Braucht das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes eine ethische Begründung?

Dies ist die zweite Fortsetzung des Eintrags vom 5. 7. 2025 aus Anlass der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster unter dem Generalthema »Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« stattfinden soll.

Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes lässt sich ohne großen philosophischen Aufwand funktional rechtfertigen. Ein Recht aus lauter singulären Normen wäre schlicht unpraktisch. Nur ein allgemeines Gesetz kann Gleichheit gewähren. Die Gewaltenteilung fordert allgemeine Gesetze, andernfalls ließen Exekutive und Verwaltung sich nicht trennen. Aber auf einer Rechtsphilosophie-Tagung wird man sich damit nicht zufriedengeben.

Auf der Suche nach einer philosophischen Begründung des Allgemeinheitspostulats für die Gesetzgebung kann man, wie üblich, bei Aristoteles beginnen:[1]

»Am zweckmäßigsten ist es also, wenn gerecht erlassene Gesetze nach Möglichkeit alles selbst entscheiden und möglichst wenig den Richtern überlassen. … Der Kern der Sache aber liegt darin, dass der Gesetzgeber nicht nach dem Einzelfall, sondern zukunftsorientiert und für die Allgemeinheit entscheidet.« (Rhetorik 1354b)

Für die Tagung in Münster ist ein Vortrag von Johannes Hübner, Halle/Saale angekündigt: Was »unsere Vorgänger unerforscht gelassen haben«: Aristoteles über die Prinzipien der Gesetzgebung.

Auf der Saarbrücker Tagung von 1990 referierte Georg Meggle über »Das Universalisierbarkeitsproblem in der Moralphilosophie«.[2] Meggle betätigte sich hier als Logiker, der aufzeigt, was es bedeutet, von einem ethischen Urteil zu sagen, es sei universell. Ich will hier nur festhalten, dass Meggle eingangs betont, der Ausdruck Universalisierbarkeit sei mehrdeutig. Das Universalisierungsprinzip dürfe nicht mit dem Verallgemeinerungsprinzip und auch nicht mit dem Generalisierungsprinzip verwechselt werden. Meggle definierte wie folgt:

  • Das Universalisierungsprinzip besagt, dass »in einer Situation etwas nur dann geboten ist, wenn dasselbe in jeder Situation, die der erstgenannten hinsichtlich jeder universellen Eigenschaft gleicht, ebenfalls geboten ist.«
  • Das Verallgemeinerungsprinzip besagt, »dass »eine Handlung nur dann erlaubt ist, wenn es auch erlaubt ist, dass alle Leute sie vollziehen«.
  • Das Generalisierungsprinzip besagt, »daß moralische Urteile für möglichst viele Situationen einschlägig sein sollten.« Meggles Beispiel: »In allen Situationen, in denen durch eine Lüge kein Menschenleben gerettet wird, sollst du nicht lügen.«[3]

Meggles Definition des Universalisierungsprinzips verträgt sich wohl mit Niklas Luhmanns Vorstellung von dem Verbot der Selbstexemtion als Grundprinzip der Moral.[4] Juristen verwenden den Begriff aber inklusiver. Sie subsumieren darunter die utilitaristischen Verallgemeinerungsgrundsätze[5] ebenso wie den kategorischen Imperativ und sogar die Goldene Regel, die Meggle ausdrücklich ausgenommen hatte. Wollte man Meggles Definition folgen, so wäre universal nur ein Naturrecht, das wie ein empirisches Gesetz schlechthin Geltung hätte. Anklänge an diesen Ton hat immerhin die Diskussion um die universelle Geltung von Menschenrechten.

Im Tagungsthema für Münster erscheint »universell« als Gegenbegriff zu  »partikulär«, jedoch wird keines der beiden Stichworte in den Vortragsthemen aufgenommen. Dagegen war »Universalität« auf den Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie in der IVR in Halle (Saale) 2010) und Luzern 2011 über »Gleichheit und Universalität« ein Schwerpunkt. Julia Hänni, die in Münster mit Vortrag über » Abstraktion in der Methodik der Rechtsfindung antritt, hielt dort einen Vortrag über »Universalisierung«.[6]

Ich bin auf das Stichwort »Universalisierung« in einem viel kleineren Zusammenhang gestoßen, nämlich bei dem Versuch, mir darüber Klarheit zu verschaffen, wie man durch Analogien moralische und rechtliche Probleme lösen kann. Dabei führt die Suche nach der originären Analogie auf die Frage, ob die Betrachtung eines Falles zu einem singulären Verpflichtungsurteil führen kann, das sich auch in einem ähnlichen Fall bewährt, ohne dass dafür eine Regel notwendig wäre, eine Frage, die in der Moralphilosophie als Gegensatz zwischen Partikularismus und Generalismus verhandelt wird. Dazu bietet der Eintrag vom 16. 6. 2022 über Analogie – induktiv, deduktiv oder originär? allerdings nicht mehr als am Ende einige Literaturhinweise. Dort fehlt ein Hinweis auf Jonathan Dancy, den wohl prägnantesten Vertreter eines moralischen Partikularismus.

Bei der Definition der Verallgemeinerung kann man etwas deutlicher werden als Meggle. Für Juristen gilt: Was nicht geboten oder verboten ist, ist freigestellt. Eine Erlaubnis ist also nur eine Ausnahme von einem Gebot oder Verbot. Die Definition sollte also lauten, wenn eine Handlung geboten oder verboten ist, dann ist sie für alle Leute ceteris paribus, aber ohne Ansehen der Person, geboten oder verboten. Damit wäre sie allgemeines Gesetz. Meggles Definition ist insofern unglücklich, als das Stichwort »Verallgemeinerung« die Verallgemeinerungsgrundsätze des Regelutilitarismus[7] aufruft. Der erste Grundsatz – von mir Abstraktionsprinzip genannt, weil er vom Einzelfall absieht  – fragt, ob eine Handlung im Allgemeinen gute oder schlechte Folgen hat. Der zweite Grundsatz – das Kumulationsprinzip – fragt nach den kumulierten Wirkungen gleichartiger Handlungen. Die Beachtung diese Grundsätze wird meistens auf allgemeine Gesetze hinauslaufen. Aber die Allgemeinheit des Gesetzes setzt nicht unmittelbar eine regelutilitaristische Qualifizierung voraus.

Ich folge Meggle darin, dass es sinnvoll ist, zwischen Verallgemeinerung und Generalisierung zu unterscheiden. Allgemeinheit des Gesetzes verlangt nicht ohne Weiteres Generalisierung, wiewohl sie typisch mit Generalisierung einhergeht. Als Gegenbegriff zur Generalisierung nennt Meggle Individualisierung:

»Unter der Überschrift ›Generalisierung vs. Individualisierung wären etwa die Fragen zu diskutieren, ob Verhaltenskodizes viele mögliche Fälle einzeln durchspielen oder eher allgemein verfahren sollten und ob überhaupt eine Kodifizierung denkbar ist, die Einzelfällen gerecht wird.«

Es geht also nicht nur um Einzelfallgerechtigkeit, sondern auch darum, wie differenziert (individuell) Gesetze sein können und sollen. So hat der Gesetzgeber oft die Wahl zwischen einer abstrakten Regelung und einer Regelung durch konkrete Aufzählung (Enumeration). Postmodern inspirierte Autoren werden hier auch den Rechtspluralismus gegen monistisch-etatistisches Rechtssystem ins Spiel bringen.

Als Gegenbegriff zu »generell« ist im Tagungsthema von »kontextuell« die Rede. Auch der Kontext taucht in den Vortragsankündigungen nicht wieder auf. Das ist bemerkenswert, denn das Universalrezept zum Umgang mit dem abstrakt-generellen Gesetz heißt bei vielen heute »Recht im Kontext«. Dieses Thema verlangt nach einem eigenen Eintrag »Abstraktion und Recht im Kontext«.

Festzuhalten bleibt: Das Prinzip der Allgemeinheit des Gesetzes bedarf nicht unbedingt einer philosophisch-moralischen Begründung. Es ergibt sich hinreichend als Erfordernis praktischer Rationalität, wenn man sich positivistisch für einen formalen Rechtsstaat entschieden hat.

Fortsetzung geplant.


[1] Zur Ablehnung von Einzelfallgesetzen durch Aristoteles ausführlich Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, 82ff.

[2] ARSP-Beiheft 45, 1992, 143-156.

[3] Alle Ziate von S. 143.

[4] Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1980, S. 29.

[5] Zu diesen Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2 Aufl. 1977.

[6] ARSP-Beiheft 128, 2012, 141-150.

[7] Zu diesen Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2 Aufl. 1977.

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