Dies ist die Fortsetzung des Eintrags vom 5. 7. 2025 aus Anlass der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster unter dem Generalthema »Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« stattfinden soll.
Das Recht hat sich mit Hilfe der Sprache seine eigenen Abstraktionen geschaffen. Der wichtigste Abstraktionsmodus des Rechts ist die Formulierung allgemeiner Regeln, die nur wenige Kriterien für relevant erklären und von den vielen Besonderheiten, die jeder konkrete Fall mit sich bringt, absehen. Dieser Modus führt dazu, dass alles Recht die Gestalt einer Regel annehmen muss, die für alle gleichartigen Fälle Geltung beansprucht. Die Allgemeinheit des Gesetzes ist damit das erste und wichtigste Formerfordernis des positiven Rechts.
In diesem Sinne hieß es bereits in dem Eintrag vom 2. 1. 2021 über Form und Inhalt als Kaskade: Die Form des positiven Rechts ist Allgemeinheit. Hier lässt sich einwenden, dass die Allgemeinheit des Rechts keine Form bildet, sondern eine Struktur darstellt. Das gilt jedenfalls dann, wenn man unter »Form« die konkrete Erscheinung oder Gestalt versteht, in der ein Inhalt wahrgenommen werden kann. Dann müsste die Form als materielles Medium im Gegensatz zur Struktur sichtbar oder greifbar sein, etwa als Ton, Schrift oder Beurkundung. Struktur wäre dagegen die abstrakte und damit unsichtbare Relation von Elementen innerhalb eines Systems. Dieser auf phänomenologische Wahrnehmbarkeit reduzierte Formbegriff ist jedoch zu eng. Die moderne Rechtstheorie im Allgemeinen und die Allgemeine Rechstlehre im Besonderen verstehen sich zwar als Strukturtheorie.[1] Doch bei Bierling, Somló und Kelsen wir diese Theorie explizit zur Rechtsformenlehre. Hans Nawiaski bezeichnet die Rechtsform als Struktur des Rechts.[2] Es ist hier nicht der Ort, um allgemein über Formbegriff und Strukturbegriff zu sinnieren.[3] Im Hinblick auf das allgemeine Gesetz ist es jedenfalls prägnanter, von einer Form als von einer Struktur zu reden. Das wird deutlich, wenn man vom Substantiv »Form« auf das Adjektiv »formal« übergeht. So gelingt es, die von Lon L. Fuller aufgezählten Formprinzipien des positiven Rechts als solche zu verstehen, und so gelingt es, zwischen einem formalen und dem materialen Rechtsstaat zu unterscheiden wie im der Eintrag vom 4. 12. 2020: Der EU-Rechtsstaatsmechanismus ist kein Mechanismus.
Für die IVR-Tagung in Münster ist ein Vortrag von Christoph Bezemek, Graz über »Die Allgemeinheit des Gesetzes zwischen Fullers Funktionstheorie und Kelsens Strukturtheorie« angekündigt. Vielleicht erfahren wir dort, dass Fuller die Allgemeinheit des Gesetzes wegen ihrer ethisch-moralischen Funktion schätzte, während Kelsen darin nur ein für die Geltung des Rechts notwendiges Organisationsprinzip erblickte.
Die juristische Gesetzesvorstellung ist so alt und grundlegend, dass man sich darüber streiten kann, ob sie im Mittelalter zum Vorbild der naturwissenschaftlichen Gesetzesvorstellung geworden ist oder ob gerade umgekehrt die Naturrechtler der Aufklärungszeit sich an dem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff orientiert haben. Spätestens im 19. Jahrhundert verbindet das Konzept allgemeiner Gesetze mit Ideen des politischen Liberalismus, insbesondere mit dem Postulat der Herrschaft des Gesetzes (rule of law). Seither jedenfalls wird dieser Gesetzesbegriff als rational[4] oder, wenn man ihn abwerten will, als rationalistisch gekennzeichnet. Für Max Weber bedeutete die Entscheidung nach generellen Regeln den Höhepunkt der Rechtsentwicklung zur formalen Rationalität.
Bei Max Weber wird vermutlich auf der Tagung in Münster Christoph Möllers anknüpfen mit einem Vortrag über »Allgemeines Gesetz als Modus der Legalität«. Ob es dazu noch etwas Neues gibt?
Die Kehrseite des allgemeinen Gesetzes ist das Gleichheitspostulat. Die gleiche Behandlung gleicher Fälle lässt sich wohl[5] nur über allgemeine Gesetze erreichen. Deshalb ist es ein Erfordernis des Rechtsstaats, dass grundsätzlich nach allgemeinen Regeln verfahren wird.
Allgemeinheit des Gesetzes fordert nur, dass persönliche Eigenschaften der Betroffenen nicht von Fall zu Fall unterschiedlich berücksichtigt werden. Die Gleichheitssätze in Verfassungen und Menschenrechtserklärungen verlangen mehr. »Abstrakt« könnte das allgemeine Gesetz die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen oder gar von Freien und Sklaven zulassen. Aus der naturrechtlichen Gleichheitsvorstellung folgt aber die politische Forderung, dass bestimmte persönliche Eigenschaften weder bei der Gesetzgebung noch bei der Gesetzesanwendung einen Unterschied machen sollen.
Die Allgemeinheit des Gesetzes verlagert die Konkretisierung in die Anwendung des Gesetzes und erzeugt damit die Notwendigkeit der Interpretation, welche die zentrale Aufgabe der Rechtswissenschaft ausmacht. Die Kritik der Rechtsform setzt an der Allgemeinheit der Gesetze an. Sie trifft aber nur die relativ wenigen Fälle, in denen die Gesetze eine klare Sprache sprechen, die im konkreten Fall zu einem unangemessenen Ergebnis führt. Der Normalfall ist eine Interpretationsfähigkeit, die das allgemeine Gesetz anpassungsfähig macht.
Die Allgemeinheit der Regel impliziert Dauerhaftigkeit. Rechtsgesetze sind jedoch, im Gegensatz zu Naturgesetzen, nicht ewig, sondern änderbar. Die moderne Gesetzesflut, die zum größten Teil aus Gesetzesänderungen besteht, stellt die Allgemeinheit des Gesetzes auf eine harte Probe. Man spricht von einer Temporalisierung des Rechts. Sie ändert aber nichts daran, dass Gesetze für die Dauer ihrer Geltung als allgemein verstanden werden können. Eine gewisse Absicherung der Allgemeinheit gegenüber der laufenden Änderung liegt in dem Verzicht auf Rückwirkung von Gesetzen.
Unterhalb des Gesetzes gibt es viele singuläre Normen. Individuelle Rechtssätze, die, anders als Urteile und Verwaltungsakte, nicht aus generellen Normen abgeleitet werden, finden sich hauptsächlich in Verträgen. Es wäre höchst unpraktisch, ist aber denkbar, dass das gesamte Recht nur aus einer Menge von individuellen Imperativen bestünde, die auf Grund ihrer Quelle, eines irgendwie als Rechtssetzer tätigen Imperators, als Recht erkennbar wären und die sich mit einmaliger Anwendung erledigt hätten. Aus »praktischen Gründen« enthalten jedoch ausnahmsweise auch Parlamentsgesetze individuelle Normen, so z.B. das Gesetz über die »Südumfahrung Stendal« (BVerfGE 95, 1). Der Regelfall ist jedoch das allgemeine Gesetz, das auf eine unbestimmte Anzahl von Fällen anwendbar ist.
Der Gesetzgeber entscheidet »unter dem Schleier des Nichtwissens« (Rawls), d. h, ohne zu wissen, wer konkret im Einzelfall von dem Gesetz betroffen sein wird. Die Anwendung im Einzelfall ist Aufgabe der Behörden und Gerichte. Als Einzelfallgesetz bezeichnet man ein solches, dass zwar allgemein formuliert ist, de facto aber nur einen besonderen Fall betrifft. Das Gesetz über die »Südumfahrung Stendal« war dagegen ein Maßnahmegesetz. Maßnahmegesetze installieren keine auf Dauer angelegte Ordnung. Sie verfolgen einen relativ konkreten Zweck und machen sich, wenn sie erfolgreich sind, selbst überflüssig. Die Unterscheidung vom Einzelfallgesetz und von allgemeinen Gesetzen ist schwierig.[6] Einen begriffsprägenden Beiklang erhielt das Maßnahmegesetz durch Ernst Fränkel. 1941 veröffentlichte er im amerikanischen Asyl das Buch »The Dual State«.[7] Darin stellte er als Wesenszug des »Dritten Reiches« die Verdrängung des Rechtsstaats durch einen Maßnahmenstaat heraus.
Eigentlich sollte das Grundgesetz nach schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik und bösen Erfahrungen in der Nazizeit Einzelfall- und Maßnahmegesetze verbieten.[8] Doch das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes ist in Art. 19 I 1 GG nur schwach verankert, nämlich nur für solche Gesetze, welche Grundrechte einschränken. Es wird aber anerkannt, dass der Rechtsstaat als Institution auf allgemeine Gesetze angewiesen ist. Damit Gewaltenteilung funktionieren kann, braucht es die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative und als Bindeglied zwischen den dreien das Gesetz.
Es wäre voreilig, der Allgemeinheit des Gesetzes ein Ende vorauszusagen, weil die Digitalisierung einen personalisierten Zugriff auf die einzelnen Bürger gestatten könnte.[9] Die Wirtschaft verfügt längst über einen Datenstrom, der es ihr gestattet, dem Einzelnen mit oder ohne Nachfrage Angebote zu machen, die zu seiner Bedarfs- und Risikostruktur passen. In der Rechtsanwendung hat eine datenbasierte Personalisierung mit dem Vorstrafenregister und dem Flensburger Verkehrszentralregister Einzug gehalten. Für die Rechtssetzung sind personalisierte Imperative nicht undenkbar. Es gibt sie schon in Gestalt von Verträgen und individuell zugemessenen Sanktionen Erlaubnissen und Verboten. Sie beruhen jedoch stets auf allgemeineren Gesetzen. Die Verwaltung wird mit einiger Sicherheit mehr und mehr digitalisiert. Das automatisierte Mahnverfahren kann man als den Beginn einer digitalisierten Justiz ansehen. Bestrebungen der Politik, eine Geschlechtswahl durch Willenserklärung zu ermöglichen, kann man als Einstieg in ein personalisiertes Recht interpretieren. Personalisiertes Recht wird unvermeidlich zu neuen Kategorisierungen führen. Die werden dann früher oder später wieder durch Gleichheitsforderungen in Frage gestellt werden. Bevor man weiß, wie sich die Dinge konkret weiterentwickeln, ist es schwer, normative Beurteilungsmaßstäbe zu finden. Ein Schreckgespenst personalisierten Rechts ist das chinesische Sozialkreditsystem.
Ohne allgemeine Gesetze gibt es also keine Gewaltenteilung, keine Rechtsanwendungsgleichheit und keine Rechtssicherheit. Für den Einzelfall bietet die Allgemeinheit des Gesetzes einen Schutz vor Willkür. In der Allgemeinheit der Rechtsnorm, so H. L. A. Hart[10] steckt der Kern der Gerechtigkeit:
»Somit haben wir bereits selbst dann, wenn die schlimmsten Gesetze gerecht angewandt werden, im bloßen Begriff der Anwendung einer allgemeinen Rechtsregel zumindest den Kern der Gerechtigkeit.«
Das klingt ganz anders als die Kritik des Fuller-Buches »The Morality of Law« (1964) im Harvard Law Review 78, 1965, 128, die die Hart-Fuller-Kontroverse[11] auslöste.
Die Allgemeinheit des Gesetzes ist Ansatzpunkt für die Rechtskritik. Dazu folgt ein weiterer Eintrag.
Fortsetzung geplant.
[1] Andreas Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004, 5ff.
[2] Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 1948, S. 4.
[3] Ich ziehe den Formbegriff an dieser Stelle vor, weil er mit »Inhalt« einen prägnanten Gegenbegriff hat. Der Strukturbegriff wird erst in spezifischen Kontexten gehaltvoll. Einen solchen Kontext bietet die kognitionspsychologische Theorie der strukturellen Analogie. Ein Beispiel gibt die Metapher vom Staat als Maschine. Staat und Maschine haben äußerlich nichts gemeinsam. Vergleichbar ist nur die Relation oder Funktion der unterschiedlichen Bestandteile zu zueinander, die unsichtbare Strukur. Die Theorie geht zurück auf einen Aufsatz von Dedre Gentner, Structure‐Mapping: A Theoretical Framework for Analogy, Cognitive Science 1983, 155-170.
[4] Robert Alexy: »Voraussetzung praktischer Rationalität« (Theorie der Grundrechte, 1985, 90ff).
[5] Die Alternative wäre eine Bindung an Präjudizien. Nach sozusagen herrschender Meinung funktioniert die aber nur, wennn man dem Präjudiz eine Regel entnimmt.
[6] Grundlegend Ernst Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, 221-236; Konrad Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, 1963.
[7] Der Doppelstaat. Recht und Justiz im Dritten Reich, 1974.
[8] Konrad Sahlfeld, Die Einzelfallgesetzgebung – ein Streiflicht, in: FS für Paul Richli, 2011, 837-855. Sahlfeld erinnert daran, dass Klaus Stern (Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 712ff) das Verbot von Einzelfallgesetzen stärken wollte, während das Bundesverfassungsgericht sich scheut, Gesetze aus einem derart formalen Grunde zu vernichten. Wichtige Literatur zur Allgemeinheit des Gesetzes: Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Christian Starck (Hg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, 10-48; Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes. Über einen notwendigen Garanten der Freiheit, der Gleichheit und der Demokratie, 2009; ders., Die Funktion des allgemeinen Gesetzes, in: Winfried Kluth/Günter Krings (Hg.), Gesetzgebung, 2014, 95-121.
Nüchterner bilanziert Zoldan die Vor- und Nachteile von Einzelfallgesetzen. Sie könnten den politischen Prozess korrumpieren, eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung zur Folge haben und als Einmischung des Gesetzgebers in Justiz und Verwaltung die Gewaltenteilung stören. Gelegentlich sei solche Gesetzgebung aber auch von Vorteil, etwa bei lokalen Problemen oder zur Unterstützung unterprivilegierter Minoritäten und ausnahmsweise sogar zur Herstellung von Gleichbehandlung. Wünschenswert seien jedoch Sicherheitsvorkehrungen für das Gesetzgebungsverfahren wie qualifizierte Mehrheiten und besondere Partizipationsmöglichkeiten (Evan Craig Zoldan, Legislative Design and the Controllable Costs of Special Legislation, 2018, SSRN 3259678.).
[9] Cass R. Sunstein erwägt den Einstieg in personalisiertes Recht mit den sog. default rules (Deciding by Default, University of Pennsylvania Law Review 162, 2913, 1-58, S. 48ff). Aus der neueren Literatur: Philip Maximilian Bender, Grenzen der Personalisierung des Rechts, 2022; Hans Christoph Grigoleit, Distinctions and Clarifications for the Debate on Personalized Law, 2021, SSRN 4150745; Sandra Gabriel Mayson, But What Is Personalized Law?, University of Chicago Law Review Online, 2021 = SSRN 4100511.
[10] Herbert L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, 284.
[11] Zu dieser Peter Cane (Hg.), The Hart-Fuller Debate in the Twenty-First Century, 2010; Kristen Rundle, Forms Liberate. Reclaiming the Jurisprudence of Lon L. Fuller, 2012; Daniel Priel, Reconstructing Fuller’s Argument Against Legal Positivism, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 26, 2013 = SSSRN 2244594; Frederick Schauer, Fuller and Kelsen — Fuller on Kelsen, ARSP Beiheft 163, 2020, 309-318 = SSRN 3607099.