Hier war die Rechtsdidaktik

In den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verlangten »fortschrittliche« Rechtsfakultäten von ihren Bewerben, dass sie neben Lebenslauf und Schriftenverzeichnis auch ein Positionspapier zur Rechtsdidaktik vorlegten. Mein Bochumer Kollege Professor Dr. Peter A. Windel hat mir freundlich einen solchen Text zur Verfügung gestellt, den er 1997 verfasst hat und der unverändert hier zu lesen ist:

Über akademische Lehre

Bei allen Vorbehalten, die ein junger Privatdozent ohne große Lehrerfahrung machen muss, wenn er Vorstellungen zur akademischen Lehre entwickelt, lässt sich festhalten, dass der Zu­gang zu einer didaktisch sinnvollen Aufbereitung des zu vermittelnden Stoffes im Bereich der Geisteswissenschaften erleichtert wird, wenn deren Dogmatik ihrerseits nicht nur nach streng systematischen, sondern auch nach heuristischen Kriterien entwickelt wird.

Neben der für die Geisteswissenschaften klassischen deduktiven Vermittlung des Stoffes bietet sich gerade für das Jurastudium auch die induktive Methode an. In Gestalt der Judikatur und der zahlreichen Schulfälle gibt es nämlich eine Fülle an Material, um den Vortrag plastischer und damit für die Studierenden leichter fasslich zu machen. Dabei ist freilich auf sorgfältige Auswahl und Vereinfachung zu achten: Werden Beispielsfälle zu komplex, verlieren sich Vor­tragender und Auditorium leicht in Nebensächlichkeiten. Dies gilt übrigens auch für Klausur­aufgaben; m. E. wird dies oft nicht genügend berücksichtigt. Hiergegen lässt sich nicht ein­wenden, Ausbildung und Prüfung verlören mit der Entschlackung der Fälle den notwendigen Bezug zur komplexen Lebenswirklichkeit. Denn Hausarbeit und juristischer Vorbereitungs­dienst bieten ausreichend Gelegenheit, mit verwickelteren Vorgängen vertraut zu werden.

Indem ich deduktive und induktive Methode nebeneinanderstelle, trete ich für eine Kombina­tion der beiden miteinander ein. Dies beruht auf meiner bisherigen Lehrerfahrung: Manches lässt sich in der nötigen Klarheit nur rein deduktiv entwickeln; anderes muss zwar ebenfalls aus allgemeinen Prinzipien hergeleitet werden, wird aber erst durch das Beispiel anschaulich; wie­der anderes erschließt sich am besten dadurch, dass Beispielsfall für Beispielsfall analysiert und die Ergebnisse schließlich abstrakt zusammengefasst werden.

Auch die Pädagogik mag auf die akademische Lehre ihren Einfluss haben, freilich ist dieser wegen des durchschnittlichen Alters der Studierenden beschränkt. Hinzu kommt, dass es gerade auch deren wohlverstandenem Interesse entspricht, ihnen so viel akademische Freiheit zu er­halten, wie dies unter den Bedingungen der modernen Massenuniversität eben möglich ist: Eigenständige Persönlichkeiten werden sich dann besser entfalten können als in einem ver­schulten Lehrbetrieb.

Sicher ist, dass das Verhältnis von Stoff und Form im universitären Unterricht wegen der Komplexität des ersteren oft den Gestaltungsrahmen für letztere einschränkt. Die klassische und bewährte Typik der Lehrveranstaltungen (Vorlesungen, Übungen, Seminare, Kolloquien, Kurse, Propädeutika und Tutorien) stellt aber einen Fundus bereit, die daraus folgenden Pro­bleme zu bewältigen. Dabei ist die Scheu unangebracht, die einzelnen Typen zu kombinieren und damit in ihrer Leistungsfähigkeit wechselseitig zu stärken (Propädeutika und Tutorien mit kleinen Gruppen können den Nutzen einer Großveranstaltung mehren; Wiederholungs- und Vertiefungskurse vermögen die Hauptvorlesungen zu ergänzen usf.). Letztens lässt sich auch festhalten, dass der Erfolg einer Veranstaltung zum nicht geringsten Teil davon abhängt, wie die Weichen an den situationsbedingt entscheidenden Punkten im Rahmen eines Semesters ge­stellt werden: Ein Hörsaal lässt sich in einem Augenblick “packen” oder verlieren, der Lehrer­folg ist gelegentlich von vordergründig rein atmosphärischen Dingen abhängig.

Im Rahmen einer Bewerbung um eine Professur an einer juristischen Fakultät lässt sich über akademische Lehre nicht schreiben, ohne auf die besondere Problematik der Juristenausbildung einzugehen. Deren Grundfragen sind andernorts oft genug erörtert worden und brauchen hier nicht erneut aufgegriffen zu werden (das Verhältnis von Recht als normativer Ordnung und “Rechtswirklichkeit”; die Verbindung von universitärer Ausbildung mit Staatsexamina; die Frage, ob eine echte Zwischenprüfung mit dem Charakter des Jurastudiums vereinbar ist; die Ein- oder Mehrgliedrigkeit der Ausbildung; die Nöte, Normenflut und ins Kraut schießendes “Richterrecht” zu bewältigen; die rechtlichen Implikationen des europäischen Integrationspro­zesses und nicht zuletzt das Repetitoren[un]wesen). Daher begnüge ich mich mit dem Be­kenntnis, dass sich das Studium der Rechtswissenschaften dann als besonders gewinnbringend erweisen dürfte, wenn es tatsächlich als solches betrieben wird.

Für die Lehrenden bedeutet dies, dass sie auch im Unterricht der Rechtswissenschaft ver­pflichtet sein müssen und nicht in eine Rechts- oder Entscheidungskunde abgleiten dürfen. Denn es wäre ein Irrglaube anzunehmen, ein möglichst breites Detailwissen machte die guten, d. h. für die Gesellschaft nützlichen, Juristen aus. Im Gegenteil sind es die systematischen Grundlagen und das methodische Rüstzeug, die die Bewältigung der vielfältigen Aufgaben er­möglichen, die die unterschiedlichen juristischen Berufe an ihre Repräsentanten herantragen. Gelingt es, in diesem Sinne auszubilden oder vielleicht besser: Hilfestellung zum jeweils per­sönlich geprägten Studium zu leisten, dürfte sich auch die Diskussion erledigen, ob das Bild des sog. Einheitsjuristen aufgegeben werden sollte. Denn wie wären die Ziele von Lehrenden und Studierenden besser zu vereinigen als in einem Studienabschluss, der für den weiteren be­ruflichen Lebensweg gute Chancen auf verschiedensten Feldern eröffnet?

[Früherer Beitrag zur Fachdidaktik der Rechtswissenschaft am 21. 7. 2008]

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Wo bleibt die Rechtsdidaktik?

Der einzige aktive Zugang zu einer juristischen Fachdidaktik scheint zur Zeit über die Visualisierung von juristischen Inhalten zu laufen. In unserem Buch »Recht anschaulich« (S. 16) bemerken wir daher das Fehlen einer Fachdidaktik für die juristische Ausbildung. Zwar gibt es eine unendliche Debatte über die Inhalte der Juristenausbildung. Die Fachdidaktik ist darüber jedoch völlig in Vergessenheit geraten. Es fehlt sowohl an monografischer wie an Aufsatzliteratur und erst recht an einer einschlägigen Fachzeitschrift.
Die erste Auflage des »Handbuchs Hochschullehre« aus dem Raabe-Verlag enthielt immerhin einen fachspezifischen Teil »Wirtschafts- und Rechtswissenschaften«. Darin war die Rechtsdidaktik nur mit einem Beitrag vertreten: Marko Baumert, »Bitte (in)formieren Sie sich!« − Teilnehmerzentrierung juristischer Arbeitsgemeinschaften mit Beispielen aus dem öffentlichen Recht, WAR 2.2. Ein weiterer einschlägiger Beitrag fand sich in dem Teil »Präsentation und Visualisierung«: Werner Unger, Paragraphen und Graphik. Eine Methode der Visualisierung juristischen Lehrstoffs (WRB 3.1). In der (noch unvollständigen) Neuauflage sind diese Beiträge bisher nicht wieder abgedruckt. (Ungers Beitrag steht jetzt in stark erweiterter Form im Web zur Verfügung; dazu mein Post in »Recht anschaulich«). Es gab und gibt immerhin eine Rechtspädagogik für den Rechtskundeunterricht, insbesondere in Schulen. Aber, wie gesagt, es fehlt die Fachdidaktik für den juristischen Hochschulunterricht.
Anders in den USA und in England: In den USA gibt es seit 1950 das Journal of Legal Education. Es wird von der Association of American Law Schools herausgegeben und von dem Verlag West Publishing Company and Foundation Press an alle Hochschullehrer verteilt. Während meiner Aufenthalte in Madison und St. Louis habe ich immer gerne darin gelesen. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um eine inhaltsreiche Zeitschrift mit hohem Qualitätsstandard handelt. Neuere Hefte waren mir nicht mehr zugänglich.
In England erscheint drei Mal jährlich herausgegeben von der Association of Law Teachers (ALT) im Verlag Sweet & Maxwell. »The Law Teacher: The International Journal of Legal Education«. Ich kenne die Zeitschrift bisher nicht, werde aber versuchen, Zugang zu bekommen.
Schon die allgemeine Hochschulpädagogik, die natürlich auch für die juristische Ausbildung relevant ist, ist in Deutschland kümmerlich. Eine aktuelle und umfangreiche Diskussion gibt es nur für den Bereich des E-Learning. Einen gewissen Überblick gibt Hochschuldidaktik online, herausgegeben vom HDZ der Universität Dortmund. In seinem jüngsten Editorial vom Februar 2008 meint dazu Prof. Dr. Dr. h.c. Johannes Wildt, die »Qualitätsoffensive in der Lehre« der Hochschulrektorenkonferenz und die »Exzellenzinitiative in der Lehre« des Stifterverbandes versprächen einen neuen Schub für die Qualitätsentwicklung im Studium und Lehre. Inzwischen hat am 7. Juli 2008 auch noch der Wissenschaftsrat den Zustand der Hochschullehre kritisiert und Änderungen angemahnt. Aber diese Euphorie trifft in den traditionellen Kernfächern, nicht zuletzt bei den Juristen, auf eine tiefsitzende Skepsis. »Didaktisierung« ist zum Buhwort geworden. Man befürchtet die fortschreitende Verschulung des Rechtsunterrichts, wie sie längst durch die Aufnahme juristischer Module in andere Fächer und die Ausbildung von Diplom-Juristen an Fachhochschulen in Gang gekommen ist und durch eine Bachelorisierung des Jurastudiums unvermeidlich würde.
Ich selbst nehme hier eine Zwischenposition ein. Einerseits geht es nicht ohne ein Minimum an Hochschuldidaktik. Schon vor nun wohl über 20 Jahren habe ich in der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität einen Fakultätsbeschluss durchgesetzt, nach dem jeder Habilitand mit der Anmeldung zur Habilitation den Nachweis über die Teilnahme an einer von der Zentrale der Ruhr-Universität angebotenen hochschuldidaktischen Veranstaltung vorlegen sollte. Andererseits graust auch mir vor einer weiteren Verschulung der juristischen Ausbildung, die ich allerdings als mehr oder weniger unvermeidlich kommen sehe. Ich dieser Situation wäre eine juristische Fachdidaktik hilfreich, um den Wissenschaftsanspruch der Jurisprudenz auch in der Ausbildung aufrecht zu erhalten.
Auf einige neue Ansätze zu einer juristischen Fachdidaktik, die mir in den letzten Monaten aufgefallen waren, habe ich an dieser Stelle bereits in den Beiträgen vom 23. 4. 2008 und 28. 6. 2008 hingewiesen. Mit diesem Beitrag will ich jetzt den Versuch unternehmen, einen Kreis interessierter Kolleginnen und Kollegen zu sammeln in der Hoffnung, dass es gelingt, diesen Kreis durch organisatorische Vorkehrungen auf Dauer zu stellen und ihm zur Wirksamkeit zu verhelfen. Dafür mag das Journal of Legal Education als Vorbild dienen.

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