Ein starkes Stück Kulturwissenschaft: Cornelia Vismanns Tribunalisierungsthese II

Dieser Eintrag beendet die am 14. 11. begonnene und am 17. 11. sowie am 21. 11. im Blog »Recht anschaulich« fortgesetzte Besprechung des Buches »Medien der Rechtsprechung« von Cornelia Vismann.
Der Abschnitt mit der Überschrift »Courtroom-Drama« steht noch im Kapitel über das »Cine-Gericht«. Unter einem courtroom-drama versteht Vismann aber hier nicht, wie üblich, bloß fiktive Darstellungen von Gerichtsszenen, sondern Filme, die die Judenvernichtung thematisieren. Dazu rechnet sie auch die Filmdokumentationen, die im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zu Beweiszwecken vorgeführt wurden und die Filme, mit denen dieses und andere reale Gerichtsverfahren dokumentiert wurden. Die Parallelisierung von Fiktion, Dokumentation und auch Realität findet sich an vielen Stellen des Buches. Literarisch wird sie durch die Berufung auf die Theatergruppe Rimini gestützt.
In der Sache konzentriert sich der Abschnitt über das »Courtroom-Drama« auf die höchst aufwendigen technischen und personellen Vorkehrungen für das Simultan-Dolmetschen in Nürnberg. Er konstatiert zunächst, dass die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse in bis dahin unvorstellbarer Weise für akustische und visuelle Medien geöffnet wurden, um sich dann darauf zu zeigen, wie die seinerzeit neuartige Technik des Simultandolmetschens dem Verfahren ihren Stempel aufdrückte. Soweit das deskriptiv geschieht, liest es sich spannend. Mit der Interpretation kann ich aber wenig anfangen: »Damit hätte die Stimme einen eigentümlich raumlosen Raum gefunden, in dem der Nachhall der Stimme als das Nicht-Identische des Subjekts vernehmbar wird.« (S. 235) Am Ende S. 240 gibt es immerhin eine These: Die Technik des Simultandolmetschens gehört inzwischen bei internationalen Tribunalen selbstverständlich dazu, nicht aber bei Verfahren der normalen Gerichten mit Beteiligten, für die in mehrere Sprachen übersetzt werden muss. Vismann sieht darin einen Unterschied zwischen Tribunal und Gericht. Die normalen Gerichte duldeten keine simultanen Reden, weil sie um ihre »Prozesshegemonie« oder »Diskursmacht« fürchteten. (S. 240) Mir scheint wichtiger, dass das Gerichtsverfahren durch das Simultandolmetschen sozusagen zur Telefonkonferenz unter Anwesenden wird. Interessant wäre vor allem, was Psychologen dazu zu sagen haben. Ich weiß allerdings nicht, ob es dazu überhaupt aktuelle Untersuchungen gibt.
Der folgende Abschnitt über »Nürnberg«, immer noch im Kapitel »Cine-Gericht«, befasst sich damit, wie einerseits der (erste) Nürnberger Kriegsverbrecherprozess von vornherein als Medienereignis für die Weltöffentlichkeit und als Instrument für die Umerziehung der Deutschen organisiert wurde und wie andererseits innerhalb des Verfahrens die nicht zuletzt zu diesem Zweck gedrehten Filme über die Befreiung der Konzentrationslager als Beweismittel dienten. Der Chefankläger der Amerikaner, Justice Jackson, stützte die Anklage im Wesentlichen auf Dokumente, Fotos und eben auf Filme, die »für sich selbst sprechen sollten«. Die Absicht dahinter war einerseits, das Verfahren möglichst frei von Störungen durch die Emotionen der Opferzeugen zu halten (S. 246 f.). Es sollte aber wohl auch verhindert werden, »dass die Angeklagten das Tribunal als Plattform für nationalsozialistische Propaganda nutzen würden«. [1]Susanne Karstedt, Die doppelte Vergangenheitsbewältigung der Deutschen, Zeitschrift für Rechtssoziologie 17, 1996, 58-104, 68. Der Gerichtssaal, so Vismann, wurde zum Kino umgebaut. Acht Filme, darunter ein Zusammenschnitt mit dem Titel »The Nazi Concentration Camp«, wurden quasi zu Hauptbelastungszeugen. Das Verfahren seinerseits wurde abgefilmt, und zwar bei der Vorführung der Beweisfilme mit Blick auf die Gesichter der Angeklagten. Vismann geht der Frage nach, ob die in Nürnberg gezeigten Filmbilder »einen emblematischen Charakter annehmen, und das heißt: einer von allen geteilten Interpretation zugänglich sind« (S. 253). Sie meint, dass die wiederum abgefilmte Szene der Vorführung der Filme das Potential zur Emblematisierung enthalte, und spricht von einer Authentifizierungslogik. Das ist, wie sie selbst nicht verkennt, wohl etwas zu stark. Aber interessant ist es doch, wie Vismann der Verwendung der Schreckensfilme in jüngeren Spiel- und Dokumentarfilmen – insbesondere Alan Resnais, »Nuit et brouillard« (Nacht und Nebel), 1955; Orson Welles, »The Stranger« (Die Spur des Fremden), 1946, und Stanley Kramer, »Judgment at Nuremberg«, 1961 – nachgeht. Der Eichmann-Prozess, wiewohl vollständig aufgezeichnet, hatte anscheinend zunächst im Kino kaum ein Echo, bis 1999 Eyal Sivans und Rony Braumans Material aus dem Eichmann-Prozess für ihren Film »Un spécialiste, portrait d’un criminel moderne« verwendeten. Der Film veranlasst Vismann zu dem Resümee: »Die Bilder, die nach Nürnberg zum Emblem oder doch zumindest zur Chiffre für den Holocaust geworden sind, haben sich abgenutzt.« (S. 270). Das erinnert an Susan Sontag, die 1977 in demselben Essay, in dem sie eindrucksvoll ihre persönliche Begegnung mit den Schreckensbildern aus den Konzentrationslagern schilderte, nicht weniger deutlich formulierte, was heute als Gemeinplatz der Medienkritik gilt. »In den letzten Jahrzehnten hat die ›anteilnehmende Fotografie‹ mindestens ebenso viel dazu getan, unser Gewissen abzutöten, wie dazu, es aufzurütteln.« [2]Susan Sontag, Über Fotografie [Original 1977], 12. Aufl. 2000, S. 22. Was mag es bedeuten, dass längst viele Filmteile aus dem Nürnberger Prozess und aus dem Eichmann-Verfahren neben Millionen von Trivialclips bei YouTube zu finden sind? Aber das war nicht Vismanns Thema. Ihr ging es in erster Linie darum zu zeigen, wie selbst im Gerichtsfilm die Szene zum Tribunal wird.
Das Abschnitt »Fernsehübertragungen aus dem Gerichtssaal« (S. 297-317) beginnt: »Die Geschichte des Fernsehens ist die Geschichte einer Aneignung von Gerichtsstoffen und –formaten.« Das ist arg übertrieben. Aber es gibt eine solche Geschichte. Vismann referiert andeutungsweise die juristische Diskussion, um dann den Widerstand der Juristen gegen Live-Übertragungen aus dem Gerichtssaal aus der eigentümlichen Performanzleistung der Justiz zu erklären. Was im Gericht geschehe, müsse als unwiederholbarer Vorgang erscheinen und dürfe deshalb erst nach einem Medienwechsel – als schriftlicher Prozessbericht oder als Gerichtszeichnung – nach außen dringen. (S. 311) Aber: Bedeutet nicht auch die Filmaufzeichnung einen Medienwechsel? Sind nicht auch schriftliche Prozessberichte und Gerichtszeichnungen wiederholt abrufbar?
Das gilt viel stärker noch für das Fernsehen als für den Film. »Fernsehen und Gericht sind vielmehr deswegen miteinander verwandt, weil sie nach denselben Regeln ablaufen. So wie in einem Dolmetschverfahren aus Worten Sätze werden, fügen sich die Fernsehsignale zu einem Bild, da sie ›wie in buchstabierter Satz richtige syntaktische Regeln und unterschiedliche Glieder bis hin zum Interpunktionszeichen haben‹ « (S. 271) Diese Reverenz an Kittler muss man überlesen, um zum springenden Punkt zu gelangen: »Ob Fußball oder Gericht, das Fernsehen ist begierig auf Verfahren in Echtzeit mit ungewissem Ausgang. Alles, was dem agonalen Dispositiv unterliegt, ist willkommen.« (S. 272) Die Fernsehzuschauer bilden die Masse, vor deren Augen die Entscheidung fällt. Als Beispiel dient die Live-Übertragung eines Tribunals aus der Frühzeit des amerikanischen Fernsehens, des Army-Hearing McCarthys im Frühjahr 1954. Es folgt eine spannende Schilderung der Entstehungsgeschichte und eine wunderbare Interpretation von Otto Premingers Anatomy of a Murder (1959) als »ultimativem Gerichtsfilm«. Die Verbindung zwischen Fernsehen und Film wird durch die Figur des Anwalts Joseph N. Welch hergestellt, der als Vertreter der US-Army McCarthy mit der Frage »Have you no sense of decency, sir?« vom Ankläger zum Angeklagten machte, nachdem McCarthy vor der Fernsehöffentlichkeit einen jungen Offizier unvorbereitet und unbegründet angegriffen hatte. Eben dieser Welch spielte dann den Richter in Premingers Film. Im Hintergrund die medientheoretische These: Im Gerichtsfilm zeige sich noch die klassische Einheit von Theater und Gericht. Dagegen habe das Fernsehen neben seiner Komplizenschaft zum Tribunal das Gerichtsformat nur als Vorwand für indezente Themen entdeckt und ausgeschöpft.
Der Abschnitt »Videosphären« betont einleitend den Charakter von Videos als Speichermedium – im Gegensatz zum Fernsehen, dass jedenfalls im Prinzip auf eine Liveübertragung angelegt ist. Der Abschnitt konzentriert auf den Vorhalt von Videoaufnahmen im Strafprozess und verliert sich – aus meiner Sicht – in einer Paraphrase zu Legendres Abhandlung und Film zum Fall Lortie. [3]Über die Rolle des Videofilms bei Legrande/Lortie vgl. : http://www.nachdemfilm.de/content/zum-status-der-videoaufzeichnung-pierre-legendres.
Unter der Überschrift »Fern-Justiz/Remote Judging« könnte man eine Auseinandersetzung mit Versuchen erwarten, Personen außerhalb des Gerichtssaals durch Videokameras in die Präsenzverhandlung vor Gericht zu integrieren. Doch die Überschrift entpuppt sich als Wortspiel, denn Fern-Justiz ist nicht Fernjustiz im Sinne von Remote Judging, sondern eine »überörtliche, ortlose« (S. 368) Justiz fern des Tatorts. S. 369 f. bedenkt Vismann den Cyber Court, dem die Beteiligten elektronisch zugeschaltet sind, nur als »Extremfall«. Ihr Thema ist das International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY), das exemplarisch geworden ist, Vorbild für den seit 2003 tätigen Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wurde. Aber, das ist wichtig: Mit seiner »state-of-the-art-courtroom-technology« gibt der ICTY auch für die Normaljustiz die Richtung vor (S. 360 f.) Damit ist dieses Schlusskapitel (für mich) das interessanteste und wichtigste.
Sechs Kameras und die Netzöffentlichkeit der Aufnahmen sorgen beim ICTY dafür, dass der Tribunalauftrag der Politik erfüllt wird. Allerdings kann das Gericht verhindern, dass bestimmte Aufnahmen öffentlich werden. So erklärt Vismann den Control-Screen des Vorsitzenden zum »Vorhang«, der der Szene Gerichtscharakter verleiht. Aber es geht nicht nur um eine Videoaufnahme der Verhandlung zur Dokumentation nach außen. Darum ging es ja auch 1965 im Fall Estes v. Texas, als der US Supreme Court Fernsehaufnahmen der Gerichtsverhandlung untersagte. Und darum ging es, als dasselbe Gericht 20 Jahre später das Gerichtsfernsehen zuließ mit der von Chief Justice Warren Burger verfassten Begründung, damals, in dem Estes-Verfahren, sei es zugegangen wie in einem römischen Zirkus, der Gerichtssaal voller Kameras, Kabel, Scheinwerfer, Techniker usw. Aber nun, 1985, sei das alles anders. Von der Kamera sei im Gerichtssaal gar nichts mehr zu bemerken. Und deshalb dürfe das Fernsehen zugelassen werden. Vismann dagegen meint: »Wenn das, was in camera (bei aller Öffentlichkeit) geschieht, zugleich in einem kleinen, Kamera genannten Kasten noch einmal wiederholbar gespeichert wird, sprengt das die unwiederbringliche Einzigartigkeit der Gerichtsaufführung, die unter dem Stichwort Unmittelbarkeit ins Prozessrecht eingegangen ist.« (S. 373) Erneut ein Wortspiel, das man goutieren mag, dass aber wenig beweiskräftig ist. Da werden Mündlichkeit des Verfahrens und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wohl doch etwas hochstilisiert. Doch damit erschöpft sich Vismanns Medienkritik nicht. Selbst die bloße Dokumentation nach außen stört das Verfahren. Als Beleg zitiert Vismann dazu eine Untersuchung von Lanzara und Patriotto [4]Giovan Francesco Lanzara/Gerardo Patriotta, Technology and The Courtroom: An Inquiry into Knowledge Making in Organizations, Journal of Management Studies 38, 2001, 943–971 aus Italien. Und Vismann hat noch einen wichtigeren Punkt, der die inzwischen alte Problematik des Gerichtsfernsehens verblassen lässt. Der römische Zirkus aus dem Este-Verfahren ist mit den vielen Monitoren zurückgekehrt, die nunmehr alle Prozessbeteiligen vor sich haben und auf denen sie sich teilweise auch gegenseitig in Nahaufnahme beobachten können. Erst das Zusammenwirken der medienvermittelten Kommunikation im Prozess (»Verschaltung aller Prozessbeteiligten«, S. 369) und der medialen Vermittlung des Prozessgeschehens nach außen macht die Musik.
Es ist ein schöner Gag, wie Vismann – zunächst inkognito – ausführlich den Milosevic-Sympathisanten Peter Handke als Prozessbeobachter zitiert. Ihr Ergebnis ist eher überraschend. Das ICTY sei kein Gericht; dazu sei das theatrale Dispositiv zu schwach ausgeprägt, aber auch kein echtes Tribunal, weil ohne agonales Dispositiv, denn ein Kampf um die Wahrheit werde hier gerade nicht ausgefochten. »Mit den Richtern ist die Position des neutralen Dritten etabliert, der eine bereits vorliegende Wahrheit zutage fördert. Die medientechnischen Einrichtungen, Vorhänge aller Art, gehorchen der separierenden Logik des Gerichts als einer Macht, die entscheidet, weil sie unterscheidet.« (S. 354) Die »Streichung des agonalen Dispositivs« findet Vismann darin, dass die Vorwürfe gegen die Angeklagten wie Mord und Diebstahl als Verbrechen nach positivem Recht entpolitisiert und im Muster herkömmlicher Gerichtsverfahren verhandelt werden, und nicht als Übergang von einem Unrechtsregime zu einer neuen Rechtsordnung. Dass und warum es Milosevic (auch mit Hilfe seines Verteidigers Vergès) nicht gelang, das Verfahren tribunaltypisch zu einer politischen Anklage gegen die Veranstalter des Verfahrens oder Beteiligte des Balkankonflikts umzufunktionieren, wird nicht klar. [5]Dazu deutlicher der von Vismann nur für mangelndes Zuschauerinteresse zitierte Martti Koskenniemi, Between Impunity and Show Trials, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2 , 2002, 1-35. Dagegen könne das ICTY als Gerichtsverfahren nicht gelingen, weil ihm durch die Medien das »Ding« abhandengekommen sei. Hier wird wieder mit Worten gespielt. Aus Fernjustiz und Gerichtsfernsehen wird Fernsehjustiz und dann werden dem ICTY Charakteristika des Fernsehgerichts imputiert. Das Haager Gericht sei Ferngericht und Fernsehgericht. Es sei auf Fortsetzungen angelegt und gehorche so wie die populären Gerichtssendungen des Fernsehens dem Gesetz der Serie. Es habe damit die gerichtstypische Performanz (»Medialität«) verloren, denn »Serien enden nicht und sie haben, sie brauchen keine Lösung.« (S. 362). Die Bindung an die Fernsehserie erzeuge die »Gesamtheit des Erzählflusses und nicht eine einzelne Sendung«. [6]Vismann beruft sich dafür auf Nicole Labitzke (Ordnungsfiktionen. Das Tagesprogramm von RTL, Sat. 1 und ProSieben, 2009, dort S. 288. Das Argument überzeugt mich nicht. Was die Gerichtssendungen des Fernsehens betrifft, so hat jede einzelne Episode durchaus eine Lösung. Im Übrigen lässt sich die Internetöffentlichkeit des ICTY nicht mit dem kommerziellen Fernsehen vergleichen. Das kommerzielle Fernsehen wird für die Quote veranstaltet, die wiederum die Werbeeinnahmen generiert. Wer verfolgt denn überhaupt die Verhandlungen des ICTY im Netz? Vor allem aber ist die Netzöffentlichkeit des ICTY nicht auf eine Quote angelegt. Die Serialität ist nicht Absicht, sondern Folge der Langwierigkeit des Verfahrens. Deshalb bedarf die Annahme, dass der mediale Output auf das Verfahren rückwirkt, einer besonderen Begründung. Das schöne Wortspiel vom »denkbar dichtesten Zusammenschluss von Justizmedien und Medienjustiz in der Serie« (S. 367) ersetzt solche Begründung nicht. Aber richtig ist sicher, dass die technischen Medien nicht zuletzt wegen ihres Effizienzversprechens geschätzt und eingesetzt werden, und plausibel ist auch, dass die verfahrentstechnische Ökonomisierung zu einer Entformalisierung des Verfahrens führt. (S. 369) Die Frage ist allerdings, ob nicht um den Medieneinsatz herum ganz neue Rituale enstehen, die wir als solche bisher gar nicht wahrnehmen.
So fasst Vismann selbst am Ende (S. 374 f.) ihr Buch zusammen: »Die Geschichte der Medien der Rechtsprechung ist eine Geschichte der Informalisierung des Verfahrens. Wer Medien im Prozess zulässt, bringt die Justiz um ihre eigene Medialität. Technische Medien entziehen sich der theatralen Logik der Justiz und versetzen die Prozessbeteiligten an einen Ort, der alles andere als ein Schauplatz ist – inmitten von Kabeln und Monitoren. Sie diktieren das Verfahren, mit ihrem eigenen Takt, ihren eigenen Anforderungen und Öffentlichkeiten. Die Medien der Rechtsprechung prägen das 21. Jahrhundert, das nach Jacques Derrida ein Jahrhundert der Vergebung ist und das sich doch vor allem als ein Jahrhundert der Tribunale präsentiert.«
Das Buch ist in vielerlei Hinsicht bewundernswert. Bewundernswert ist der Umgang mit der Komplexität, mit der Fülle und Masse dessen, was andere bereits an einschlägigen Texten produziert haben. Man kann nicht mehr alles lesen, was zu den wichtigeren Stichworten des Buches geschrieben wurde und schon gar nicht mehr alles verarbeiten. Viele geben sich dennoch Mühe, möglichst viel zu schlucken und zu verdauen. Vismann dagegen blickt nicht links und blickt nicht rechts (jedenfalls tut sie so als ob). Sie macht gar nicht den Versuch, auch nur anzudeuten, was alles schon etwa über das Gericht als Theater, über Verfahrensgerechtigkeit, über Tribunalisierung, über Bilder im Recht, über den Gerichtsfilm, über den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, über Court TV, über Anwalts- und Gerichtsserien im Fernsehen oder über den Medieneinsatz im Gerichtsverfahren geschrieben wurde. Souverän zieht sie ihr Ding durch. Ihre Grundthese, dass Gerichtverfahren durch die publikumsorientierten Medien zunehmend vom Theater zum Tribunal würden, scheint mir plausibel und relevant zu sein. Aber sie wird doch nur essayistisch belegt und ausgeführt. Und für die von vornherein von der großen Politik mit Tribunal-Auftrag versehenen Verfahren ist die These beinahe trivial. Triftig wird sie mit der Frage, wieweit die Tribunalisierung auch in das »normale« Gerichtsverfahren hineinreicht. Auch hier begegnen immer wieder Tribunale in dem von Vismann beschriebenen Sinne, zuletzt etwa das Kachelmann-Verfahren. Diese Frage bleibt offen. Aber das ist immer so bei anregenden Büchern, dass man am Ende noch mehr wissen möchte.

Nachtrag: Eine ausführliches Echo auf meine Vismann-Rezension gibt Dieter Simon, Die Leser der Cornelia Vismann.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Susanne Karstedt, Die doppelte Vergangenheitsbewältigung der Deutschen, Zeitschrift für Rechtssoziologie 17, 1996, 58-104, 68.
2 Susan Sontag, Über Fotografie [Original 1977], 12. Aufl. 2000, S. 22.
3 Über die Rolle des Videofilms bei Legrande/Lortie vgl. : http://www.nachdemfilm.de/content/zum-status-der-videoaufzeichnung-pierre-legendres.
4 Giovan Francesco Lanzara/Gerardo Patriotta, Technology and The Courtroom: An Inquiry into Knowledge Making in Organizations, Journal of Management Studies 38, 2001, 943–971
5 Dazu deutlicher der von Vismann nur für mangelndes Zuschauerinteresse zitierte Martti Koskenniemi, Between Impunity and Show Trials, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2 , 2002, 1-35.
6 Vismann beruft sich dafür auf Nicole Labitzke (Ordnungsfiktionen. Das Tagesprogramm von RTL, Sat. 1 und ProSieben, 2009, dort S. 288.

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Ein starkes Stück Kulturwissenschaft: Cornelia Vismanns Tribunalisierungsthese

Dieser Eintrag setzt die am 14. 11. begonnene Besprechung des Buches »Medien der Rechtsprechung« von Cornelia Vismann fort.
S. 97 beginnt der Hauptteil des Buches mit den Sätzen: »Die Techniken des Rechtsprechens folgen rechtlichen Vorgaben. In Prozessordnungen ist die Abfolge des Verfahrens vorgeschrieben. Was darin nicht gesagt wird, betrifft die Medien der Rechtsprechung. Zwar gibt es Bestimmungen und sogar Debatten über die Zulässigkeit einzelner Medien.« Nun erwarte ich ein aber, das erklärt, wieso die Medien der Rechtsprechung nicht geregelt sind. Ich finde es nicht.
Die kurzen Kapitel über »Akten« und »Die Stimme vor Gericht« (Schriftlichkeit und Mündlichkeit) paraphrasieren Bekanntes. Das gilt auch für das Kapitel »Öffentlichkeit« (die ja als solche wohl kein Medium ist). Hier findet sich jedoch der wichtige Abschnitt, in dem die Unterscheidung zwischen »Gericht« und »Tribunal« erläutert wird (S. 146-183), den »beiden antagonistischen Großformen der Rechtsprechung«, die sich im alten Rom formiert haben (S. 149).
Vismann zeigt hier Gespür für die Aktualität des Themas. Fast gleichzeitig mit ihrem Buch sind zwei Sammelbände erschienen, die das Tribunal im Titel tragen, die sie aber natürlich noch nicht kennen konnte. [1]Heinz-Dieter Assmann u. a. (Hg.), Szene & Tribunal – Orte der »Wertschöpfung«?, 2011; Georg Wamhof (Hg.), Das Gericht als Tribunal, oder, Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, … Continue reading Ganz allgemein versteht man unter Tribunalisierung heute wohl die öffentliche Erörterung individueller Schuld, die aber nicht unbedingt juristische Formen annehmen muss. [2]So war in einem Zeitungsartikel von der »Tribunalisierung der eher harmlosen Eva Herman wegen ihrer familienpolitischen Ansichten« die Rede. Dagegen unterscheidet Habermas in einem oft zitierten Artikel von 1992 [3]Jürgen Habermas, Bemerkungen zu einer verworrenen Diskussion. Was bedeutet »Aufarbeitung der Vergangenheit« heute?, Die Zeit vom 3 April 1992, S. 82–85. Der maßgebliche Absatz lautet: … Continue reading Personalisierung und (rechtsförmige) Tribunalisierung. Wenn man nach »Tribunalisierung« gugelt, ist der erste Treffer jedoch ein Vortrag von Odo Marquard über »Tribunalisierung der Lebenswirklichkeit« von 1993, der dem Zeitgeist »Tribunalsucht« attestiert, die »Menschen die Menschen« anklagen lässt »wegen der Übel in der Welt, zu denen es durch ihre kulturschöpferischen Übeltaten komme«. Der Jurist versteht »unter einem Tribunal ein inszeniertes Gericht: etwas, das sich vom klassischen geordneten Gerichtsverfahren unterscheidet und mehr dem Theater ähnelt, etwas, was in Richtung Schauprozess geht.« [4]Heinz-Dieter Assmann, Die Tribunalisierung des Weltverständnisses, in: ders. u. a. (Hg.), Szene & Tribunal – Orte der »Wertschöpfung«?, 2011, S. 11-22, 12.
Vismann stützt sich für die Anbindung des Tribunals an das alte Rom auf die Seiten 359-363 aus Mommsens Römischem Strafrecht [5]Im Internet verfügbar unter http://www.archive.org/details/rmischesstrafre00mommgoog.. Bei Mommsen kann man lesen, dass bis in die Kaiserzeit die öffentliche Verhandlung wohl die Regel, dass aber die Verhandlung im geschlossenen Raum zu allen Zeiten häufig gewesen sei (S. 359); ferner, dass die eigentliche Gerichtsstätte ursprünglich »der grosse Markt war und späterhin, als dieser nicht ausreichte, die Kaiserforen und die jedermann zugänglichen Markt- und Gerichtshallen (Basiliken). »Auf diesen Märkten oder in diesen Hallen wurden die Tribunale aufgeschlagen, erhöhte Estraden, auf welchen für den rechtsprechenden Imperienträger der Sessel aufgestellt ward, wo aber auch seine Berather und andere Beisitzer so wie das Hülfspersonal Platz fanden.« Für Parteien, Zeugen und Zuschauer gab es Bänke zu ebener Erde. Weiter bei Mommsen S. 362 f.: »Die nicht öffentliche Rechtsprechung findet, wenn vom Senat abgesehen wird, regelmässig statt im Hause oder in dem Amtslocal des Beamten. Der Saal, in welchem derselbe den Parteien Gehör giebt, heisst auditorium, späterhin secretarium, weil er durch einen Vorhang abgeschlossen ist und der freie Eintritt in denselben nur den Officialen und bestimmten Rangpersonen zusteht; in der Spätzeit darf die Urtheilsfällung nur in diesem Saal … stattfinden. Es kann indess auch in diesem Amtslocal durch Oeffnung des Vorhangs und Zulassung des Publikums öffentlich Gericht gehalten werden und diese Form der Oeffentlichkeit hat am Ende der Kaiserzeit die Rechtsprechung vom Tribunal verdrängt.« Der Unterschied besteht also darin, dass ein Gericht eigentlich gar nicht auf Publikum angewiesen ist (also doch kein Theater?) oder sich mit der Saalöffentlichkeit zufrieden gibt, während ein Tribunal auf unbegrenzte Öffentlichkeit angelegt ist. Später kommt noch hinzu, dass die Gerichte sich in Gebäude zurückziehen, die nur ihren Zwecken dienen. Das Tribunal kann an jedem Ort abgehalten werden. (S. 149).
Aber es geht nicht bloß um die Frage einer kleineren oder größeren Öffentlichkeit. Tribunale sind eminent politisch und haben jedenfalls die Tendenz zu einem bloßen Schauprozess, in dem der Veranstalter ein vorab feststehendes Ergebnis durchsetzt. »Die Ankläger in einem Tribunal setzen ihre Wahrheit durch, zumindest versuchen sie es. Ihre Position ist mit der des Richters deckungsgleich, und darin wird allgemein das Kennzeichen gesehen, das ein Tribunal ausmacht.« (S. 160). [6]Dazu beruft sich Vismann auf Koskenniemi (Between Impunity and Show Trials, in: Max Planck Yearbook of United Nation Law 6, 202, 1-35, 18.) Ich lese die Belegstelle etwas anders. Koskenniemi weist … Continue reading Aber in einem Tribunal kann der Ankläger auch zum Angeklagten werden. So kann auch das Gerichtsverfahren in dem Sinne tribunalisiert werden, dass die Justiz selbst zum Angeklagten wird. Das zeigt Vismann am Beispiel des französischen Anwalts Jacques Vergès (S. 181 ff.).
»Tribunale sind Ad-Hoc-Veranstaltungen.« Sie folgen keinem vorab geregelten Verfahren und sie ignorieren den Grundsatz nulla poena sine lege. Ihnen fehlt im Vergleich zum Gerichtsverfahren »die Neutralität des Richters (1), die unvoreingenommene Entscheidung nach Anhörung der Parteien und in Gemäßheit einer bestimmten Wahrheitsnorm (2) sowie die Verbindlichkeit der richterlichen Entscheidung (3)« (S. 165). Vismann denkt dabei auf die Gegenwart bezogen an so »verschiedene Dinge wie Russel-Tribunale, stalinistische Schauprozesse und internationale Verfahren« (S. 149), aber durchaus auch an den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess oder an die justizielle Aufarbeitung der Vergangenheit in den so genannten Transformationsländern.
Viele werden die von S. 164-180 eingeschobene Reflexion über den Tisch goutieren, aus dem sie mit Hilfe Foucaults das Dispositiv des Gerichtsverfahrens ableitet. Für mich ist das ein Fall von kulturwissenschaftlichem Fetischismus. Ich begnüge mich daher mit einem Zitat »Der Tisch trifft die fundamentale Unterscheidung in das Personal des Gerichts und die Personen vor Gericht.« (S. 164) und wundere mich, wie aus dem Rechteck des Tisches eine »trianguläre Aufteilung« wird.
Gericht und Tribunal, wie sie von Vismann charakterisiert werden, lassen sich als Idealtypen im Weberschen Sinne einordnen. Dann ist »das Tribunal im Gericht latent vorhanden … Umgekehrt ist kein Tribunal in seiner Reinform zu haben« (S. 183).
Wie wird aus der Unterscheidung von Gericht und Tribunal eine medientheoretische These? »Die technischen Medien beerben hier die Versammlung im Freien. Fernsehzuschauer übernehmen die Rolle der Umstehenden. Sie sind das Medium, das einem Tribunalanspruch seine Geltungskraft jenseits aller Rechtsmacht verleiht. So kommt es, dass Tribunale sämtliche sich bietenden Medien begierig zur Amplifizierung ihres Wirkungsradius‘ ergreifen, während die ordentliche Gerichtsbarkeit bei jedem neu aufkommenden Medium jeweils erneut die Frage der Zulässigkeit erörtert …« (S. 151). »Nur die technischen Medien werden in einem Gericht zugelassen, die sich nach Art des Vorhangs der römischen Antike bedienen lassen und die Öffentlichkeit nach Belieben ein- und ausschalten.« (S. 152) Die Bildmedien, so die unausgesprochene, aber in den folgenden Kapiteln illustrierte These, drängen das Justizverfahren tendenziell in die Richtung des Tribunals. Das ist eine handfeste und plausible Aussage. In einem späteren Eintrag werde ich darüber berichten, wie sie gestützt wird. In dem Buch folgt zunächst ein Kapitel über das »Cine-Gericht«, dessen erste Abschnitte für die Tribunalisierungsthese nicht relevant sind. Darüber schreibe ich in den nächsten Tagen einen Eintrag in »Recht anschaulich«, wo schon mehrfach von »Recht im Film« die Rede war.

Nachtrag: Eine ausführliches Echo auf meine Vismann-Rezension gibt Dieter Simon, Die Leser der Cornelia Vismann.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Heinz-Dieter Assmann u. a. (Hg.), Szene & Tribunal – Orte der »Wertschöpfung«?, 2011; Georg Wamhof (Hg.), Das Gericht als Tribunal, oder, Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, 2009. In diesem spielt der Begriff des Tribunals allerdings keine Rolle. Ich habe ihn nur einmal beiläufig auf S. 70 gefunden. Immerhin geht es auch in diesem Band um den performativen Charakter der Gerichtskultur, um den Gerichtssaal als Kommunikationsraum und um die beteiligten Medien.
2 So war in einem Zeitungsartikel von der »Tribunalisierung der eher harmlosen Eva Herman wegen ihrer familienpolitischen Ansichten« die Rede.
3 Jürgen Habermas, Bemerkungen zu einer verworrenen Diskussion. Was bedeutet »Aufarbeitung der Vergangenheit« heute?, Die Zeit vom 3 April 1992, S. 82–85. Der maßgebliche Absatz lautet: »Personalisierung und Tribunalisierung lassen den Fokus von öffentlichen Selbstverständigungsdebatten unscharf werden. Beides signalisiert eine Überlastung mit Fragen, die der privaten Rechenschaft oder dem juristischen Urteil vorbehalten bleiben sollten. Damit die ethisch politische Aufarbeitung der Vergangenheit eine mentalitätsbildende Kraft erlangen und für eine freiheitliche politische Kultur Anstöße geben kann, muß sie allerdings durch juristische Verfahren und die Unterstellung einer gewissen Bereitschaft zur existentiellen Selbstprüfung ergänzt werden. So ist die Aufarbeitung der Vergangenheit ein mehrdimensionales und arbeitsteiliges Unternehmen.«
4 Heinz-Dieter Assmann, Die Tribunalisierung des Weltverständnisses, in: ders. u. a. (Hg.), Szene & Tribunal – Orte der »Wertschöpfung«?, 2011, S. 11-22, 12.
5 Im Internet verfügbar unter http://www.archive.org/details/rmischesstrafre00mommgoog.
6 Dazu beruft sich Vismann auf Koskenniemi (Between Impunity and Show Trials, in: Max Planck Yearbook of United Nation Law 6, 202, 1-35, 18.) Ich lese die Belegstelle etwas anders. Koskenniemi weist darauf hin, dass das International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) zwar von politischen Absichten des Westens getragen sei, betont aber den Unterschied zu den stalinistischen Schauprozessen und auch zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, denn Milosevic habe hier die Gelegenheit erhalten und wahrgenommen, seinerseits den Westen anzuklagen.

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Ein starkes Stück Kulturwissenschaft: Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung

Von vielen erwartet ist in diesem Jahr postum Cornelia Vismanns Buch über die »Medien der Rechtsprechung« veröffentlicht worden. [1]Herausgegeben von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 456 S., 22,95 EUR. Jetzt habe ich es endlich gelesen. Wer nach einer Würdigung sucht, die der Autorin und ihrem Text gerecht wird, sei auf das Vorwort der Herausgeber, auf einen Nachruf von Fabian Steinhauer [2]Beobachterin zweiter Ordnung, Ancilla Juris 2010, 43-46. und auf die Rezensionen von Susanne Baer in der TAZ vom 16. 6. 2011, von Andreas Bernard in der Süddeutschen Zeitung vom 27. 6. 2011 und von Winfried Hassemer, Das große Theater des Rechts, FAZ vom 8. 11. 2011 S. L38 (anscheinend nicht im Netz) verwiesen. Ich lese das Buch als schnöder Konsument, immer auf der Suche nach nützlichen Brocken, die ich als Legal McLuhanite für die Rechtssoziologie oder als Jurist für »Recht anschaulich« verwenden kann. Wenn meine Lesefrüchte oft kritisch konnotiert sind, so liegt das an dem kulturwissenschaftlichen Gestus des Buches. Allein die Tatsache, dass ich mich so ausführlich mit dem Buch befasst habe, sollte meine Wertschätzung beweisen.
Die Grundthese des Buches geht davon aus, dass »Gericht« zwei Grundmodalitäten (»Dispositive« [3]Gerhard Struck (»Recht als Tohuwabohu und als Menschheitstraum – Oder: Gibt es einen Begriff des Rechts?«, Ancilla Juris 2009, 99-117; S. 108) zitiert ausführlich die Definition des Dispositivs … Continue reading ) miteinander verbindet, nämlich seine Rahmung als Theater und seinen Ablauf als Kampf, und sie besagt, dass die Dispositive unterschiedliche Medien anziehen und andere ausschließen (S. 17). Im weiteren Verlauf wird aus dem Kampf das Tribunal. Der Kampf braucht die Öffentlichkeit und deshalb zieht er die modernen Massenmedien an.
Nachdem auf den ersten 80 Seiten »Theater« und »Kampf« als »Dispositive« für das Gerichtsverfahren vorgestellt worden sind, folgen sieben Kapitel mit fast 300 Seiten über einzelne Medien. Nämlich I: Akten, II. Die Stimme vor Gericht, III. Öffentlichkeit, IV. Fotografien im Gericht, V. Cine-Gericht, VI. Fernsehen und VII. Fern-Justiz/Remote Judging.
Gleich das erste Kapitel nutzt die wichtigsten kulturwissenschaftlichen Zutaten: Etymologische Ableitungen, lösliche Paradoxien, schöne Literatur statt schnöder Empirie, französische Kronzeugen, Fetischismus und eine Prise Psychoanalyse. Später werden allerhand Wortspiele nachgereicht. [4]Hier eine kleine Auswahl: S. 222 ff., 242 ff.: »Courtroom Drama« ist einmal das Genre fiktiver Darstellungen von Gerichtsszenen, dann aber auch das Gerichtsverfahren selbst und seine filmische … Continue reading
Das »theatrale Dispositiv«, das zunächst ausgemalt wird, hat nicht eigentlich etwas mit dem Theater zu tun, sondern mit Legendre, und erschöpft sich in dem verfahrensmäßigen »Nachspielen« des Prozessthemas. Die »performative, ›dinghegende‹ Seite des Gerichts« scheint dem zu entsprechen, was gewöhnlich unter Verfahrensgerechtigkeit thematisiert. Luhmann gehöre zu den wenigen, die diesen Aspekt des Gerichtsverfahrens betont hätten (S. 22). Dem kulturwissenschaftlichen Tunnelblick fallen die Heerscharen der Amerikaner und der Epigonen zum Opfer, die sich mit procedural justice befasst haben. Das ist umso bedauerlicher, als die spezifische Performanz des auf Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in einer gewissen Abgeschlossenheit stattfindenden Gerichtsverfahrens das zentrale Thema des Buches bildet. Jedenfalls: »Im Nachspielen oder Verhandeln wird das Ding zur Sache.« (S. 34) Und weiter S. 37: »Das Nachspielen verspricht demnach die fundamentale Befriedung des Dings.« Ist das nicht wunderbar tiefsinnig?
Vismann stützt ihre Thesen durch eine Interpretation von Kleists zerbrochenem Krug. Das ist funkelndes Feuilleton, wie Kleist, Sophokles, Aischylos und Dante, wie der Dorfrichter mit seinem Namensvetter aus der Schöpfungsgeschichte und mit König Ödipus, wie der Zerbrochene Krug mit der Klepsydra und später noch (S. 89) mit Klytaimnestras Gebärmutter assoziiert werden und wie wir schließlich mit Hilfe von Legendre erfahren, dass es sich um eine Interdiktion handelt, wenn Marthe Rull zuerst vom Richter Adam und dann auch noch vom Gerichtsrat Walther aufgefordert wird, »zur Sache« zu sprechen. Da fällt es schon nicht mehr ins Gewicht, wenn Ödipus (Orest tritt erst S. 90 auf) zum »Mutter-Mörder der griechischen Tragödie« wird (S. 65). Immerhin war er ja mittelbarer Täter bei deren Selbstmord. »Die radikale Kappung jedes Außen, die Umwandlung von Ding in Sache und das Erfordernis der Rede zur Sache (Interdiktion) sind danach die drei elementaren Operationsbedingungen der Justiz im theatralen Dispositiv.« (S. 56). Alles klar.
Das Justiztheater endet mit einem Urteil und damit endet auch die Beschreibbarkeit des Gerichts als Theater (S. 72). Zum Urteil muss ein Richter her. Das Gerichtstheater ist auch ein Kampf. Potentiell sind alle Zuschauer Entscheider. »Sobald Agierende von Zuschauenden unterscheidbar sind, ist die Position des Entscheidens eingeführt.« (S. 75) Vielleicht. Weiter S. 79: »Die amphitheatrale Sitzordnung ermächtigt die Zuschauer zum Entscheiden. Wer hat am besten gespielt, wer schrieb das beste Stück?« Und S. 80: »Die Amphitheater in Athen … öffneten sich auf das Meer … Diese Öffnung auf die Umwelt unterscheidet das agonale Dispositiv von der theatralen Entscheidungssituation, die in einer Kammer stattfindet, die gar nicht geschlossen genug sein kann.« Das verstehe ich nicht. Ist das Theater nicht auf Zuschauer angewiesen? Deshalb will ich einfach das Ergebnis zitieren: »Das agonale Dispositiv ist mithin durch drei Kennzeichen vom theatralen unterschieden: Zum einen durch den binären Entscheidungsmodus, der allen Wettkämpfen eigen ist (es geht um … Obsiegen oder Unterliegen), zum zweiten durch die konstitutive Funktion der Zuschauer für die Entscheidungsfindung und schließlich durch das Amphitheatralische, dass Offene der Entscheidungssituation …« (S. 81).
Bevor es nun an die Medien der Rechtsprechung geht, führt noch ein Umweg durch Literatur, nämlich durch »Die Eumeniden« des Aischylos. Ich muss gestehen, dass ich nicht verstanden habe, was die Autorin mit der Vorstellung dieses Stückes erreichen will. »Aischylos‘ letztes Drama führt das Theaterelement der Analysis mit dem Gerichtselement der Tatnacherzählung zusammen.« (S. 87) Die Verwandlung der Erinnyen zu Eumeniden, der Rachegöttinnen zu Wohlmeinenden wird als »Stunde Null des Rechts« gedeutet. (S. 92) Zugleich soll das Drama als »Gründungsstück des Vaterrechts« [5]Zur Orestie als Gründungsmythos des Rechts vgl. den Eintrag vom 3. Nov. 2009.verstanden werden, freilich mit der schäbigen Begründung, die Mutter sei »nur des frisch gesäten Keimes Nährerin«. (S. 88) Davor, dazwischen und danach steht noch allerhand (für mich) Dunkles. (Fortsetzung folgt)

Nachtrag: Eine ausführliches Echo auf meine Vismann-Rezension gibt Dieter Simon, Die Leser der Cornelia Vismann.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Herausgegeben von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 456 S., 22,95 EUR.
2 Beobachterin zweiter Ordnung, Ancilla Juris 2010, 43-46.
3 Gerhard Struck (»Recht als Tohuwabohu und als Menschheitstraum – Oder: Gibt es einen Begriff des Rechts?«, Ancilla Juris 2009, 99-117; S. 108) zitiert ausführlich die Definition des Dispositivs bei Foucault, Dispositive der Macht, und kommentiert sie mit erfreulicher Distanz. In der Tat, mit diesem Unbegriff lässt sich nichts anfangen, es sei denn, man lässt sich von Foucault bloß anregen und definiert das »Dispositiv« für eigene Zwecke neu. In diesem Sinne habe ich – mehr aus Versehen als mit Absicht – einmal vom »kognitiven Dispositiv der Schrift« gesprochen (Bilder in gedruckten Rechtsbüchern, 2005, S. 272). Gemeint war damit die Schrift als eine Möglichkeitsbedingung für eine gerichtete Entwicklung des Rechts.[ http://www.ruhr-uni-bochum.de/rsozlog/daten/pdf/Roehl-Bilder%20in%20gedruckten%20Rechtsbuechern.pdf]
4 Hier eine kleine Auswahl:
S. 222 ff., 242 ff.: »Courtroom Drama« ist einmal das Genre fiktiver Darstellungen von Gerichtsszenen, dann aber auch das Gerichtsverfahren selbst und seine filmische Dokumentation.
S. 337: Aus courtroom wird Gerichtsraum (als Gegensatz zu einem geräumigen Gerichtssaal).
S. 356: »Transitional Justice ist … eine Justiz im Übergang und eine übergangsweise Gerechtigkeit«
S. 333 f.: Fern-Justiz« ist nicht bloß medienvermittelte Justiz, sondern Justiz fern des Tatorts.
S. 369: Als »Naturalparteien« werden eigentlich nur natürliche im Gegensatz zu juristischen Personen bezeichnet. Dieser Gegensatz ist Vismann selbstverständlich geläufig. Daher ist die »Naturalpartei« hier doppelsinnig gemeint als (natürliche) Person, die leibhaftig vor Gericht erscheint.
5 Zur Orestie als Gründungsmythos des Rechts vgl. den Eintrag vom 3. Nov. 2009.

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