Frege und die Frage nach dem Geist der Geisteswissenschaften

Die traditionelle Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften hat an Bedeutung verloren. Man orientiert sich eher an der Unterscheidung zwischen sciences und humanities und differenziert letztere in Lebens- und Kulturwissenschaften. Moderne Rechtswissenschaft ist durch die Vielfalt ihrer Ansätze gekennzeichnet. Dennoch bleibt die Einordnung der Jurisprudenz als Geisteswissenschaft so zentral, dass die Frage nach Gegenstand und Methode der Geisteswissenschaften jedenfalls aufgeworfen werden muss, auch wenn keine definitive Antwort in Ausicht steht.

Es liegt nahe, Gedankeninhalte als solche, also unabhängig von ihren Trägern, als objektiven Geist zu kennzeichnen. Diese Benennung ist gefährlich. Sie lässt sich nicht verwenden, ohne dass Hegel in den Sinn kommt, der bekanntlich in seiner »Philosophie des Geistes«, dem Dritten Teil der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«, zwischen subjektivem, objektivem und absolutem Geist unterschied. Objektiver Geist ist bei Hegel mehr als ein bloßer Gegenstand der Betrachtung. Er bezeichnet das einer Gruppe, einer Gemeinschaft oder einem Volk gemeinsame Überindividuelle, das im Bewusstsein der Menschen auch als deren »subjektiver Geist« präsent sein kann, das aber zugleich »objektiv« im Sinne von vernünftig, richtig und historisch notwendig sein soll. Recht, Staat und Sittlichkeit bilden für Hegel geradezu das Dasein des Geistes, auf das sich die Geisteswissenschaften richten.[1]

Philosophen unterscheiden Immanenz und Transzendenz. Unter Immanenz wird die erfahrbare Welt verstanden, während Transzendenz ein Jenseits bezeichnet, zu dem Menschen nur im Gedankenflug Zugang haben. Dieser Ausgangspunkt legt eine dualistische Unterscheidung von Leib und Seele, Natur und Geist nahe. Das wäre der berühmte oder berüchtigte cartesianische Dualismus. Im 19. Jahrhundert beförderten die enormen Erfolge der Naturwissenschaften die Vorstellung, dass auch Gesellschaft und Geist naturwissenschaftlich erklärt werden könnten. Aus dem Dualismus schien ein psychologischer Monismus (Materialismus, Physikalismus) zu werden. Die Philosophie sah sich vor der Frage, ob die Geisteswissenschaften neben Soziologie und Psychologie noch einen Platz behaupten könnten.

Nicht alles ist Psyche oder »Vorstellung«, meinte der Mathematiker Gottlob Frege:

»Sonst enthielte die Psychologie alle Wissenschaften in sich oder wäre wenigstens die oberste Richterin über alle Wissenschaften. Sonst beherrschte die Psychologie auch die Logik und die Mathematik.«[2]

»Gedanken« haben Inhalte, die bestehen bleiben, wenn sie von ihren menschlichen Trägern losgelöst (abstrahiert) werden. Frege schrieb deshalb:

»Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muss anerkannt werden.«[3]

So postulierte Frege mit dem dritten Reich der Gedanken oder des Geistes einen ontologischen Trialismus. Fast gleichzeitig, aber unabhängig von Frege entwickelten die Juristen Gustav Radbruch und Hermann Kantorowicz einen Trialismus eigener Art.

Als Neukantianer lösten Radbruch und Kantorowicz das Problem des psychologischen Monismus, indem sie einen Methodendualismus postulierten. In einer Formulierung des Rechtsphilosophen Gustav Radbruch, der sich dazu in der ersten Fußnote (auf S. 91) auf »die philosophischen Lehren Windelbands, Rickerts und Lasks« bezogen hatte:

»Die Kantische Philosophie hat uns über die Unmöglichkeit belehrt, aus dem, was ist, zu schließen, was wertvoll, was richtig ist, was sein soll. … Sollenssätze, Werturteile, Beurteilungen können nicht induktiv auf Seinsfeststellungen, sondern nur auf andere Sätze gleicher Artgegründet werden. … Das ist das Wesen des Methodendualismus[4]

Radbruch ging also nicht »ontologisch« von einem besonderen Objektbereich der Geisteswissenschaften aus, sondern hob auf die Methode des Umgangs der Wissenschaft mit ihrem Gegenstand ab. So sollte der Gegenstand der Wisssenschaft aus der Methode entstehen.[5] (Bald darauf wird es besonders Hans Kelsen sein, der immer wieder betont, dass die Methode ihren Gegenstand konstituiere.)

Um die Methode ging es auch Hermann Kantorowicz. Auch er behandelte Sein und Sollen als grundsätzlich verschiedene Bereiche, die unterschiedlicher Methoden zu ihrer Erforschung bedürfen. Klar war, dass das Sein (auch des Rechts) der Empirie zugänglich ist. Klar war auch, dass sich aus dem Sein keine Sollenssätze ableiten lassen. Problematisch blieb damit, wie denn mit Rechtssätzen als Sollenssätzen überhaupt wissenschaftlich umgegangen werden könnte. Für Radbruch galt:

»Sollenssätze sind nur durch andere Sollenssätze begründbar und beweisbar. Eben deshalb sind die letzten Sollenssätze unbeweisbar, axiomatisch, nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig.«[6]

Wegen dieses Bezugs auf verschiedene wissenschaftlich nicht belegbare Endpunkte spricht man von Relativismus. Wenn man jedoch von bestimmten höchsten Werten ausgeht, lässt sich immerhin systematisch = wissenschaftlich entwickeln, wie das Recht gestaltet werden soll und die Rechtswirklichkeit daraufhin überprüfen, ob sie den vorausgesetzten Wertenfolgt. Das ist die Lehre des systematischen Relativismus.

Aus dem Methodendualismus wurde bei Radbruch später ein »Trialismus der Betrachtungsweisen«, den er allerdings nur andeutete:

» … daß … mit der bloßen Antithese von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Wert nicht auszukommen ist, daß vielmehr zwischen Wirklichkeitsurteil und Wertbeurteilung die Wertbeziehung, zwischen Natur und Ideal der Kultur ihr Platz gewährt werden muß: die Rechtsidee ist Wert, das Recht aber wertbezogene Wirklichkeit, Kulturerscheinung. So wird der Übergang vollzogen von einem Dualismus zu einem Trialismus der Betrachtungsweisen. … Dieser Trialismus macht die Rechtsphilosophie zu einer Kulturphilosophie des Rechts.«[7]

In einer Fußnote bezog Radbruch sich u. a. auf Emil Lask und Kantorowicz. Bei Lask ist zu einem Trialismus nichts zu finden[8]. In seiner »Rechtsphilosophie« heißt es nur, »aller Streit um die bloße Methodologie« werde »erst in einem System überempirischer Werte seine endgültige Entscheidung« finden[9]. Bei Kantorowicz ist dagegen zu lesen:

»Jeder Gegenstand der Erkenntnis, und so auch der Staat, kann auf die grundlegend verschiedene Weisen betrachtet werden: er muß sich als ein Stück Wirklichkeit erfahren, als ein Sinngebilde konstruieren, auf seinen Wert hin beurteilen lassen. … Dies ist die erkenntnistheoretische Grundlage, von der ich ausgehe; man kann sie als Drei-Weltenlehre oder erkenntnistheoretischen Trialismus bezeichnen.«[10]

Ausführlicher erklärt Kantorowicz seinen Trialismus – ohne diesen Begriff zu verwenden – in einem Aufsatz von 1928:

Bezüglich ihres Gegenstandes können die Wissenschaften in drei Gruppen eingeteilt werden: 1. Wirklichkeitswissenschaften, 2. Sinneswissenschaften, 3. Wertwissenschaften. … Ein Rechtsanwalt erklärt seinen Klienten: ›1. Ihr Fall fällt unter ein veraltetes, aber wenn es richtig ausgelegt wird, noch geltendes Gesetz, und Sie müßten den Prozeß daher eigentlich gewinnen. 2. Dieses Gesetz steht jedoch im Widerspruch zu unseren modernen Ansichten und erscheint daher ungerecht. 3. Also wird der Richter Braun, den ich zufällig kenne, das Gesetz so eng auslegen, daß Sie den Prozeß verlieren werden.‹ Hier befaßt sich der erste Satz mit dem Sinn, der zweite mit dem Wert und der Dritte mit der Wirklichkeit.«[11]

»Geist« findet man sicher in der »Welt des Sinnes (objective meaning), die ausschließlich aus »Sinngebilden (ideal‹ things)« bestehen soll. Aber auch »Werte« erscheinen uns, anders als die Werturteile konkreter Menschen, als »geistige« Phänomene. Kantorowicz verwendet an dieser Stelle einen weiten Wertbegriff:

»Die Welt der Werte umfasst den logischen (oder theoretischen) Wert der Wahrheit, den ästhetischen Wert der Schönheit und die ethischen (oder praktischen) Werte der Sittlichkeit, der Gerechtigkeit, der Sittsamkeit usw.«[12]

Diese Gleichstellung von Wahrheit mit Schönheit und Gerechtigkeit macht die Sache schwierig. Schwieriger noch wird, es, wenn Kantorowicz für die Werte objektive und notwendige Geltung postuliert. Von den Werten heißt es nämlich weiter, sie seien, anders als Sinngebilde,

»nicht …ohne Beziehung zur Wirklichkeit, sondern positiv oder negativ mit ihr verbunden, d. h., sie sollten oder sie sollten nicht verwirklicht werden. Dies ›Dasein-sollen‹ (ought-to-being), diese Geltung (validity) der Werte ist eine objektive und notwendige, d. h. die Werte sind gültig unabhängig von unserem Wissen und unserem Willen. … Die objektive Gültigkeit der Werte schließt jedoch nicht ihre Allgemeingültigkeit in sich, d. h. sie hat nicht für alle gleich bindenden Charakter. Die Allgemeingültigkeit ist freilich gewiß im Falle des theoretischen Wertes, da mehr als eine Wahrheit logisch undenkbar ist. Doch sie ist nur wahrscheinlich im Falle des ästhetischen Wertes und höchst unwahrscheinlich im Falle praktischer Werte. Daher ist die Gültigkeit praktischer Werte nur eine relative … .«[13]

Zum Umgang mit den praktischen Werten erläutert Kantorowicz anschließend, was wir bei Radbruch als systematischen Relativismus kennen gelernt haben. Das Verhältnis des Trialismus zum Methodendualismus wird daraus aber nicht klar. Er erschließt sich vielleicht, wenn man Radbruchs Lehre von der Rechtsidee dazwischenschaltet.[14] In dem Radbruch-Zitat von S. 128 hieß es, die Rechtsidee sei der Wert. Eine Seite zuvor las man, Recht sei »die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen«. »Gerechtigkeit« heißt in diesem Zusammenhang nur, dass das Recht einen Wertbezug hat, nicht aber welchen. Der Trialismus soll dann diesen Wertzusammenhang für verschiedene Gerechtigkeitskonzepte ausbuchstabieren und fällt damit unter den systematischen Relativismus.

Aus heutiger Sicht erscheint bemerkenswert, dass Radbruch und Kantorowicz nicht auf die Drei-Welten-Lehre Gottlob Freges Bezug zu nahmen, die sie anscheinend gar nicht kannten. Auch die heutigen Interpreten von Radbruch und Kantorowicz wie Muscheler,[15] Auer[16], Saliger[17]oder Zhao[18] stellen diesen Bezug nicht her. Umgekehrt erwähnt ein neues Buch von Neves, das sich ausführlich auf Freges Drei-Welten-Lehre stützt, weder Radbruch noch Kantorowicz (und auch nicht Popper).[19] Eine Erklärung bietet vielleicht der Umstand, dass Kantorowicz und Radbruch ihren Trialismus ausdrücklich nicht als ontologisch, sondern als erkenntnistheoretischen oder Methodentrialismus einordneten, während Freges Trialismus ontologisch zu sein scheint. Aber was bleibt von der objektiven und notwendigen Gültigkeit der praktischen Werte, wenn ihnen die Allgemeingültigkeit abgesprochen wird? Doch wohl nur ein ontologischer Status in der Transzendenz. Daher ist der Abstand zu Frege wohl doch nicht so kategorial. So hat der Germanist Friedrich Vollhardt kein Problem damit; die Erkenntnistheorie Heinrich Rickerts, (auf die Radbruch und Kantorowicz sich beziehen) mit Freges Ansatz zu vergleichen.[20] Was bei letzterem zur »dritten Welt« gehört, erscheint bei Rickert als eine Art transzendentaler Wirklichkeit. Deshalb hier noch einmal die Frage: Wo bleibt der Geist als Gegenstand der Geisteswissenschaft.

Freges Drei-Welten-Lehre ist insofern eng, als sie als »Gedanken«, die jenseits von Natur und Psyche eine eigene Wirklichkeit bilden, nur wahrheitsfähige Sätze anerkennt. Damit bleiben wesentliche Aspekte des Rechts außerhalb der drei Wirklichkeiten. Hier hilft eine Erweiterung der Lehre Freges durch Karl R. Popper: Danach

»… besteht die Welt aus mindestens drei ontologisch verschiedenen Teilwelten; oder, wie ich sagen werde, es gibt drei Welten: Die Welt 1 ist die physikalische Welt oder die Welt der physikalischen Zustände; die Welt 2 ist die geistige Welt, die Welt unserer psychischen Erlebnisse (Wünsche, Hoffnungen, Gedanken …), die Welt 3 ist die Welt der intellegibilia oder der Ideen im objektiven Sinne; es ist die Welt der möglichen Gegenstände des Denkens, die Welt der Theorien an sich und ihrer logischen Beziehungen; die Welt der gültigen Argumente an sich und die Welt der ungültigen Argumente an sich, die Welt der Problemsituationen an sich.«[21]

Poppers Welt 3 ist weiter als die dritte Welt Freges.

»By world 3 I mean the world of the products of the human mind, such as languages; tales and stories and religious myths; scientific conjectures or theories, and mathematical constructions; songs and symphonies; paintings and sculptures. But also aeroplanes and airports and other feats of engineering.«[22]

Freges dritte Welt – das sind in der Sprache Poppers die nicht materialisierten Gegenstände, also mathematische und physikalische Gesetzmäßigkeiten, die gelten, unabhängig, ob sie schon entdeckt worden sind. Poppers Welt 3 dagegen ist ein Produkt menschlichen Verstandes.[23] Dort finden sich Gegenstände, die einmal als Kulturerzeugnisse »materialisiert« waren: Theorien, Sprache, Literatur, Kunstwerke. Auch Rechtsnormen snd hier zu finden. Popper nennt die amerikanische Verfassung (Tanner Lecture S. 145). Popper bezweifelt zwar am Ende der Tanner Lecture, dass Computer denken können. Aber künstliche Intelligenz oder vielmehr die ihr zugrunde liegende Software müsste in Poppers Welt 3 gehören.[24]

»Gegenstände der Welt 3 sind abstrakt, noch abstrakter als physikalische Kräfte, aber nichtsdestoweniger wirklich … .«[25]

In der Tanner Lecture betont Popper den Unterschied zwischen Gedankenprozessen, die in Welt 2 ablaufen, und dem Gedankeninhalt, der in die Welt 3 gehört, am Beispiel der Relativitätstheorie Einsteins. Wenn immer jemand diese Theorie referiert, kritisiert, daraus Konsequenzen ableitet usw., geht es um konkrete Gedankenprozesse in Welt 2. Unabhängig von diesen Gedankenprozessen existiert die Theorie jedoch abstrakt in Welt 3. Das wäre selbst dann der Fall, wenn sie falsch wäre. Ein anderes Beispiel Poppers liefert die Sprache: Eine konkrete Sprache mit ihren Vokabeln gehört in Welt 2. In die Welt 3 fällt, was bei der Übersetzung von einer in die andere Sprache als Inhalt gleich bleibt.

Der Trialismus von Frege und Popper ist im Unterschied zu demjenigen von Radbruch und Kantorowicz nicht methodisch, sondern ontologisch. Die »dritte Welt« ist immateriell, aber sie ist doch wirklich, denn sie kann in die materielle Welt hineinwirken. Die von ihren Trägern, also von Menschenköpfen und Medien losgelösten Gedanken werden als einen Teil der erkennbaren Wirklichkeit behandelt. Zugleich können Gedanken aus Welt 3 in der Welt 1 und 2 kausal für Veränderungen werden. Erfahrbar ist die dritte Welt der Gedanken allerdings nur, soweit sie in irgendeiner Weise ihren Niederschlag in einem materiellen Kommunikations­medium gefunden hat, und sei es so flüchtig wie das gesprochene Wort oder eine bloße Geste. Das gilt umgekehrt auch für die Kausalität von Gedanken.

Dagegen fehlt der Gedankenwelt ein inhärenter Zusammenhang im Sinne des Hegelschen objektiven Geistes. Sie ist nicht in sich vernünftig oder gerichtet. Aber vielleicht entwickelt sie sich im Sinne einer ungerichteten Evolution. Die Gegenstände in Poppers Welt 3 bilden zwar kein System, aber auch kein bloßes Sammelsurium.

»What is most characteristic of this kind of world 3 object is that such objects can stand in logical relationships to each other.«[26]

Es soll wohl nicht jeder simple Gedanke in die Welt 3 gelangen wie z. B.: Morgen wird es regnen. Aber der Qualitätsfilter bleibt undeutlich. Ausgeschlossen werden anscheinend simple Protokollsätze, die eine individuelle Beobachtung festhalten. In Welt 2 verblieben wohl triviale Gedanken, wie sie jedem Menschen unzählig durch den Kopf gehen und ausgesprochen werden, wie sie im Meer der Akten und Presseerzeugnisse, der Notizen und sozialen Netzwerke ihren Niederschlag finden.

Popper bemüht sich zwar, seine Konstruktion gegen die Ideenwelt Platons abzusetzen.[27] Die Welt 3 soll keine päexistenten, sondern nur von Menschen gemachte Gegenstände beinhalten. Sie bilden ein »evolutionäres Produkt« der Welt 2. Man kann sich aber schwer vorstellen, dass abstrahierte Gedankeninhalte wieder verloren gehen. Es wirkt auch inkonsequent, dass anscheinend nur Gedanken, die einem (undefinierten) Qualitätsanspruch genügen, die Welt 3 erreichen. In der Schulphilosophie ist Poppers Welt-3-Realismus wenig Beifall gefunden.

Popper spricht von der Welt 3 auch als einer Welt objektiven Wissens. Der Wissensbegriff bringt neue Probleme mit sich. Ich ziehe es daher vor, mit Nicolai Hartmann von der dritten Welt des Geistes als von objektiviertem Geist zu sprechen.

»Wir haben es ausschließlich mit dem Geist in den Grenzen unseres Erfahrungsfeldes zu tun, mit dem, was allein wir kennen und nachweisen können, dem ›empirischen Geist‹.«[28]

Der ontologische Status des objektivierten oder empirischen Geistes kann für Juristen dahinstehen. Sie können den Trialismen Freges und Poppers jedenfalls so viel abgewinnen, dass sie das Universum der Gedanken in vielen Zusammenhängen losgelöst von ihren Trägern behandeln, so als ob es sich wirklich um eine dritte Wirklichkeit handelte. [29]

Der Gedanken sind so viele wie Sand am Meer und Blätter im Wald. Ein Als-Ob-Trialismus in Anlehnung an Frege und Popper lässt offen, mit welcher Methode man die Welt des Geistes erforschen kann. Am Ende kommt man doch wieder auf die klassischen Methoden der Geisteswissenschaften zurück. Das gilt vorab für die Hermeneutik, ist doch die dritte Welt des Geistes immer nur über Kommunikationsangebote zugänglich, die interpretiert werden müssen. Stets gilt es, aus der Überfülle der Gedanken einen Ausschnitt zu wählen. Unvermeidbares Selektionskriterium bleibt dabei ein Wertbezug. Immerhin legt der Trialismus nahe, die Geisteswissenschaften auf eine mit allen anderen Wissenschaften gemeinsame Rationalität zu verpflichten.

An erster Stelle ist die Informationstheorie zu nennen, denn der Informationsbegriff wird gerne mit dem Sinnbegriff verglichen, wie er um die Wende zum 20. Jahrhundert die Philosophie entwickelt hat.

  • Niklas Luhmann hat auch Kommunikation und Beobachtung zu universalen Konzepten gemacht. Information wird zur Kommunikation, wenn sie absichtsvoll mitgeteilt und diese Mitteilung von anderen beobachtet und als solche verstanden wird. Hier findet die geisteswissenschaftliche Tradition der Hermeneutik Anschluss.
  • Als universelles Konzept dient seit jeher der Systemgedanke. Der Systemgedanke ist besonders hilfreich, wenn es um komplexe Phänomene geht. Das sind solche, die aus vielen, oft sehr einfach gebauten Teilchen oder Agenten bestehen, die durch ihr Zusammenspiel das für das System charakteristische Verhalten zustande bringen. Das Verhalten der einzelnen Teilchen ist oft relativ gut erforscht und verstanden. Aber das genügt nicht, um den (emergenten) Gesamteffekt zu erklären. Klassisches Beispiel ist das Gehirn. Es ist aufgebaut aus Milliarden relativ einfacher Synapsen, deren Funktion gut erforscht und verstanden ist. Durch ihre Verschaltung bringt das Gehirn unglaubliche Leistungen wie Lernen, Vergessen, Fühlen und Bewusstsein hervor, die sich noch längst nicht voll erklären lassen. Genauso sind die Handlungen einzelner Akteure in Märkten oder Gesellschaften relativ gut bekannt. Wie aus deren Wechselwirkungen Aufschwung oder Rezession, Spekulationsblasen oder Börsenralleys werden, bleibt dagegen weitgehend unverstanden. Zunächst hat man Systeme notgedrungen als Black Box behandelt, das heißt, man hat sich mit der bloßen Tatsache zufriedengegeben, dass aus der Verknüpfung einzelner Elemente zu einem System ein neues »emergentes« Gesamtverhalten entsteht. Im Laufe der Zeit ist aber eine Reihe von Konzepten hinzugekommen, die jedenfalls partiell eine Brücke von dem Verhalten der Systemelemente auf das Gesamtsystem schlagen. Norbert Wiener wollte nach 1945 mit der Kybernetik eine Universalwissenschaft zu Erklärung des Innenlebens aller Systeme begründen. Dieser Anspruch ist zwar nicht eingelöst worden. Geblieben ist aber die Idee der Rückkopplung und des Regelkreises.
  • Zu den universellen Rationalitäten zählt die Idee der Evolution, deren glänzende Formulierung Darwin vor 150 Jahren (1849) gelungen war. Evolution ereignet sich überall, wo Leben ist. Eine wichtige Anpassungsstrategie der meisten Lebewesen, die zur Erhaltung der Art beiträgt, ist die Überproduktion von Samen und Nachkommen. In der dritten Welt des Geistes beobachten wir eine Überproduktion von Gedanken, von Normen, Ideen und Kritik. Da drängt sich die Frage auf, welche (Rechts-)Gedanken sich durchsetzen. Die Evolution des Rechts ist ein großes Thema der Rechtssoziologie. Sie beobachtet den sozialen Wandel nicht nur, aber auch als Wirkung von Gedanken.[30]
  • Gedanken sind so häufig wie Sand am Meer. Aber sie sind alle nicht so unverbunden wie einzelne Sandkörner. Sie bilden Ketten oder Gebäude und sind vielfach untereinander vernetzt. Daher ist auch die Netzwerktheorie relevant, die sich zu einem transdisziplinär wichtigen Instrument entwickelt hat.[31]
  • Die Spieltheorie zeigt einen Weg von der individuellen zu einer strukturellen Rationalität.[32] Im Objektbereich des Rechts hat die Spieltheorie Bedeutung für die Suche nach (alternativen) Konfliktlösungen gewonnen.

[1] Zur Orientierung können Lexikon-Einträge dienen, z. B. Siegfried Blasche: Geist, objektiver. In: Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2008. Verwiesen sei zudem auf das Buch des französischen Rechtsphilosophen Jean-François Kervégan, Die verwirklichte Vernunft. Hegels Begriff des objektiven Geistes, 2019.

[2] Gottlob Frege, Der Gedanke – eine logische Untersuchung, Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 2, 1918-1919, 58-77, S. 75. (Abgedruckt in den Sammelbänden Gottlob Frege, Logische Untersuchungen, 5. Aufl. 2003, sowie in: Gottlob Frege, Kleine Schriften, 1967)

[3] Ebd. S. 69.

[4] Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie [1914], hier zitiert nach der 5. Aufl. 1956, dort S. 97.

[5] Als Begründer einer geisteswissenschaftlichen Methode gelten Wilhelm Dilthey (1833-1911), Wilhelm Windelband (1848-19015) und dessen Schüler Heinrich Rickert (1863-1936). Dilthey hat die Geisteswissenschaften auf die Hermeneutik ausgerichtet hat. Der Neukantianer Windelband stellte in seiner Straßburger Rektoratsrede von 1894 über »Geschichte und Naturwissenschaft« die Geschichtswissenschaft als »idiographische« (individualisierende) den »nomothetischen« (generalisierenden) Naturwissenschaft gegenüber. Diese Charakterisierung wurde von Rickert für alle Kulturwissenschaften verallgemeinert, aber auch relativiert, insofern als Rickert das Material, dass die Geisteswissenschaften erforschen, durch seinen Bezug auf Werte konstituiert sah, die ihm Sinn verliehen. »Sinn« wurde zum Synonym für »Geist«.

Die Begriffe Geisteswissenschaft und Kulturwissenschaft wurden weithin gleichsinnig verwendet. Mit dem cultural turn der Postmoderne hat der Begriff der Kulturwissenschaften dagegen als universale Gesellschaftswissenschaft neue Bedeutung erhalten; vgl. dazu Rechtssoziologie-online § 15.

[6] Ebd. S. 100.

[7] A. a. O. S. 118.

[8] Vgl. Jing Zhao, Die Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs unter dem Einfluss von Emil Lask, 2020, S.222.

[9] Emil Lask, Rechtsphilosophie (Sonderdruck aus einer Festschrift für Kuno Fischer), 1905;

[10] Staatsauffassungen, 1925, Jahrbuch für Soziologie I, 1925, 101-114, hier zitiert aus dem Sammelband Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, 69-81, S. 69.

[11] Hermann Kantorowicz, Staatsauffassungen, Jahrbuch für Soziologie I, 1925, 101-114, hier zitiert aus dem Sammelband Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, dort S. 64f.

[12] Hermann Kantorowicz, Legal Science. A Summary of its Methodology, Columbia Law Review 28, 1928, 679-707, zitiert nach der Übersetzung als: Die Rechtswissenschaft – eine kurze Zusammenfassung, in: Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, 83-99, S. 86.

[13] Ebd.

[14] Zhao a. a. O S. 213, 222ff)

[15] Karlheinz Muscheler, Relativismus und Freirecht. Ein Versuch über Hermann Kantorowicz, 1984.

[16] Marietta Auer, Der Kampf um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft – Zum 75. Todestag von Hermann Kantorowicz, ZEuP 2015, 773-805, S. 803.

[17] Frank Saliger, Radbruch und Kantorowicz, ARSP 93, 2007, 236-251.

[18] A. a. O.

[19] Henrique Gonçalves Neves, Die Geltung als Tatsache, 2022. Viel anfangen kann ich mit diesem Buch, einer Dissertation, die von Alexy betreut wurde, nicht,

[20] Friedrich Vollhardt, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899, KulturPoetik 3, 2003, 279-285.

[21]  Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, 4. Aufl., 1998, S. 160.

[22] Karl R. Popper, The Tanner Lecture on Human Values, 1978, S. 144.

[23] Popper setzt sich mit Frege nicht ernsthaft auseinander. Er zitiert nur die Fußnote 5 von Freges Aufsatz »Über Sinn und Bedeutung«, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik NF 100, 1892, 25-50, dort S. 32. Sie lautet vollständig: »Ich verstehe unter Gedanken nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt, der fähig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein.«, nicht aber den Gedanken-Aufsatz von 1918/1919.

[24] Dazu Walter Hehl, Wechselwirkung. Wie Prinzipien der Software die Philosophie verändern, 2016; dort Kap 10 »Und wo bleibt der Geist?«.

[25] Karl R. Popper, Die Welten 1, 2 Die Welten 1, 2, und 3,, und 3, in: Popper/John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 1982, 61-77, S. 74.

[26] Tanner-Lecture S. 158)

[27] Die Welten 1, 2, und 3, S. 69ff.

[28] Nicolai Hartmann,.Das Problem des geistigen Seins, 1933, S. 51)

[29] Auch Juristen reden von objektiviertem Geist, so Helmut Coing in den »Grundzügen der Rechtsphilosophie« (Aufl. 1976, S. 287):

»Die Rechtsordnung ist mit anderen Worten ›geistiges Sein‹ und zwar ›objektiviertes‹ oder fixiertes geistiges Sein, d. h. ein in einem Text niedergelegter geistiger Gehalt.«

Soweit, so gut. Aber dann packt Coing in das »geistige Sein« mehr hinein, nämlich eine Geltungstheorie. Insoweit hat ihn Ulfried Neumann in einer Rezension (Neuere Schriften zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Philosophische Rundschau 28, 1981, 189-216, S. 191ff) gehörig zurechtgewiesen. Eine Normativierung des objektiven Geistes sei in Hartmanns Philosophie nicht angelegt. Das geistige Sein habe per se keinen Geltungsanspruch wie eine Rechtsnorm. So könne der Gesetzgeber die mit dem Gesetzestext in die Welt gesetzten Gedanken durch einen actus contrarius nicht wieder aus der Welt schaffen.

[30] Niklas Luhmann hatte schon relativ früh eine Evolutionstheorie des Rechts entworfen, die zentrale Begriffe der biologischen Evolutionstheorie – Variation, Selektion und Stabilisierung – übernahm (Evolution des Rechts, Rechtstheorie 1, 1970, 3-22 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34; Rechtssoziologie Bd. 1, 1972, S. 132 ff.). Mit der Umstellung auf die autopoietische Systemtheorie kam Luhmann der Biologie noch ein Stück näher, denn die Systeme wurden »lebendig« und ihre Evolution nun zum Herzstück seiner großen Bücher (RdG und GdG). Im »Recht der Gesellschaft« von 1995 handelt das ganze 6. Kapitel (S. 239-296) von der »Evolution des Rechts«. Darin wird der Evolutionsbegriff »in Anlehnung an die Theorie Darwins« benutzt. In der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) trägt das umfangreiche Kapitel 3 (181 Seiten) die Überschrift »Evolution«. Auch andere Autoren, die sich auf die autopoietische Systemtheorie stützen, lehnen sich für die Entwicklung des Rechts an die biologische Theorie an.

[31] Dazu meine eher zurückhaltende Einschätzung: »Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt«, in: Aarnio Aulis u. a. (Hg.), Positivität, Normativität und Institutionalität des Rechts, Festschrift für Werner Krawietz zum 80. Geburtstag, 2013, S. 537-565.

[32] Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität, 2001.

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