Luhmanns Rechtsgeltungslehre: Hierarchie und Heterarchie in der Autopoiese des Rechts

Im Eintrag vom 21. 4. 2014 hatte ich festgehalten, dass es mit der Universalität des Funktionssystems Recht nicht so weit her ist, denn bei Bedarf werden dazu Teilsysteme und Subsysteme eingebaut und die Leitunterscheidung des Systems, der Recht/Unrecht-Code, dadurch entwertet, dass eben doch nicht alle Rechtskommunikationen wirklich zählen. Heute will ich mich mit der Frage befassen, ob sich mit Hilfe von Luhmanns Systemtheorie der heterarchische oder Netzwerkcharakter des Rechts begründen lässt, den postmoderne Rechtstheorie behauptet:

»Das Recht … bei Luhmann nimmt grundsätzlich die Form eines kooperativen Netzwerks von privaten Rechtsakten und öffentlichen Rechtsentscheiden an.« [1]Thomas Vesting/Ino Augsberg, Einleitung der Herausgeber: »Das Recht der Netzwerkgesellschaft«. Zu Karl-Heinz Ladeurs Rechts- und Gesellschaftstheorie, in: Karl Heinz Ladeur, Das Recht der … Continue reading

Dafür gibt es in Luhmanns Texten insbesondere zwei Anknüpfungspunkte, nämlich die Zurückweisung von Hierarchien und die Beschreibung des Systems als rekursive Verknüpfung von Rechtskommunikationen.

Aus der Sicht der Systemtheorie ist oder war die Hierarchie – neben der sektoriellen und der funktionalen – eine der drei allgemeinen Differenzierungen der Gesellschaft. Mit Normhierarchien, die in der Rechtstheorie interessieren, hat diese soziale Hierarchie nichts zu tun. Zu den Grundlagen der Systemtheorie gehört ferner die Annahme, dass zwischen den funktional differenzierten Teilsystemen der Gesellschaft, zu denen ja auch das Recht zählt, kein hierarchisches Verhältnis besteht. Auch das ragt nicht in die Rechtstheorie hinein. Zurückgewiesen wird ferner die »alteuropäische Vorstellung« einer die »allgemeinen kosmologischen Hierarchie des Wesens der Dinge« und als juristische Version die Hierarchie von »ewigem Recht, Naturrecht und positivem Recht« die »allgemeinen kosmologischen Hierarchie des Wesens der Dinge« (RdG S. 21, 27, 39). Darauf bezieht sich die Feststellung RdG S. 539, »daß es keine ausgeglichene, harmonische Beschreibung mehr gegeben hat, seitdem man auf das Hierarchiemodell der Rechtsquellen verzichten mußte«. Dort ist die Rechtstheorie schon längst angekommen. Von Normenhierarchien handelt schließlich das folgende Zitat aus dem Aufsatz »Die Einheit des Rechtssystems« von 1983:

»Die Normqualität eines jeden Elements verdankt sich der Normqualität anderer Elemente, für die das gleiche gilt. Es kann also keine Normhierarchien geben.« [2]Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 140.

Als rechtstheoretische Aussage wäre das Unsinn, denn – das ist der Kern der Stufenbaulehre – jede Norm bezieht ihre Normqualität aus einer hierarchisch übergeordneten Norm. Das wusste natürlich auch Luhmann. In dem Zitat geht es um den Kern der Systemtheorie, nämlich die Kommunikation, deren operativer Vollzug die Autopoiese des Rechts ausmacht. Es geht um die Zirkulation des Rechtsgeltungssymbols, für die »im Vollzug der Operation zwischen Information, Mitteilung und Verstehen« [3]RdG S. 51. nur Anschlussfähigkeit vorausgesetzt wird. Kausalität und Deduktion sind hier fehl am Platze.

»Die Autopoiesis operiert jenseits aller Deduktion und jenseits aller Kausalität.« [4]Ebd. S. 141.

Das heißt wohl, dass für den soziologischen Beobachter Deduktion und damit auch (logische) Normenhierarchien nicht erkennbar sind. Für die Anschlussfähigkeit braucht es keine hierarchische Ordnung von Kommunikationsangeboten. Die Vernetzung der Rechtskommunikationen ist, wie Luhmann betont, eine bloße Form. Luhmanns Beschreibung der Kommunikation als Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen spart den inhaltlichen Aspekt der Anschlusskommunikation aus, denn der spielt sich im psychischen System ab, dass über die Sprache mit dem sozialen System strukturell verkoppelt ist. Der Inhalt spielt nur insoweit eine Rolle, als es sich eben um Recht handeln muss, damit die Anschlussfähigkeit gegeben ist. Der konkrete Inhalt ist insoweit ohne Bedeutung. Was dann aber aus dem »Anschluss« wird, hängt dann doch von dem Inhalt der Mitteilung ab. Erst aus diesem Inhalt folgt ggfs. eine Über- oder Unterordnung, wenn er mit anderen Inhalten abgeglichen wird.

»Nur kognitiv, nicht normativ ist der Richter vom Gesetz abhängig: Er muß feststellen, ob es erlassen ist oder nicht, kann sich hier täuschen und muß sich dann korrigieren.« [5]Ebd. S. 142

Ich muss gestehen, dass ich nicht wirklich begreife, was Normativität hier zu bedeuten hat. Ich entnehme dem Text nur, dass es aus der Binnenperspektive der Jurisprudenz eben doch bei der (kognitiven) Vorstellung der Möglichkeit der Deduktion aus Normen und damit auch aus Normhierarchien verbleibt. Der Inhalt der Anschlusskommunikation wird nicht allein dadurch ausgefüllt, dass sie auf eine Kommunikation reagiert, die den Rechtscode nutzt, sondern sie hängt von dem weitergehenden Inhalt der auslösenden Kommunikation ab, und dieser Inhalt kann auch darin bestehen, dass eine Norm Überordnung über eine andere für sich in Anspruch nimmt. Würde die Stadt Bochum durch Satzung eine kommunale Grunderwerbsteuer einführen, würde spätestens das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen den Steuerbescheid aufheben, weil er gegen übergeordnetes Recht verstößt. Auch die darin liegende Zurückweisung einer Rechtskommunikation ist ein »Anschluss«. Und er transportiert auch Geltung, nämlich die Geltung der grundgesetzlichen Kompetenzregeln für die Steuererhebung.

Der langen Rede kurzer Sinn: Es mag sein, dass man durch das systemtheoretische Fernrohr nur wahrnimmt, in welchem Verkehrsnetz = Funktionssystem die Kommunikationen abgewickelt werden. In die Vehikel, die in diesen Netzen verkehren, will die Theorie nicht hineinsehen. Und deshalb macht sie auch keine Aussage darüber, welche Inhalte dort transportiert werden. Zur Begründung des heterarchischen oder Netzwerkcharakters des Rechts taugt die Theorie nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Thomas Vesting/Ino Augsberg, Einleitung der Herausgeber: »Das Recht der Netzwerkgesellschaft«. Zu Karl-Heinz Ladeurs Rechts- und Gesellschaftstheorie, in: Karl Heinz Ladeur, Das Recht der Netzwerkgesellschaft. Ausgewählte Aufsätze 2013, S. 1-28, S. 13.
2 Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 140.
3 RdG S. 51.
4 Ebd. S. 141.
5 Ebd. S. 142

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