Schuppert zur informalen Staatlichkeit

Eben habe ich, zwei Jahre zu spät, von Gunnar Folke Schuppert den mit 193 Seiten ebenso schmalen wie gehaltvollen Band »Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit« gelesen. Der Untertitel lautet »Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis formeller und informeller Institutionen« [1]Nomos. Baden-Baden.2011, ISBN 978-3832964566, 34,- EUR. Zu spät, weil sonst Rechtssoziologie-online § 78 Korruption und der Beitrag zur Bryde-Festschrift leichter zu formulieren gewesen wären und auch andere Akzente erhalten hätten.

Ich bezweifle allerdings – so Schupperts Ausgangsthese –, dass es einen »Megatrend einer zunehmenden Informalisierung des Staatshandelns« (S. 15 ff) gibt. Es ist wohl zutreffend, dass formale und informale Staatlichkeit Endpunkte einer gleitenden Skala bilden (S. 17). Aber für die Trendbehauptung fehlt es an einer hinreichenden Operationalisierung dieser Skala. Stattdessen bietet Schuppert sechs Diskurse über die Tugend des Formalen und den diskreten Charme des Informalen«. Dabei handelt es sich um sechs kommentierte Quellensammlungen, die man jeder Rechtsoziologievorlesung zugrunde legen könnte. Aber den Megatrend belegen sie nicht. Dass der »hierarchisch-bürokratische Rechtsstaat« der formale Endpunkt und der »kooperative Verhandlungsstaat« das informale Gegenstück bilde, lässt sich bezweifeln, und zwar gerade mit der zweiten wichtigen These Schupperts, dass formale Staatlichkeit ohne stützende informale Strukturen nicht funktionsfähig sei.

Nicht zufällig ist S. 29 im ersten Diskurs von der »Entdeckung« des informalen Verfassungsstaats (durch Schulze-Fielitz) die Rede. Nach den informalen Strukturen, die den »hierarchisch-bürokratischen Rechtsstaat« funktionsfähig machten, hat Schuppert nicht ernstlich gesucht. Der Abschnitt über den »informalen Verfassungsstaat« (S. 29-35) ist ein gelungenes Lehrbuchkapitel über den politischen Prozess des Law-Making. Aber das (formale) Recht hat seine Inhalte schon immer aus informellen Quellen bezogen. Für die Gegenwart scheint mir bemerkenswert, dass gerade auch der informelle Prozess der politischen Willensbildung sich zunehmend formalisiert und dadurch beschreibbar wird als »Elefantenrunden, Hartz-Kommission, Atomkonsensgespräche« (Morlok-Zitat S. 33), oder als das Wirken bekannter politischer Netzwerke, angemeldeter Lobbyisten oder des verschriftlichten Wissensinputs durch die Bürokratie. Dabei geht der direkte Bezug all dieser informellen Rechtsbildungsprozesse auf den formellen Vorgang der Rechtserzeugung nicht verloren.

Nicht anders liegt es mit dem informalen Rechtsstaat (2. Diskurs; S. 36-42). Auch hier preist Schuppert die »folgenschwere verwaltungswissenschaftliche Entdeckung« ohne zu bedenken, dass der Zustand vor dieser Entdeckung nicht weniger informal gewesen sein könnte. Auch insoweit wage ich, einen Megatrend zu bestreiten, wiewohl ich selbst einmal in dieser Richtung gedacht habe. Was hier als Trend erscheint, ist letztlich wohl doch nur Ergebnis der sozialwissenschaftlichen Aufklärung darüber, wieweit eine bürokratische Programmimplementation überhaupt möglich ist. Warum zitiert Schuppert nicht Edgar Grande?

»Die Studie von Holzinger et al. (2009) kommt für den Bereich der europäischen Umweltpolitik zu dem Ergebnis, dass die Bedeutung der new modes of governance weit geringer ist als gemeinhin angenommen. Der Anteil „weicher Steuerungsinstrumente“ hat in den vergangenen zwanzig Jahren zwar tatsächlich zugenommen, die überwiegende Zahl der europäischen Umweltpolitiken basiert jedoch nach wie vor auf alten, rechtsförmigen Steuerungsinstrumenten. Das Verhältnis von alten und neuen Steuerungsinstrumenten liegt bei etwa 80 Prozent zu 20 Prozent; und auch der Trend hin zu den new modes of governance ist in diesem Politikbereich nicht so ausgeprägt wie manche glaubten. Dieses Beispiel macht auch deutlich, wie wichtig es ist, empirisch gesicherte ›baselines‹ zur Bewertung von institutionellen Entwicklungen zu haben.« [2]Edgar Grande, Governance-Forschung in der Governance-Falle? – Eine kritische Bestandsaufnahme, Politische Vierteljahresschrift 53, 2012, 565-592, S. 575.

Auch hier gilt, dass die Reflexion über die Informalität den Beginn ihrer Formalisierung bedeutet.

Der dritte Diskurs (S. 43-55) befasst sich mit der »Formalisierung oder Informalisierung der internationalen Beziehungen«. Dazu wage ich nicht, Stellung zu nehmen. Mein laienhafter Eindruck ist jedoch der einer außerordentlichen Verdichtung des Völkerrechts, die ich eher als Formalisierung interpretieren würde. Der vierte Diskurs betrifft das Phänomen des Soft Law. Hier problematisiert Schuppert das »Verhältnis der Begriffspaare ›hard und soft‹ zu formal und informal‹ « mit dem Ergebnis, dass Soft Law immerhin Verrechtlichung und insofern Formalisierung bedeutet, und er weist auch auf den als hardening of soft law geläufigen Vorgang hin. Der fünfte Exkurs behandelt den klassischen Rechtspluralismus (68-70). Da ist zwar informelles Recht anzutreffen, aber keine Ausbreitungstendenz. Eine Ausbreitungstendenz behauptet aber auch der sechste und letzte Exkurs nicht, in dem von informal justice im Sinne alternativer Konfliktregelung die Rede ist. Auffällig ist, dass Schuppert sich hier ganz auf die Situation in den Entwicklungsländern beschränkt. Dort gibt es wohl so etwas wie eine pluralistische Wende, was aber nur bedeutet, dass sich formalisierte Gerichtsverfahren in diesen Ländern nicht so einfach durchsetzen lassen, wie es sich Entwicklungshelfer zeitweise vorgestellt hatten. [3]Vgl. die drei Aufsätze im Hague Journal on the Rule of Law Heft 1, 2011: Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development (S. 1-17); Julio Faundez, Legal Pluralism and … Continue reading In Deutschland und wohl auch in den anderen Industriestaaten waren Jahrzehnte anhaltende Bemühungen der Rechtspolitik zur Förderung alternativer Konfliktregelung schlicht erfolglos [4]Z. B. Klaus F. Röhl/Matthias Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung in der Praxis,2005., obwohl die geballte sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsforschung solche Politik massiv unterstützte. [5]Dazu hier auf Rsozblog »Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt« sowie »Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox«.

Der »kooperative Verhandlungsstaat« bedeutet nicht den Abbau formalen Rechts, soweit und solange nicht eine gegenläufige Informalität institutionalisiert ist. Das aber nun finde ich so interessant und wichtig an diesem Buch, dass und wie Schuppert die Möglichkeit und reale Existenz von informellen Gegenordnungen darstellt. Das geschieht am Beispiel der Korruption und ihrer Verwandtschaft, des Klientelismus und Patrimonialismus (S. 145 ff). Hier ist Schuppert erneut ein Lehrbuchkapitel zur Rechtssoziologie gelungen. Aber selbst in den Entwicklungsländern geht der Trend wohl in die umgekehrte Richtung. Informalität war dort immer. Die weltweite Verbreitung formaler Institutionen hat dort zunächst dazu geführt, dass sich die informalen Institutionen gewandelt haben. Aber der Trend geht wohl doch dahin, sie einzugrenzen.

Ich habe das Buch aufmerksam und mit Interesse gelesen und, wie gesagt, die Darstellung von stützender und gegenläufiger Informalität fand ich eindrucksvoll. Dennoch – das ist nun einmal die Eigendynamik von Buchbesprechungen – will ich mit zwei kritischen Bemerkungen (vorläufig) schließen. Die erste lässt sich auch als Kompliment verstehen. Schuppert, der sonst auf Governance fixiert ist, verzichtet in Buchtitel und Zwischenüberschriften ganz auf diesen Begriff. Im Text freilich kommt er, wenig überraschend, dann zwar doch wieder vor. Aber – dass bestätigt meine Einschätzung – dort kann man ihn überall folgenlos streichen. Die zweite Bemerkung ist wirklich kritisch. Sie betrifft auf S. 171 ff. die Suche nach dem »richtigen« Rechtsstaatskonzept. Es ist sicher zutreffend, dass man mit einem rein formalen Rechtsstaatskonzept – jetzt verstanden als Gegensatz nicht zu informell [6]Der Unterschied von formal und formell bzw. informal und informell bei Schuppert und auch sonst ist mir nicht ganz klar und ich kann ihn hier auch nicht klären. Im Hinterkopf habe ich nur die … Continue reading, sondern zu material oder substantiell – nicht auskommt. Aber hier als Argument – unter Bezugnahme auf Dieter Grimm – das Versagen formalen Rechts gegenüber dem Nationalsozialismus anzuführen, scheint mir eine grobe Unterschätzung der inhärenten Qualität der Rechtsförmigkeit zu sein. Dass die nationalsozialistische Machtergreifung formal nicht zu beanstanden gewesen sei (S. 172), halte ich für falsch. Hitler hat sich seine Macht nicht, wie so oft zu hören, auf legalem Wege verschafft. Bevor am 23. März 1933 über das Ermächtigungsgesetz abgestimmt wurde, hatte er die dem Reichstag angehörenden Kommunisten verhaften lassen und die sozialdemokratischen Abgeordneten so eingeschüchtert, dass von einem Gesetzesbeschluss, der diesen Namen verdient, nicht die Rede sein konnte. [7]Vgl. Wolfgang Meyer-Hesemann, Legalität und Revolution – Zur Verklärung der nationalsozialistischen Machtergreifung als »Legale Revolution«, in: Peter Salje (Hg.), Recht und Unrecht im … Continue reading

Diese kurzen Bemerkungen sollen genügen, um zu zeigen, dass ich Schupperts Buch wegen seines Inhalts schätze. Das ist notwendig, denn ich will eigentlich gar keine Besprechung des Inhalts abliefern, sondern mich mit der speziellen Darstellungsweise Schupperts befassen. Dazu im nächsten Eintrag.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nomos. Baden-Baden.2011, ISBN 978-3832964566, 34,- EUR.
2 Edgar Grande, Governance-Forschung in der Governance-Falle? – Eine kritische Bestandsaufnahme, Politische Vierteljahresschrift 53, 2012, 565-592, S. 575.
3 Vgl. die drei Aufsätze im Hague Journal on the Rule of Law Heft 1, 2011: Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development (S. 1-17); Julio Faundez, Legal Pluralism and International Development Agencies: State Building or Legal Reform? (S. 18-38); H. Patrick Glenn, Sustainable Diversity in Law (S. 39-56); Lauren Benton, Historical Perspectives on Legal Pluralism (S. 57-69).
4 Z. B. Klaus F. Röhl/Matthias Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung in der Praxis,2005.
5 Dazu hier auf Rsozblog »Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt« sowie »Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox«.
6 Der Unterschied von formal und formell bzw. informal und informell bei Schuppert und auch sonst ist mir nicht ganz klar und ich kann ihn hier auch nicht klären. Im Hinterkopf habe ich nur die Sprachverwendung bei Max Weber. Formal ist bei ihm der Gegenbegriff zu material. Dagegen bezeichnet Weber, der juristischen Tradition entsprechend, das Verfahrensrecht als formell und das Sachrecht als materiell. Es gibt deshalb »formales« formelles Recht in Gestalt etwa eines ritualisierten Verfahrens. Und es gibt »formales« materielles Recht, nämlich in Gestalt der Begriffsjurisprudenz oder eines Präjudizienrechts.
7 Vgl. Wolfgang Meyer-Hesemann, Legalität und Revolution – Zur Verklärung der nationalsozialistischen Machtergreifung als »Legale Revolution«, in: Peter Salje (Hg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, 110-136.

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