6] Das hat zur Folge, dass selbst dort, wo Regeln vorhanden sind, diese im Einzelfall in einem »Anwendungsdiskurs« aufgeweicht werden.[7] Anwendungsdiskurse gehen zwar von einer Regel aus. Die soll dann aber in Anwendungssituationen auf ihre »Angemessenheit« geprüft werden. Das Prinzip der Angemessenheit umfasst vor allem die Berücksichtigung aller Umstände der Situation. Als Folge wird den Regeln nur eine Art Prima-Facie-Geltung zugebilligt und der konkreten Entscheidung von vornherein die Verallgemeinerungsfähigkeit genommen. Maus  spricht kritisch von einer faktischen Remoralisierung des Rechts durch die Werte-Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.[8]

Soweit es keine Regeln gibt und Regeln auch gar nicht das Ziel sind, ist die Abwägung offen für den fallweisen Zugriff auf politische oder moralische Gesichtspunkte oder für den Rückgriff auf konkret anschauliche Vorstellungen von ausgleichender Gerechtigkeit. Solche Moralisierung nennt man gewöhnlich Kadijustiz. Die Bezeichnung ist nicht unbedingt abwertend gemeint. Es gibt, angefangen bei dem Urteil des Königs Salomo, viele wunderbare Beispiele. Aber Kadijustiz ist eine andere Art der Gerechtigkeit, nämlich solche in Ansehung der Personen und ihrer Relationen.[9] Es ist alte juristische Tradition, politische oder moralische Gesichtspunkte nur ganz ausnahmsweise heranzuziehen, wenn die Anwendung einer Regel im Einzelfall zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.

Regelbewusstes Entscheiden ist nicht unbedingt »rationaler« als die fallorientierte Abwägung. Die unvermeidliche »Irrationalität« wird nur vom konkreten Fall auf die abstraktere Regel verlagert. Ob man sich der Entscheidung mit einer Regel nähert, von der man unter ganz besonderen Umständen abweicht, oder ob man von vornherein auf die besonderen Umstände des Falles abstellt, läuft auf eine unterschiedliche Verteilung der Argumentationslast hinaus. Das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass sich auch der Gleichheitssatz, ja vielleicht sogar die Grundrechte, in Argumentationslastregeln erschöpfen.

Regelbildung ist grundsätzlich nicht das Ziel der Rechtsprechung.[10] Die Gerichte haben Einzelfälle zu entscheiden. Doch diese Funktionsbeschränkung gilt nur, solange Regeln vorhanden sind. Fehlt es an einer Regel, so ist Rechtsfortbildung gefordert. Auch wenn man nicht so weit geht wie Langenbucher[11], die die Ausarbeitung einer verallgemeinerungsfähigen Regel, die in künftigen Gerichtsurteilen als Entscheidungsgrundlage dienen kann, zum Ziel der Rechtsfortbildung erklärt, so bleibt der Grundsatz der Verallgemeinerung, nach dem man sich jede Einzelfallentscheidung als regelgeleitet vorstellt, doch die regulative Idee, die der Entscheidung ihre Rechtsqualität verleiht. Dazu muss die Regel gar nicht abstrakt ausformuliert werden. Aber sie sollte jedenfalls aus dem Präjudiz rekonstruierbar sein und eine Rekonstruktion nicht durch einen Einzelfallvorbehalt abgeblockt werden. Die Verfassungsrechtsprechung neigt dazu, regelverachtend die in Gesetz und Dogmatik vorhandenen Strukturen »durch immer feiner ziselierende und letztlich nur im Einzelfall und in der Einzelfallgerechtigkeit ein Ende findende Verhältnismäßigkeitsüberlegungen« aufzulösen.[12] Sie sollte stattdessen, um es mit Alexy zu formulieren, Vorrangbedingungen festlegen, unter denen das eine oder andere der konkurrierenden Rechtsgüter zu weichen hat.

Fortsetzung folgt.


[1] Arthur Kaufmann, Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP-Beiheft 1992, 77-100. In der ersten Hälfte des Vortrags zählt Kaufmann auf, was er alles nicht behandeln will. In der zweiten Hälfte unterbreitet er die These von der Universalisierbarkeit eines negativen Utilitarismus.

[2] Klaus Lüderssen, Regel und Fall, ARSP-Beiheft 45 1992, 129-142.

[3] Franz Bydlinski, Allgemeines Gesetz und Einzelfallgerechtigkeit, in: Christian Starck (Hg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, 49-79;

[4] Nicht hierher gehören die Fälle in denen die Generalisierung in einem Gesetz generell angreifbar ist, insbeondere weil sie gegen Grundrechte verstößt. So können Gesetze allgemeine, personenbezogene Merkmale verwenden, die sich unter Gleichheitsgesichtspunkten als diskriminierend erweisen. Das ist das Thema von Gabriele Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung. Verfassungsrechtliche Grenzen statistischer Diskriminierung, 2008. Britz sprich von »Generalisierungsunrecht«.

[5] Hans-Martin Pawlowski, Allgemeines Persönlichkeitsrecht oder Schutz der Persönlichkeitsrechte?, JbRSozRTh 12, 1987, 113-132, S. 118.

[6] Hans-Martin Pawlowski, Werte versus Normen, ZRph 2004, 97-110.

[7] Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988, S. 188.

[8] Ingeborg Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, Rechtstheorie 1989, 191–210, 199.

[9] Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3 Aufl. 1999, 25 ff.

[10] Auf der IVR-Tagung 1990 referierten Jörg Berkemann und Günter Ellscheid zum Thema »Probleme der Regelbildung in der richterlichen Entscheidungspraxis« (ARSP-Beiheft 45, 1992, 7-22, und 23-35). Berkemann ging wie selbstverständlich davon aus, dass die Rechtsprechung Normen zu bilden hat, und konzentrierte sich auf eine Kritik der Methodenlehre. Ellscheid begann (S. 23)  mit der Feststellung: »Der Gleichheitssatz verlangt, dass der Richter, soweit er bei einer Konkretisierung und Fortbildung des Rechts Entscheidungs- oder Ermessensspielräume hat, diese nach einheitlichen, und das kann nur heißen, fallübergreifenden Kriterien ausfüllt, also die Regel angibt, nach der er entchieden hat und daß er eine etwa von ihm aufgestellte Regel nicht leichtfertig wieder aufgibt.«, um sich dann Problemen der Abwägung bei der Konkretisierung von Grundrechten und unbestimten Rechtsbegriffen zu widmen.

[11] Katja Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996.

[12] Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, 401–409, S. 408.

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