Zum Dogma vom Vollzugsdefizit des Rechts II

In den 1970er Jahren widmete sich ein Forschungsverbund »Implementation politischer Programme« den teilweise enttäuschenden Ergebnissen politischer Reformprogramme.[1] Es entstanden wichtige Untersuchungen über Vollzugsdefizite, insbesondere im Umweltrecht. Wenige Untersuchungen genügten, um den Eindruck der prinzipiellen Unwirksamkeit des Rechts zu verfestigen, obwohl die Forschungen durchaus auch gewisse Erfolge regulativer Politik verzeichnen konnten. Negative Ergebnisse erregen größere Aufmerksamkeit als positive[2], zumal wenn dazu eine anscheinend schlüssige Begründung mitgeliefert wird, wie sie die Systemtheorie anbot. Das Vollzugsdefizit[3] wurde sprichwörtlich.

Aus den Implementationsstudien der 1970er Jahre hat sich keine kontinuierliche Forschungspraxis entwickelt. Neue Ansätze zur Rechtswirkungsforschung haben viele kluge Überlegungen, aber kaum empirische Forschung gebracht. Heute erscheint die empirische Basis für die Einschätzung politischer Handlungsmöglichkeiten revisionsbedürftig. In den letzten dreißig Jahren hat sich ereignet, was man mit Beniger[4] – als control revolution bezeichnen kann. Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 bedienen Behörden und Private sich verstärkt neuer Kontroll-und Überwachungstechniken. Die Technologie hat einen großen Sprung gemacht. Neuen Identifikations- und Analysetechniken – RIF-Technologie, biometrische Verfahren, Gentechnik und Nanochemie – entgehen keine Spuren mehr. Die Datensammlung läuft weitgehend im Verborgenen. und durch die Ausschöpfung und Verknüpfung von Daten, die bei mehr oder weniger allen Aktivitäten durch die IT-Technik anfallen. Rechtliche Verhaltensanforderungen werden in technische Systeme eingebettet. Rüttelstreifen auf der Fahrbahn und Rüttelalarm im Auto sind nur Vorboten technischer Compliance-Systeme.

Parallel zur technischen ist eine zivilgesellschaftliche Infrastruktur entstanden, die nach Rechtsbrüchen Ausschau hält, an ihrer Spitze Transparency International. Viele andere heißen mit Nachnamen Watch (Human Rights Watch, Food Watch, Finance Watch, Energy Watch, Tourism Watch usw.). Die Massenmedien sind ständig auf der Suche nach Skandalen und Skandälchen und annoncieren freudig jeden Rechtsbruch, dessen sie habhaft werden können. Das Internet stellt eine Plattform bereit, auf der auch Individuen Rechtsbrüche anprangern können. Es muss nicht immer gleich Wikileaks sein. Auch das Recht hat zur control revolution beigetragen. Erstens hat es neuartige Individual- und Verbandsklagerechte geschaffen. Zweitens gewährt es Whistleblowern zunehmend Schutz.[5] Drittens hat die Wirtschaft ein Compliance-Regime akzeptieren müssen. Viertens: Das Kartellrecht hat durch die Kombination von Kronzeugenregelung und exorbitanten Bußgeldern Zähne bekommen. Besonders als Ausprägung eines internationalen Softlaw haben Berichtspflichten Konjunktur.[6]

Die Rechtssoziologie hat die Kontrollrevolution noch nicht wirklich wahrgenommen. Vielleicht beruhigen sich manche mit der Überlegung, die Kontrolltechnologie könne ihrerseits so umfangreich und kompliziert geworden sein, dass die Vielzahl der Kontrollinstrumente sich wechselseitig negativ beeinflusst (control paradox). Sie sollten dennoch die zum Dogma gewordene These vom unvermeidlichen Vollzugsdefizit des öffentlichen Rechts einer Überprüfung unterziehen.



[1] Der Ertrag ist in mehreren Sammelbänden dokumentiert: Renate Mayntz (Hg.), Implementation politischer Programme, Empirische Forschungsberichte, 1980; dies., Implementation politischer Programme II — Ansätze zur Theoriebildung, 1983; ferner Eberhard Bohne, Der informale Rechtsstaat, Eine empirische und rechtliche Untersuchung zum Gesetzesvollzug unter besonderer Berücksichtigung des Immissionsschutzes, 1981; Adrienne Windhoff-Héritier, Politikimplementation, Ziel und Wirklichkeit politischer Entscheidungen, 1980. 1993 gab es noch einmal einen Sammelband, der das Thema, nun unter dem Label »Policy-Analyse«, aufnahm: Adrienne Héritier (Hg.), Policy Analyse, Sonderband 24 der Politischen Vierteljahresschrift (PVS), 1983.

[2] So für das Steuerungsversagen Hubert Rottleuthner, Grenzen rechtlicher Steuerung – und Grenzen von Theorien darüber, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 54 , 1992, 123-139, S. 139.

[3] Nach dem Titel von Gerd Winter, Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, E. Beitr. zur Soziologie d. öffentl. Rechts, 1975.

[4] James R. Beniger, The Control Revolution. Technological and Economic Origins of the Information Society, Cambridge, Mass. 1986.

[5] Zuletzt etwa EGMR Urteil vom 21.07.2011 – 28274/08, NJW 2011, 3501; Alexius Leuchten, Der gesetzliche Schutz für Whistleblower rückt näher, ZRP 2012, 142-145.

[6] Nur als Beispiel: Zur Umsetzung der OECD Guidelines for Multinational Enterprises haben alle Vertragsstaaten haben Nationale Kontaktstellen (National Contact Points) eingerichtet, die für die Verbreitung und Einhaltung der Leitsätze werben sollen und an die Verstöße gegen die Leitsätze gemeldet werden können. Vor allem Gewerkschaften und NGOs nutzen dieses Verfahren. Die vorgebrachten Fälle werden dann in einem mediationsähnlichen Verfahren mit dem betreffenden Unternehmen erörtert. Solche Beschwerden werden vor allem von Gewerkschaften und NGOs eingelegt. Sie führen dann zu einem Untersuchungs- und Ermittlungsverfahren, und das Ergebnis wird am Ende auch veröffentlicht.

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