Dies ist die dritte Fortsetzung des Eintrags vom 5. 7. 2025 aus Anlass der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster unter dem Generalthema »Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« stattfinden soll.
Die Allgemeinheit des Gesetzes ist seit eh und je Stein des Anstoßes. Platon hat (durch den Mund des »Fremden« in dem Dialog »Politikos« [294a–d]) das (allgemeine) Gesetz mit einem »selbstgefälligen und ungelehrigen Menschen« verglichen: Gesetze in der Form allgemeiner Regeln müssen notwendig vereinfachen; sie sind deshalb von vornherein ungeeignet, »das wirklich Beste zu befehlen«. »Denn«, so fährt der »Fremde« in Platons Dialog fort, »die Unähnlichkeit der Menschen und der Handlungen, und dass niemals nichts sozusagen Ruhe hält in den menschlichen Dingen, dies gestattet nicht, dass irgendeine Kunst etwas für alle und zu aller Zeit einfach darstelle.« Das aber versucht das Gesetz; es will für alle Betroffenen und alle Situationen eine bindende Regel festlegen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist eine doppelte Differenz: die zwischen den Menschen, wegen ihrer »Unähnlichkeit«, und die in der Zeit, weil »nichts Ruhe hält in den menschlichen Dingen«. Zwischen dem verallgemeinernden Gesetz und seinem stets verschiedenen Gegenstand liegt eine Kluft. Was für alle gerecht sein soll, wird nicht jedem gerecht. »Unmöglich also«, schließt Platons »Fremder«, »kann sich zu dem niemals einfachen das richtig verhalten, was durchaus einfach ist«.
Anarchisten plädieren daher für die Abschaffung des Gesetzes. Auch Platon dachte an eine radikale Lösung, die vielfach als Modell rechter Reaktion bis hin zum Führerstaat gedient hat. Wenn das Gesetz zu grob sei, so meinte er, dann bedürfe es des »weisen und guten« Herrschers, der »abweichend« vom Gesetz »Besseres als das Geschriebene« verordne. Das ist die platonische Idee des Philosophenkönigs.
Aristoteles dagegen formulierte die Lösung, mit der man bis heute versucht, die Balance zwischen dem allgemeinen Gesetz und der Einzelfallgerechtigkeit herzustellen.[1] Er sprach von der »Güte in der Gerechtigkeit«:
»… das Gütige … ist … eine Berichtigung der Gesetzesgerechtigkeit. Das hat seinen Grund darin, dass jegliches Gesetz allgemein gefasst ist. Aber in manchen Einzelfällen ist es nicht möglich, eine allgemeine Bestimmung so zu treffen, dass sie richtig ist. In solchen Fällen nun, wo es notwendig ist, sich allgemein auszudrücken, dies aber doch nicht so geschehen kann, dass alles richtig ist, da nimmt das Gesetz die Fälle sozusagen en bloc ohne allerdings zu übersehen, dass damit eine Fehlerquelle gegeben ist. Und trotzdem ist dieses Verfahren richtig, denn der Fehler liegt nicht im Gesetz und im Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache, denn so ist nun einmal die Fülle dessen, was das Leben bringt.
Wenn nun das Gesetz eine allgemeine Bestimmung trifft und in diesem Umkreis ein Fall vorkommt, der durch die allgemeine Bestimmung nicht gefasst wird, so ist es ganz in Ordnung, an der Stelle, wo uns der Gesetzgeber im Stich lässt und durch seine vereinfachende Bestimmung einen Fehler verursacht hat, das Versäumnis im Sinne des Gesetzgebers selbst zu berichtigen: So wie er selbst die Bestimmung getroffen hätte, wenn er im Lande gewesen wäre, und wie er sie, wenn ihm der Fall bewusst geworden wäre, in sein Gesetz aufgenommen hätte. … Und dies ist das Wesen der ›Güte in der Gerechtigkeit‹: Berichtigung des Gesetzes da, wo es infolge seiner allgemeinen Fassung lückenhaft ist.«[2]
Seither beruft man sich auf den Gedanken der Billigkeit, um auch unter dem allgemeinen Gesetz dem Einzelfall gerecht zu werden. Allerdings blieb die offene Abweichung vom Gesetz unter Berufung auf die Unbilligkeit des Ergebnisses lange Zeit hindurch die höchst seltene Ausnahme. Heute bewirkt jedoch, ausgehend vom Verfassungsrecht, die durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip legitimierte »Abwägung« eine gewisse Erosion des allgemeinen Gesetzes.
Lübbe-Wolff behandelt das Problem als Dilemma des Gleichheitssatzes, der die Kehrseite des Allgemeinheitsprinzips bildet. Sie fördert dabei einige Phänomene zu Tage, die starre Regeln mildern, ohne sie aufzuheben. Auf harte Gesetze antworten milde Urteile. Auch werden harte Urteile nur zögerlich vollstreckt. Im Strafrecht hilft gelegentlich die Begnadigung.[3]
Eine modisch moderne Variante der Formkritik ist die Kritik des Juridismus oder gar Hyper-Juridismus. Der Ausdruck »Juridismus« geht auf den französischen Philosophen Foucault zurück, der damit das Phänomen der Verrechtlichung bezeichnete. Unabhängig von Foucault ist die Kritik an der zunehmenden Verrechtlichung mehr oder weniger aller Lebensverhältnisse Bestandteil der üblichen Kritik der Moderne. In die Allgemeine Rechtslehre ragt sie als Kritik subjektiver Rechte hinein. Damit habe ich mich seinerzeit aus Anlass eines Buches von Christoph Menke auseinandergesetzt:
Die Selbstreflexion der Musik hilft bei der Kritik der »Kritik der Rechte« (14. 3. 2016)
Hauptsache Moral, welche ist egal. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« (1. 5. 2016)
Das subjektive Recht ein hohles Ei. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« II (9. 5. 2016)
Im Spiegelkabinett der Selbstreflexion. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« III (16. 5. 2016)
Alles ist politisch. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« IV (1. 7. 2016)
Schluss mit der Kritik der Rechte (25. 2. 2019)
Zusammenfassung aller Einträge in einem PDF (25. 2. 2019)
Fortsetzung geplant.
[1] Roger A. Shiner, Aristotle’s Theory of Equity, Loyola of Los Angeles Law Review 27, 1994, 1245-1264.
[2] Nikomachische Ethik Buch V, 1137b, übersetzt von Franz Dirlmeier, 1979.
[3] Gertrude Lübbe-Wolff, Das Dilemma des Rechts: Über Strenge, Milde und Fortschritt im Recht, 2017.