Bildklausuren

In unserem Buch »Recht anschaulich« zeigen wir S. 170 f. eine Bildklausur. Es geht um einen Fall, in dem eine Autofahrerin abends ihr Fahrzeug auf einem um diese Zeit nicht mehr bewachten privaten Parkplatz abgestellt hatte und nunmehr auf der Grundlage Allgemeiner Geschäftsbedingungen Gebühren zahlen sollte. Zwei Bilder sollen den Bearbeitern die Situation an der Einfahrt und die dort angebrachten Hinweisschilder zeigen. Dieser Fall ist als Beispiel für die Möglichkeit zum Einsatz realistischer Bilder gedacht.

Für unser Projekt Visuelle Rechtskommunikation hatten wir mit Bildklausuren in der BGB-Übung experimentiert. Die BGB-Übung ist eine der drei großen Übungen, in denen die Teilnehmer durch die erfolgreiche Bearbeitung einer Hausaufgabe und einer Klausur einen Schein erwerben, der Voraussetzung für die Zulassung zum Examen ist. Die Aufgabe besteht jeweils aus einem Fall, zu dem ein Gutachten anzufertigen ist. Da die Übung parallel von zwei Dozenten abgehalten wurde, konnten wir den beiden Gruppen, die ihre Klausuren in getrennten Hörsälen schrieben, die gleichen Fälle zur Bearbeitung geben. In einer Gruppe wurde die Klausur wie üblich als reine Textaufgabe ausgeteilt. Die zweite Gruppe erhielt den identischen Aufgabentext, in den aber realistische Bilder hineinkopiert waren. Insgesamt wurden vier solcher Bildklausuren gestellt. Hier berichte ich zunächst nur über die erste, in der es um einen Verkehrsunfall ging.

Hier zunächst der Klausurtext, der auf der danach folgenden Abbildung nicht lesbar ist: Die Markstraße in Bochum ist eine vierspurige Durchgangsstraße. Die zwei Fahrstreifen für beide Richtungen waren mit einer Leitlinie nach § 42 StVO Abs. 6 Nr. la markiert. Die mittlere, zur Abgrenzung vom Gegenverkehr dienende Leitlinie (vgl. § 42 Abs. 6 Nr. Ic) ist doppelt ausgeführt. Seit einigen Wochen betreibt die Stadt den Rückbau der Straße zu einer zweispurigen Verkehrsführung. Die Baumaßnahmen bestehen darin, dass neue Fahrbahnmarkierungen aufgebracht werden, mit denen Fahrradwege und Parkstreifen abgeteilt werden, so dass in jeder Richtung nur ein Fahrstreifen verbleibt. Außerdem wird etwa alle 300 m eine Verkehrsinsel angelegt. Auf der Höhe der Verkehrsinseln fehlt der Parkstreifen, so dass die Fahrstreifen in einem leichten Bogen um die Verkehrsinseln herumgeführt werden können.

Anfang Februar war mit den Baumaßnahmen begonnen worden. Bis zum 15. Februar waren zunächst die neuen Verkehrsinseln eingebaut worden, die von einem 13 cm hohen Kantstein umgeben sind. Die Verkehrsinseln ragen jeweils etwa 1m in die mittleren Richtungsfahrbahnen hinein. In der Mitte der Verkehrsinseln ist für beide Richtungen das Zeichen Nr. 222 »Rechts vorbei« nach § 41 Abs. 2 Nr. 3 StVO angebracht. Vor den Verkehrsinseln wurden außerdem für die Zeit bis zur Beseitigung der alten und der Aufbringung der neuen Fahrbahnmarkierungen rot-weiß-gestreifte Warnbaken mit Blinklicht aufgestellt, um die Verkehrsteilnehmer auf die Fahrbahnverengung aufmerksam zu machen.

In der Nacht zum 16. Februar sollte ein Schwertransport der Spedition S die Markstraße passieren. Wegen der Überbreite des Schwertransports hatte S bei der Stadt die erforderliche Genehmigung eingeholt. Die Stadt hatte auf seine Bitten auch veranlasst, dass auf der Fahrstrecke schon am 5. Februar Schilder aufgestellt wurden, die für die Nach vom 15. auf den 16. Februar das Parken verboten (Zeichen nach § 41 Nr. 286 StVO). Dennoch hatte P sein Auto am Abend des 15. Februar so abgestellt, dass der Schwertransport eine Verkehrsinsel nicht ohne weiteres passieren konnte. Daher baute die Besatzung des Begleitfahrzeugs, das dem Schwertransport vorausfuhr, die Warnbake an dieser Verkehrsinsel ab und deponierte sie am rechten Straßenrand. Um den Transport nicht länger aufzuhalten, verzichteten die Leute des S darauf, die Warnbake wieder aufzustellen und benachrichtigten den mit den Straßenbauarbeiten beauftragten Bauunternehmer. Noch bevor dieser am Morgen des 16. Februar bei Schichtbeginn die Warnbake wieder aufstellen konnte, hatten in der Zeit zwischen 5.00 Uhr und 6.30 Uhr, etwa 300 Fahrzeuge die Straße passiert. Neun Fahrzeuge fuhren mit den linken Rädern über den Kantstein der Verkehrsinsel, weil sie sich an den alten Leitlinien orientiert und die durch die Verkehrsinsel verursachte Verengung der Fahrbahn nicht bemerkt hatten. Bei allen Fahrzeugen wurden mindestens Reifen und Felgen beschädigt.

Zu den Unglücksfahrern gehörte auch U. Er fuhr mit einem VW-Golf, den er von seinem Freund F geliehen hatte. Beschädigt wurden Reifen, Felgen und Radaufhängung vorn links. F bat den Schaden für 3.000,– DM reparieren lassen.

F und U haben verabredet, dass U zunächst versuchen soll, von S und P Schadenersatz zu erhalten. U bat F versichert, auch wenn darüber einige Zeit vergehe, werde er sich nicht auf Verjährung berufen. Die Bemühungen von U bleiben jedoch vergeblich. F und U geraten darüber in Streit. Im November möchte F nun wissen, welche Ansprüche ihm gegen U, S und P zustehen. U beruft sich auf Verjährung.

Die erste Seite der Klausur mit dem Bild sah so aus:

Wir erwarteten Bildwirkungen auf zwei Ebenen:

1. Semantische Bildwirkungen – Bedeutungstransfer durch das Bild: Der Sachverhalt wird mit Hilfe der Bilder schneller und vollständiger erfasst. Die rechtliche Argumentation wird durch die Bezugnahme auf das Bild knapper und überzeugender. Bilder könnten insbesondere die Beurteilung von Pflichtverletzungen/Verschulden erleichtern.

2. Subsemantische Bildwirkungen – motivationale Komponente: Das Bild »lockert« auf und wird als positiv empfunden (»nicht so trocken«; »mal was Neues«). Das Bild verwirrt. Die Bearbeiter können mit der visuellen Information nichts anfangen. Sie fühlen sich irritiert. Bilder von schweren körperlichen Verletzungen führen dazu, dass Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche dem Grunde nach eher bejaht und insbesondere auch höhere Schmerzensgelder bewilligt werden.

Die Ergebnisse waren am Ende nicht so aussagekräftig, wie wir erwartet hatten. Vermutlich hielt sich der Effekt in Grenzen, weil die Bilder nur zusätzlich zu dem identischen Text eingefügt wurden. Die Verwendung identischer Texte war erforderlich, weil es sich eine echte Übung mit examensrelevanten Noten handelte. Die Texte waren daher wie üblich so formuliert, dass darin alle rechtlich relevanten Umstände angedeutet waren. Wir hätten uns aber auch gar nicht zugetraut, die Bildwirkung bei unterschiedlichen Texten zu isolieren. Unser Experiment zeigt immerhin einige Schwierigkeiten des Umgangs mit Bildern.

Die Reaktionen nach dem Austeilen der Klausur waren gemischt. Neben Verwunderung und einer gewissen Heiterkeit wurde auch Argwohn geäußert: Steckt dahinter ein Trick? Ist die Aufgabe besonders schwer? Bearbeiter der Bildklausur kamen deutlich häufiger zu dem Urteil, »U ist (auch) an dem Unfall schuld.«. Sie stützten sich dafür häufiger auf das Rechts-Vorbei-Schild, das aber auch in der anderen Gruppe zur Begründung eines Verschuldens des U herangezogen wurde. Umgekehrt wurde zwar in beiden Gruppen auf die Dunkelheit zur Unfallzeit verwiesen, um U zu entschuldigen. Das geschah jedoch häufiger bei den Bearbeitern der Textklausur. Es scheint also, dass auf dem Foto das Rechts-Vorbei-Schild den Kandidaten besonders ins »Auge sprang« und sie es deshalb häufiger in ihre Begründung einbauten, obwohl auf das Schild im – identischen – Text der Klausur ohne Bild ausdrücklich hinge­wiesen wurde (und die Bearbeitungsregel gilt, dass jeder im Sachverhalt genannte Umstand als rechtlich relevant angesehen werden muss). Für die Bearbeiter der Textklausuren war es von untergeordneter Bedeutung. Andererseits stellten sie sich die morgendliche Unfallsituation vor ihrem »inneren Auge« vor, und zwar – folgerichtig – bei Dunkel­heit. Die Bearbeiter einer Bild-Klausur taten dies nur zu einem ganz geringen Prozentsatz, obwohl ihnen die identische Textinformation zur Verfügung stand. Den wenigsten Bearbeitern einer Bild-Klausur fiel der Widerspruch zwischen Sachverhalts­schilderung (Februarmorgen, zwischen 5.00 und 6.00 Uhr, also dunkel) und dem Foto (tagsüber, hell) auf. Oder, wenn doch, so konnte er sich gegen den unmittelbaren Bildeindruck nur in einzelnen Fällen durchsetzen.

Es ließ sich nicht feststellen, dass in der einen oder anderen Gruppe mehr Ansprüche oder die Ansprüche vollständiger geprüft wurden. Es ist denkbar, dass die Verkehrssituation für die juristische Bewältigung des Falles, wie sie in einer Klausur verlangt wird, nicht so »bebilderungsbedürftig« war, dass dadurch die Bearbeiter der Bild-Klausuren einen messbaren Zeit- oder Verständnisvorteil gehabt hätten. Auffällig ist der Befund, dass ein Verschulden des U, in welcher Form auch immer, von den Bearbeitern der Bild-Klausur so viel häufiger bejaht wurde. Hier liegt die Vermutung nahe, dass diese sich angesichts des Bildes (taghell, alles gut sichtbar) gewissermaßen in das Bild hineinversetzten und sich sagten: »Also, dieses große Rechts-Vorbei-Schild muss U einfach gesehen haben, die Verkehrsinsel ist doch klar erkennbar. Wer orientiert sich da an den Leitlinien?!«.

Anders stellte sich die Situation für die Bearbeiter der Textklausur dar. Hier liegt die Vermutung nahe, dass sie sich eigene Seherfahrungen als Autofahrer bei Nacht oder in der Dämmerung ins Gedächtnis riefen und zu dem Schluss kamen, dass bei schlechten Sichtverhältnissen die weiß leuchtenden Leitlinien oft die einzige Orientierungshilfe darstellen. Vergegenwärtigte man sich eine solche »Nachtfahrt«, konnte man zu dem Ergebnis gelangen, dass ein Autofahrer sich bei Dunkelheit an den Leitlinien »entlang hangelt« und daher die Verkehrsinsel zu spät bemerkt. Auf jeden Fall hat das Bild einen Unterschied gemacht. Wie vermutet, hat es sich vor allem im Bereich der Verschuldensbewertung ausgewirkt.

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