Omri Ben-Shahar und Carl E. Schneider über den Unsinn gesetzlicher Informationspflichten

Auf diese Arbeit hat mich schon vor einiger Zeit mein Bochumer Kollege [1]Darf man eigentlich als Emeritus die aktiven Fakultätsmitglieder noch als Kollegen ansprechen? Karl Riesenhuber aufmerksam gemacht:
Omri Ben-Shahar/Carl E. Schneider, The Failure of Mandated Disclosure, University of Pennsylvania Law Review 159 , 2011, 647-750.
Die Arbeit passt jetzt gut zu dem Eintrag über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus vom 3. 1. 2012. Das folgende Zitat kann vielleicht besser noch als das Abstract einen Eindruck vermitteln, worum es geht:

Not only does mandated disclosure address a real problem, it also rests on a plausible assumption: that when it comes to decisionmaking, more information is better than less. More information helps people make better decisions, thus bolstering their autonomy. Since people can no longer customize most transactions, disclosure helps restore some individual control. It may also induce enterprises to behave more efficiently.
Although mandated disclosure addresses a real problem and rests on a plausible assumption, it chronically fails to accomplish its purpose. Even where it seems to succeed, its costs in money, effort, and time generally swamp its benefits. And mandated disclosure has unintended and undesirable consequences, like driving out better regulation and hurting the people it purports to help. Not only does the empirical evidence show that mandated disclosure regularly fails in practice, but its failure is inevitable. First, mandated disclosure rests on false assumptions about how people live, think, and make decisions. Second, it rests on false assumptions about the decisions it intends to improve. Third, its success requires an impossibly long series of unlikely achievements by lawmakers, disclosers, and disclosees. That is, the prerequisites of successful mandated disclosure are so numerous and so onerous that they are rarely met.

Die Autoren meinen einleitend, wenn man über Informationspflichten schreiben wolle, habe man dasselbe Problem, dass von diesen Pflichten aufgeworfen werde. Die Masse der Informationen übersteige die Fähigkeit des Informanten, sie angemessen darzustellen, und ebenso die Kapazität der Informierten, sie sinnvoll aufzunehmen. Deshalb möge man aus ihrem (104 Seiten langen) Artikel nur lesen, was einen interessiere. Insbesondere den ersten Teil, der die zahllosen Informationspflichten aufzähle, könne man getrost überschlagen, wenn man ohnehin von ihrer Allgegenwart überzeugt sei.
Ich habe zwar in der Tat einiges überschlagen, aber nicht weil ich den Artikel langweilig oder schwer zu lesen fand. Im Gegenteil: Die Amerikaner können einfach gut schreiben, so dass die Lektüre ein Vergnügen ist. Aber ich habe im Moment andere Themen im Kopf. Doch im Kopf habe ich jetzt auch, dass die Allgegenwart in Verbindung mit dem Umfang und der Komplexität der kraft Gesetzes angebotenen Informationen die weitgehende Wirkungslosigkeit dieses Angebots zur Folge hat. Die Autoren halten Informationsangebote zwar nicht für völlig unwirksam, meinen aber, nur ganz simple Informationen (etwa nach dem in Deutschland zurzeit diskutierten Ampelmodell für Nahrungsmittel) könnten effektiv sein. Gesetzgeber und Gerichte erfinden aber immer neue Informationspflichten, denn diese scheinen eine liberale, billige und wirksame Lösung vieler Probleme zu bieten.
Ben-Shahar und Schneider haben mit ihrer Arbeit ein Prachtexemplar symbolischer Gesetzgebung vorgestellt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Darf man eigentlich als Emeritus die aktiven Fakultätsmitglieder noch als Kollegen ansprechen?

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Kirste und Eidenmüller über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus

Die (negative) Freiheit [1]Zum Freiheitsbegriff vgl. den Exkurs »Der Begriff der Freiheit« aus der »Allgemeinen Rechtslehre« (S. 146-150), der als Preprint im Internet abrufbar ist. des Bürgers äußert sich in seinem Selbstbestimmungsrecht. Grenzen dieser Freiheit bilden nach Art 2 Abs. 1 GG die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Der Verweis auf die verfassungsmäßige Ordnung bedeutet einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Die Rechtsordnung ist jedoch so dicht, dass auch die Rechte anderer und das Sittengesetz praktisch immer nur in ihrer Ausgestaltung durch positives Recht zum Tragen kommen. Wenn es aber um die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe oder um die Verfassungsmäßigkeit positivrechtlicher Freiheitsbeschränkungen geht, kommt indirekt doch wieder das Sittengesetz ins Spiel. Der Ausdruck wirkt heute etwas verstaubt. Der liberale (negative) Freiheitsbegriff kann damit nicht viel anfangen. Das positive Freiheitsverständnis füllt das Sittengesetz dagegen mit Vorstellungen, die man zeitgemäß als kommunitaristisch kennzeichnet. Schulbeispiel ist der so genannte Zwergenweitwurf, der es sogar zu Wikipedia-Ehren gebracht hat. Das Verwaltungsgericht Neustadt (NVwZ 1993, 98) hielt diese im Schaustellergewerbe verbreitete Übung für sittenwidrig, so dass sie nach § 33a Abs. 2 S. 2 GewO nicht genehmigungsfähig. Auch sei sie nicht nach § 33a Abs. 1 S. 2 GewO genehmigungsfrei, denn das sportliche oder akrobatische Element stehe nicht im Vordergrund. Diese Entscheidung hat weitgehend Zustimmung gefunden. Die betroffenen kleinwüchsigen Menschen sind jedoch teilweise anderer Ansicht, nicht nur, weil sie einige damit eine Erwerbsmöglichkeit verlieren, sondern auch, weil sie gerade durch solche Bevormundung ihre Menschenwürde tangiert sehen.
»Jeder soll nach seiner Façon selig werden.« Diesen Satz hatte Friedrich II. 1740 zwar nur auf die Religionsfreiheit der Juden gemünzt. In erweitertem Sinne enthält er jedoch das Credo des Liberalismus. In der Rechtsphilosophie beruft man sich natürlich auf Kant, der diesen Gedanken 1793 so formuliert hat:

»Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d. i. diesem Rechte des andern) nicht Abbruch tut.«

Und Kant hat auch gleich das Gegenstück zu solcher Freiheit beim Namen genannt:

»Eine Regierung, die auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale ), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gültigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus.« [2]Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, II.

Von Paternalismus als von einer Einstellung, nach welcher der Staat berechtigt und verpflichtet ist, für das Glück der Menschen zu sorgen, war in der deutschen Rechtsphilosophie bisher wenig die Rede. In der amerikanischen Rechtsphilosophie ist Paternalismus dagegen ein geläufiger Kampfbegriff des Liberalismus. Als solcher wurde er auch in Deutschland durch das Buch »Nudge« von Richard H. Thaler und Cass B. Sunstein bekannt. [3]Dazu der Eintrag »Nudge« vom 21. 7. 2009. 2011 hat die Juristenzeitung nun in demselben Heft gleich zwei Aufsätze veröffentlicht, die den Paternalismus im Titel tragen, nämlich »Harter und weicher Rechtspaternalismus« von Stephan Kirste (JZ 2011, 805-814) und »Liberaler Paternalismus« von Horst Eidenmüller (JZ 2011, 814-821). Die Aufsätze sind anscheinend ohne Bezug aufeinander verfasst worden, ergänzen sich aber gut. Nur die Begriffe passen nicht zueinander. Immer geht es beim (rechtlichen) Paternalismus um die Frage, ob die Rechtsordnung Menschen ohne oder gar gegen ihren Willen zu einem Verhalten veranlassen soll, das sie selbst nicht wählen würden, das aber von der höheren Warte des Rechts letztlich in ihrem eigenen Interesse zu liegen scheint. Mit anderen Worten, es geht darum, ob das Recht den Menschen zu ihrem Glück verhelfen oder verhindern soll, dass sie sich willentlich in ihr Unglück stürzen. Harter Paternalismus erreicht dieses Ziel durch Gebote oder Verbote. Autofahrern wird geboten, den Sicherheitsgurt anzulegen. Weicher Paternalismus begnügt sich mit Warnhinweisen oder Informationsangeboten, überlässt aber den Handlungsentschluss den Betroffenen. Kirste befasst sich mit einer langen Liste einschlägiger Fälle insbesondere aus dem Bereich der Medizinethik, die er unter dem Aspekt des Paternalismus mit einer liberalen Grundtendenz durchdekliniert. Den weichen Paternalismus hält Kirste schon als begriffliche Kategorie für überflüssig, weil er das Selbstbestimmungsrecht unberührt lasse.
Eidenmüller befasst sich hauptsächlich mit der von Kirste für überflüssig gehaltenen Kategorie des weichen Paternalismus. Er fragt, ob es einen rechtlichen Paternalismus gebe, der ohne erhebliche Freiheitsbeschränkungen auskomme. Dazu unterscheidet er unterscheidet zwischen Wertepaternalismus und Defizitpaternalismus [4]Dieser Ausdruck ist von mir(KFR).. Der Wertepaternalismus will die vorgefundenen Präferenzen der Menschen von der höheren Warte einer objektiven Wertordnung korrigieren. Der Defizitpaternalismus dagegen soll Rationalitätsdefizite ausgleichen, unter denen jeder Handlungsentschluss mehr oder weniger leidet. Wertepaternalismus, so Eidenmüller, sei immer mit Freiheitsbeschränkungen verbunden. Das heißt wohl, er läuft immer auf ein Gebot oder Verbot hinaus. Wertepaternalismus wäre danach im Sinne Kirstes harter Paternalismus. Defizitpaternalismus hat dagegen eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die den Handlungsentschluss letztlich dem Betroffenen überlassen. Das beginnt bei bloßen Warnhinweisen (»Rauchen kann tödlich sein.«), Informationsangeboten und Pflichtberatungen und reicht über die Bereitstellung dispositiven Rechts bis hin zu Opt-Out-Lösungen (wie sie für die Einwilligung zur Organspende erörtert werden). Mit der Begriffsarbeit ist nicht alles, aber doch schon eine ganze Menge gewonnen. Eidenmüller versteht den liberalen Paternalismus als ein rechtspolitisches Begründungskonzept, dem allerdings ein normatives Fundament fehle, wenn es nicht das Effizienzprinzip der ökonomischen Analyse des Rechts übernehme. Er hält es für einen naiven und unbegründeten Trugschluss vom Sein auf ein Sollen, wenn man die Legitimation eines rechtlichen Paternalismus aus der Tatsache der von der Psychologie beschriebenen Rationalitätsdefizite ableite. Das ist m. E. ein falscher Akzent. Natürlich, als logischer wäre der Schluss von den Rationalitätsdefiziten menschlicher Entscheidungen auf die Zulässigkeit oder Notwendigkeit rechtlicher Schutzvorkehrungen verfehlt. Aber als bewusste Wertung ist er mindestens plausibel und liegt als solcher dem gesamten Verbraucherschutzrecht zugrunde. Das Problem ist die »Erheblichkeit« der Freiheitsbeschränkungen, die auch mit einem liberalen (Defizit-)Paternalismus verbunden sind. Die Belästigungen, die die Betroffenen dabei hinnehmen müssen, sind durch den möglichen Rationalitätsgewinn ihrer Entscheidungen leicht zu rechtfertigen. In aller Regel verlangen die paternalistischen Maßnahmen aber heftige Freiheitsbeschränkungen bei Dritten, insbesondere bei den Anbietern von Waren und Dienstleistungen, denen aufgegeben wird, Information und Beratung bereit zu stellen. Auch das lässt sich bis zu einem gewissen Grade rechtfertigen, muss aber doch bedacht werden.
Eidenmüller kritisiert außerdem, dass der liberale Paternalismus »sich auf die Mikroebene der Präferenzbeeinflussung konzentrier[e] und Einflussfaktoren auf der Makroebene ausblende[e]«. Die Überlegung ist als solche sicher zutreffend. Die individuellen Präferenzen werden weitgehend »auf einer Makroebene von dem sozialen, politischen und rechtlichen Umfeld beeinflusst« (S. 820). Aber eine Präferenzbeeinflussung auf der Makroebene läuft doch wohl auf einen Wertepaternalismus hinaus und fällt damit von vornherein aus dem Spektrum des liberalen Paternalismus heraus.

Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Der so genannte liberale Paternalismus ist inzwischen zu einem allgemeinen Diskussionsthema geworden; vgl. z. B.
Corinna Budras, Der Vormund, FamS vom 10. 2. 2015
Werner Mussler, Ausgeschubst. Die Probleme mit dem liberalen Paternalismus, FAZ Wirtschaftsblog vom 11. 4. 2012
Cass Sunstein, einer der beiden Patentinhaber, war im Januar persönlich zu einer Konferenz in Berlin. Daher war Nudging ausführlich Thema auf verfassungsblog.de.
Unter den deutschen Ökonomen hat sich besonders Jan Schnellenbach um das Thema bemüht.
Näheres dazu auf seiner Webseite, wo die folgenden Titel heruntergeladen werden können:
Neuer Paternalismus und individuelle Rationalität: eine ordnungsökonomische Perspektive, List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 40, 2014, 239-257
Nudges and Norms: The Political Economy of Soft Paternalism, European Journal of Political Economy 28, 2012, 266-277 []
Wohlwollendes Anschubsen: Liberaler Paternalismus und seine Nebenwirkungen. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 12, 2011, 445-459
Some Notes on the Nudge: The Political Economy of Libertarian Paternalism in Democratic Societies (May 27, 2011). Verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=1854670.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zum Freiheitsbegriff vgl. den Exkurs »Der Begriff der Freiheit« aus der »Allgemeinen Rechtslehre« (S. 146-150), der als Preprint im Internet abrufbar ist.
2 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, II.
3 Dazu der Eintrag »Nudge« vom 21. 7. 2009.
4 Dieser Ausdruck ist von mir(KFR).

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Nudge

Ein neues Buch von Richard H. Thaler und Cass B. Sunstein mit dem Titel »Nudge« ist seit dem 11. 7. in Fortsetzungen als Vorabdruck im Feuilleton der FAZ zu lesen. Dazu veröffentlichte die Zeitung am 11. 7. ein einführendes Interview von Jordan Mejias mit Richard Thaler und in FAZ.NET eine Vorstellung von Jürgen Kaube. Schon am 6. 4. 2009 gab es eine Buchanzeige von Hanno Beck. Was ist an der Sache bemerkenswert noch bevor man das Buch gelesen hat?
1. Dass das Thema im Feuilleton und nicht im Wirtschaftsteil erscheint? Kaum. Die FAZ hat den Feuilletonbegriff längst für Sachthemen aller Art geöffnet.
2. Dass die Autoren zum Beraterkreis von Präsident Obama gehören? Das sichert ihnen mindestens Aufmerksamkeit.
3. Dass Behavioral Economics zum Alltagsthema geworden ist. Dazu hat vermutlich das Interesse an Börsenthemen beigetragen. Hanno Beck hat dieses Interesse in der FAZ durch eine Serie über Behavioral Finances und mit einem auch für die Rechtssoziologie relevanten Buch über »Die Logik des Irrtums« (2008) bedient.
3. Dass wir in die Rechtssoziologie wohl ein neues Kapitel über Verhaltenslenkung ohne Normen einfügen müssen.
4. Dass die Autoren solche Verhaltenslenkung als »Liberalen Paternalismus« rechtfertigen.

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