Ein starkes Stück Kulturwissenschaft: Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung

Von vielen erwartet ist in diesem Jahr postum Cornelia Vismanns Buch über die »Medien der Rechtsprechung« veröffentlicht worden. [1]Herausgegeben von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 456 S., 22,95 EUR. Jetzt habe ich es endlich gelesen. Wer nach einer Würdigung sucht, die der Autorin und ihrem Text gerecht wird, sei auf das Vorwort der Herausgeber, auf einen Nachruf von Fabian Steinhauer [2]Beobachterin zweiter Ordnung, Ancilla Juris 2010, 43-46. und auf die Rezensionen von Susanne Baer in der TAZ vom 16. 6. 2011, von Andreas Bernard in der Süddeutschen Zeitung vom 27. 6. 2011 und von Winfried Hassemer, Das große Theater des Rechts, FAZ vom 8. 11. 2011 S. L38 (anscheinend nicht im Netz) verwiesen. Ich lese das Buch als schnöder Konsument, immer auf der Suche nach nützlichen Brocken, die ich als Legal McLuhanite für die Rechtssoziologie oder als Jurist für »Recht anschaulich« verwenden kann. Wenn meine Lesefrüchte oft kritisch konnotiert sind, so liegt das an dem kulturwissenschaftlichen Gestus des Buches. Allein die Tatsache, dass ich mich so ausführlich mit dem Buch befasst habe, sollte meine Wertschätzung beweisen.
Die Grundthese des Buches geht davon aus, dass »Gericht« zwei Grundmodalitäten (»Dispositive« [3]Gerhard Struck (»Recht als Tohuwabohu und als Menschheitstraum – Oder: Gibt es einen Begriff des Rechts?«, Ancilla Juris 2009, 99-117; S. 108) zitiert ausführlich die Definition des Dispositivs … Continue reading ) miteinander verbindet, nämlich seine Rahmung als Theater und seinen Ablauf als Kampf, und sie besagt, dass die Dispositive unterschiedliche Medien anziehen und andere ausschließen (S. 17). Im weiteren Verlauf wird aus dem Kampf das Tribunal. Der Kampf braucht die Öffentlichkeit und deshalb zieht er die modernen Massenmedien an.
Nachdem auf den ersten 80 Seiten »Theater« und »Kampf« als »Dispositive« für das Gerichtsverfahren vorgestellt worden sind, folgen sieben Kapitel mit fast 300 Seiten über einzelne Medien. Nämlich I: Akten, II. Die Stimme vor Gericht, III. Öffentlichkeit, IV. Fotografien im Gericht, V. Cine-Gericht, VI. Fernsehen und VII. Fern-Justiz/Remote Judging.
Gleich das erste Kapitel nutzt die wichtigsten kulturwissenschaftlichen Zutaten: Etymologische Ableitungen, lösliche Paradoxien, schöne Literatur statt schnöder Empirie, französische Kronzeugen, Fetischismus und eine Prise Psychoanalyse. Später werden allerhand Wortspiele nachgereicht. [4]Hier eine kleine Auswahl: S. 222 ff., 242 ff.: »Courtroom Drama« ist einmal das Genre fiktiver Darstellungen von Gerichtsszenen, dann aber auch das Gerichtsverfahren selbst und seine filmische … Continue reading
Das »theatrale Dispositiv«, das zunächst ausgemalt wird, hat nicht eigentlich etwas mit dem Theater zu tun, sondern mit Legendre, und erschöpft sich in dem verfahrensmäßigen »Nachspielen« des Prozessthemas. Die »performative, ›dinghegende‹ Seite des Gerichts« scheint dem zu entsprechen, was gewöhnlich unter Verfahrensgerechtigkeit thematisiert. Luhmann gehöre zu den wenigen, die diesen Aspekt des Gerichtsverfahrens betont hätten (S. 22). Dem kulturwissenschaftlichen Tunnelblick fallen die Heerscharen der Amerikaner und der Epigonen zum Opfer, die sich mit procedural justice befasst haben. Das ist umso bedauerlicher, als die spezifische Performanz des auf Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in einer gewissen Abgeschlossenheit stattfindenden Gerichtsverfahrens das zentrale Thema des Buches bildet. Jedenfalls: »Im Nachspielen oder Verhandeln wird das Ding zur Sache.« (S. 34) Und weiter S. 37: »Das Nachspielen verspricht demnach die fundamentale Befriedung des Dings.« Ist das nicht wunderbar tiefsinnig?
Vismann stützt ihre Thesen durch eine Interpretation von Kleists zerbrochenem Krug. Das ist funkelndes Feuilleton, wie Kleist, Sophokles, Aischylos und Dante, wie der Dorfrichter mit seinem Namensvetter aus der Schöpfungsgeschichte und mit König Ödipus, wie der Zerbrochene Krug mit der Klepsydra und später noch (S. 89) mit Klytaimnestras Gebärmutter assoziiert werden und wie wir schließlich mit Hilfe von Legendre erfahren, dass es sich um eine Interdiktion handelt, wenn Marthe Rull zuerst vom Richter Adam und dann auch noch vom Gerichtsrat Walther aufgefordert wird, »zur Sache« zu sprechen. Da fällt es schon nicht mehr ins Gewicht, wenn Ödipus (Orest tritt erst S. 90 auf) zum »Mutter-Mörder der griechischen Tragödie« wird (S. 65). Immerhin war er ja mittelbarer Täter bei deren Selbstmord. »Die radikale Kappung jedes Außen, die Umwandlung von Ding in Sache und das Erfordernis der Rede zur Sache (Interdiktion) sind danach die drei elementaren Operationsbedingungen der Justiz im theatralen Dispositiv.« (S. 56). Alles klar.
Das Justiztheater endet mit einem Urteil und damit endet auch die Beschreibbarkeit des Gerichts als Theater (S. 72). Zum Urteil muss ein Richter her. Das Gerichtstheater ist auch ein Kampf. Potentiell sind alle Zuschauer Entscheider. »Sobald Agierende von Zuschauenden unterscheidbar sind, ist die Position des Entscheidens eingeführt.« (S. 75) Vielleicht. Weiter S. 79: »Die amphitheatrale Sitzordnung ermächtigt die Zuschauer zum Entscheiden. Wer hat am besten gespielt, wer schrieb das beste Stück?« Und S. 80: »Die Amphitheater in Athen … öffneten sich auf das Meer … Diese Öffnung auf die Umwelt unterscheidet das agonale Dispositiv von der theatralen Entscheidungssituation, die in einer Kammer stattfindet, die gar nicht geschlossen genug sein kann.« Das verstehe ich nicht. Ist das Theater nicht auf Zuschauer angewiesen? Deshalb will ich einfach das Ergebnis zitieren: »Das agonale Dispositiv ist mithin durch drei Kennzeichen vom theatralen unterschieden: Zum einen durch den binären Entscheidungsmodus, der allen Wettkämpfen eigen ist (es geht um … Obsiegen oder Unterliegen), zum zweiten durch die konstitutive Funktion der Zuschauer für die Entscheidungsfindung und schließlich durch das Amphitheatralische, dass Offene der Entscheidungssituation …« (S. 81).
Bevor es nun an die Medien der Rechtsprechung geht, führt noch ein Umweg durch Literatur, nämlich durch »Die Eumeniden« des Aischylos. Ich muss gestehen, dass ich nicht verstanden habe, was die Autorin mit der Vorstellung dieses Stückes erreichen will. »Aischylos‘ letztes Drama führt das Theaterelement der Analysis mit dem Gerichtselement der Tatnacherzählung zusammen.« (S. 87) Die Verwandlung der Erinnyen zu Eumeniden, der Rachegöttinnen zu Wohlmeinenden wird als »Stunde Null des Rechts« gedeutet. (S. 92) Zugleich soll das Drama als »Gründungsstück des Vaterrechts« [5]Zur Orestie als Gründungsmythos des Rechts vgl. den Eintrag vom 3. Nov. 2009.verstanden werden, freilich mit der schäbigen Begründung, die Mutter sei »nur des frisch gesäten Keimes Nährerin«. (S. 88) Davor, dazwischen und danach steht noch allerhand (für mich) Dunkles. (Fortsetzung folgt)

Nachtrag: Eine ausführliches Echo auf meine Vismann-Rezension gibt Dieter Simon, Die Leser der Cornelia Vismann.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Herausgegeben von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 456 S., 22,95 EUR.
2 Beobachterin zweiter Ordnung, Ancilla Juris 2010, 43-46.
3 Gerhard Struck (»Recht als Tohuwabohu und als Menschheitstraum – Oder: Gibt es einen Begriff des Rechts?«, Ancilla Juris 2009, 99-117; S. 108) zitiert ausführlich die Definition des Dispositivs bei Foucault, Dispositive der Macht, und kommentiert sie mit erfreulicher Distanz. In der Tat, mit diesem Unbegriff lässt sich nichts anfangen, es sei denn, man lässt sich von Foucault bloß anregen und definiert das »Dispositiv« für eigene Zwecke neu. In diesem Sinne habe ich – mehr aus Versehen als mit Absicht – einmal vom »kognitiven Dispositiv der Schrift« gesprochen (Bilder in gedruckten Rechtsbüchern, 2005, S. 272). Gemeint war damit die Schrift als eine Möglichkeitsbedingung für eine gerichtete Entwicklung des Rechts.[ http://www.ruhr-uni-bochum.de/rsozlog/daten/pdf/Roehl-Bilder%20in%20gedruckten%20Rechtsbuechern.pdf]
4 Hier eine kleine Auswahl:
S. 222 ff., 242 ff.: »Courtroom Drama« ist einmal das Genre fiktiver Darstellungen von Gerichtsszenen, dann aber auch das Gerichtsverfahren selbst und seine filmische Dokumentation.
S. 337: Aus courtroom wird Gerichtsraum (als Gegensatz zu einem geräumigen Gerichtssaal).
S. 356: »Transitional Justice ist … eine Justiz im Übergang und eine übergangsweise Gerechtigkeit«
S. 333 f.: Fern-Justiz« ist nicht bloß medienvermittelte Justiz, sondern Justiz fern des Tatorts.
S. 369: Als »Naturalparteien« werden eigentlich nur natürliche im Gegensatz zu juristischen Personen bezeichnet. Dieser Gegensatz ist Vismann selbstverständlich geläufig. Daher ist die »Naturalpartei« hier doppelsinnig gemeint als (natürliche) Person, die leibhaftig vor Gericht erscheint.
5 Zur Orestie als Gründungsmythos des Rechts vgl. den Eintrag vom 3. Nov. 2009.

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