Marietta Auer kokettiert mit der »persönlichkeits­zersetzenden Angst« der Juristenausbildung

Ein Interview von Marietta Auer durch Maximilian Steinbeis im Januar 2020[1] hat mindestens auf Twitter einige Aufmerksamkeit erregt. Das Interview ist überschrieben »Was mich eigentlich interessiert, ist das Gesellschaftliche«. Ein Tweet, der Auers Bemerkungen über die juristischen Staatsexamina lobt, gefiel und wurde retweetet.  Da »steckt noch die ganze strukturelle Gewalt des Obrigkeitsstaats drin«, sagt sie. Weiter ist von »dem komischen Konstrukt des Staatsexamens« die Rede, das der Tiefpunkt ihrer juristischen Ausbildungskarriere gewesen sei.

»Und dann die inhärente Menschenwürdeverletzung, dass man auf den Hundertstelpunkt genau gesagt bekommt, wie unzulänglich man ist!«

Garniert wird diese Klage mit einer abfälligen Bemerkung über »Notarssöhne mit ihren BMW-Cabrio«.

Von dem Verschleiß der Menschenwürde einmal ganz abgesehen, finde ich solche Äußerungen – mit Rücksicht darauf, dass Auer aktuell die bedeutendste Theoretikerin[2] des Privatrechts in Deutschland ist und sich eigentlich für das Gesellschaftliche interessiert – undifferenziert, Beifall heischend und damit opportunistisch. Auer konnte und musste damit rechnen, dass gerade ihre Bemerkungen über die juristischen Examina Beifall finden würden.

Das Jurastudium gilt als Prototyp übermäßiger Stressbelastung. Aber nur bei den Juristen. Wie Mediziner vor dem Physikum stöhnen und Maschinenbauer vor der Mechanik-Klausur, nehmen Juristen nicht zur Kenntnis, es sei denn, sie hätten eine Tochter, die das durchgestanden hat. Psychologen haben mit JurSTRESS ein Forschungsprojekt zur Examensbelastung im Jurastudium aufgelegt und fordern auf ihrer Webseite Studenten auf, das Projekt durch ihre Teilnahme zu unterstützen. Man kann ziemlich sicher sein, dass sich genug gestresste Studenten melden. Die Hagener Dissertation von Anja Böning[3] befasst sich mit dem Webforum Juraexamen.com, auf dem Studenten ihre Erfahrungen oder vielmehr ihren Frust mit der Examensvorbereitung und dem Examen ausbreiten. Böning interpretiert ihr Material mit Hilfe Bourdieus letztlich dahin, dass juristische Examina eine Auszahlung auf das symbolische und kulturelle Kapital darstellen, dass die Kandidaten mitbringen.

Aber vielleicht ist auch ein anderer Blick möglich. Klar: Studium und Examensvorbereitung sind zeitweise ziemlich stressig. Und schlechte Noten in Klausuren oder Hausarbeiten sind kein Vergnügen. Aber wer sein Abitur verdient hat und sich anstrengt, kann es durchaus schaffen. Dazu muss er kein Überflieger sein. Man sehe sich nur im Bekanntenkreis um, wer alles es geschafft hat. Ein bestandenes Examen ist nicht nur ein schönes Erfolgserlebnis, sondern noch immer die Eintrittskarte zu einem auskömmlichen Beruf. Mit Hilfe solcher Examina haben inzwischen Frauen Gerichte und Behörden erobert. In der Wissenschaft sind sie auf einem guten Weg. Nur in Wirtschaft und Technik läuft es zäher.

Die Erfolgreichen brüsten sich mit ihren Stresserfahrungen (und ihrem Durchbruch durch die Machomauer). In den Medien und in den sozialen Netzwerken werden dagegen unverhältnismäßig viele unangenehme oder schlechte Erfahrungen berichtet. Bad news are good news. Jammern und Klagen findet mehr Aufmerksamkeit als Erfolgsmeldungen. Bei Auer ist es gut gegangen. Sehr gut sogar. Trotzdem kokettiert sie mit ihren Stresserfahrungen. So trägt sie zu der Stimmung bei, die es allgemein erschwert, durchzuhalten und erfolgreich zu sein: Leistungsdruck ist böse. Es gehört sich, bei jeder Negativ-Kommunikation gekränkt zu sein. Frustrations­toleranz wird zum Charakterfehler.

Als Folge der Soziologisierung des Denkens wird »die Gesellschaft« für mehr oder weniger alles verantwortlich gemacht. Und das ist sie ja auch. Aber wenn sich dieser Glaube verbreitet, wird er selbst zur Ursache eines säkularen Kismet-Denkens. Die moderne Form der Prädestinationslehre ist die Überzeugung, dass sich alle Befindlichkeiten, Eigenschaften, Defizite und Erfolge einer Person aus ihrer sozialen oder biologischen Genese oder, wie man früher sagte, aus Anlage und Umwelt erklären lassen. Die Soziologie hat seit jeher darauf verzichtet, die von Deprivationen aller Art Betroffenen selbst für ihr Schicksal verantwortlich zu machen. Sie hält zwar nichts von einem genetic turn, der mehr und mehr menschliche Eigenschaften deterministisch erklärt. Ersatz bietet aber die auch von Böning herangezogene quasideterministische Praxistheorie Bourdieus. Die verschiedenen Determinismen addieren sich und werden zur Self-fullfilling-Prophecy. Die Folge ist freilich nicht blanker Fatalismus im Sinne einer amor fati oder eines resignierenden Quietismus. Die Psyche reagiert nicht immer logisch. Deshalb meinte Max Weber, die Prädestinationslehre des Calvinismus habe ihre Anhänger zu vermehrter innerweltlicher Aktivität angetrieben. Der moderne soziobiologische Determinismus hat eine umgekehrt paradoxe psychische Konsequenz, den Ruf nämlich nach Hilfe, nach »Belehrung, Betreuung, und Beplanung« (Schelsky).

Verantwortungsbewusstsein, Leistungsbereitschaft und Frustra­tions­toleranz als Bausteine des kulturellen Kapitals werden umso wertvoller, je mehr man sie abwertet. Die »Schwachen« vor Stress zu schützen, bedeutet tatsächlich, ihnen kulturelles Kapital vorzuenthalten. »Du kannst es! Reiß dich am Riemen!« hilft in vielen Situationen besser als Mitleid. Leute strengt Euch an! Selbst ist die Frau, selbst ist der Mann!

»Erst recht der Weg zur Wissenschaft in Deutschland ist extrem hart.«

Wie, wenn es anders wäre? Gegenüber dem, was im Leistungssport verlangt wird, geht es in der Wissenschaft eher gemütlich zu.

»Kann das wirklich der Weg zu Erkenntnis und intellektueller Entfaltung sein, in einem solchen Säurebad sozialisiert zu werden?«

Wäre ein Bad in Eselsmilch besser für die Wissenschaft?

»Das Scheitern wird privatisiert. Ist man erfolgreich, sind alle stolz, die Lehrer, die Gönner. Aber wenn man scheitert, dann scheitert man ganz allein.«

Das klingt zunächst richtig. Doch wie soll man das »Scheitern« sozialisieren? Gewisse institutionelle Vorkehrungen sind sicher wünschenswert. Zu meiner Zeit gab es in Bochum besondere Kurse für Wiederholer. Wichtiger ist aber wohl eine Portion Konstruktivismus, die das Scheitern zum Neubeginn umdefiniert. Anscheinend ist die juristische Ausbildung doch so gut, dass auch Studienabbrecher, Examensverlierer und Beinahe-Wissenschaftler in aller Regel ihren Platz in Beruf und Leben finden.

Die Kritik an der juristischen Ausbildung und die Anstrengungen um eine Reform sind schon so alt, dass sie längst zum Thema für die Historiker geworden sind. Kritik ist billig. Aber die Sache ist schwierig. Da sollte eine Vorzeigeprofessorin in einem unverbindlich erscheinenden Interview zurückhaltender sein.

»Die ganze Rechtswissenschaft in Deutschland hat seit Savigny diese Hybridstellung und Vermittlungsfunktion zwischen Gerichtspraxis und einem weiteren philosophischen Diskurs. Das funktioniert heute aber nicht mehr. Die Rechtswissenschaft kann diese Vermittlung nicht mehr leisten, weil wir so unter Druck stehen durch den nationalen und europäischen Gesetzgeber. Die Hybris des 19. Jahrhunderts, dass die Rechtswissenschaft eine system­bildende Rechtsquelle ist, das ist vorbei.«

Über das Verhältnis von Theorie und Praxis kann und muss man diskutieren. Hybridfunktion und Vermittlungsstellung sind gute Stichworte. Auer wird Hybrid und Hybris nicht verwechselt haben. Der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts Hybris vorzuhalten ist jedoch ein normativer Rückschaufehler. Auer hat hier vorschnell zum Rückzug in den Elfenbeinturm des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte geblasen.

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[1] »Was mich eigentlich interessiert, ist das Gesellschaftliche«, Wissenschaftskolleg zu Berlin, Köpfe und Ideen, Ausgabe 15/Januar 2020, https://www.wiko-berlin.de/wikothek/koepfe-und-ideen/issue/15/was-mich-eigentlich-interessiert-ist-das-gesellschaftliche/. Die Zitate im Text sind aus diesem Interview.

[2] Das ist ein generisches Femininum!

[3] Anja Böning, Jura studieren. Eine explorative Untersuchung im Anschluss an Pierre Bourdieu, 2017. Ausführliche Rezension von Dirk Fabricius, Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft, 2018, 109-118.

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