Begriffssoziologie I: Fragmentierung

In mancher Hinsicht erinnert die Systemtheorie Luhmanns und der Teubner-Schule an die alte Begriffsjurisprudenz. Sie baut sich ein Netz von Begriffen, die aufeinander abgestimmt sind und mit dem »System« an der Spitze eine Pyramide bilden. Die Pyramide ist eindrucksvoll und sie scheint standfest zu sein. Doch angesichts der Größe des Bauwerks und der vielen Baumeister kann es nicht ausbleiben, dass man gelegentlich auf Bausteine trifft, die nicht in das System zu passen scheinen, so der Begriff der Fragmentierung. In letzter Zeit bin ich im Feuilleton häufiger auf diesen Begriff gestoßen. Da steht er dann ohne rechte Abgrenzung neben Differenzierung und Pluralisierung. Fragmentierung ist aber auch zum Terminus der Systemtheorie geworden, insbesondere in den Arbeiten von Teubner und Fischer-Lescano zur Globalisierung des Rechts. Sein Stellenwert ist mir noch nicht ganz klar geworden. Auskunft ist aus ihrem gemeinsamen Buch von 2006 zu erwarten, das den Ausdruck schon im Titel trägt. [1]Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt a.M. 2006. Zwar kommt »Fragmentierung« im Stichwortregister des Buches gar nicht vor. Aber im Text wird der Begriff laufend verwendet.
Auf den ersten Blick ist Fragmentierung ein deskriptiver oder Beobachtungsbegriff. Er bezeichnet etwas Unzusammenhängendes oder gar Auseinandergefallenes. Auch als deskriptiven Begriff kann man ihn nicht ohne ein theoretisches Vorverständnis verwenden. Man braucht also eine Vorstellung, was denn eigentlich der Zusammenhang oder das Ganze sein könnte. Das gilt zwar für alle deskriptiven Begriffe. Aber oft ist dieses Vorverständnis so selbstverständlich, dass es nicht explizit gemacht zu werden braucht. In diesem Sinne ist deskriptiv von der Fragmentierung des Völkerrechts die Rede. Gemeint ist, dass das Völkerrecht sich in einer Vielzahl von unzusammenhängenden Bruchstücken erschöpft. Im Hinterkopf hat man dabei die Vorstellung, das Völkerrecht könnte nach dem Muster des staatlichen Rechts ein flächendeckendes System bilden.
An die deskriptive Begriffsverwendung der Völkerrechtler knüpfen Fischer-Lescano und Teubner an, wenn sie die »Fragmentierung des globalen Rechts« behandeln. Abgelesen wird sie an der »beeindruckenden Zahl von 125 internationalen Institutionen, in denen unabhängige Spruchkörper verfahrensabschließende Rechtsentscheidungen treffen«. [2]2006, 8. Im Titel der Kurzfassung ihrer Arbeit [3]Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und … Continue reading wird auch das Gegenstück der Fragmentierung genannt, nämlich die »etatistische Rechtseinheit«. Fischer-Lescano und Teubner wollen aber sicher keine bloße Deskription anbieten, sondern eine elaborierte theoretische Analyse von eigenen und fremden Beobachtungen.

»Besonders systemtheoretische Konzepte einer funktional differenzierten Weltgesellschaft … [profilieren] das Verständnis einer polyzentrischen Globalisierung, das die Rechtsfragmentierung in einem neuen Licht erscheinen lässt.« [4]2006, 25.

Ihre These lautet:

»Die Rechtsfragmentierung ist nur ein Epiphänomen der tiefergehenden vieldimensionalen Fragmentierung der Weltgesellschaft selbst.« [5]2006, 24.

Die Fragmentierung des Rechts wird also auf die Fragmentierung der Weltgesellschaft zurückgeführt. Das wäre einleuchtend, wenn die Fragmentierung der Weltgesellschaft ebenso beobachtend beschrieben würde wie die Fragmentierung des Rechts. Das ist aber nicht der Fall:

»Die Fragmentierung der Weltgesellschaft« ist eine doppelte, nämlich »in funktional differenzierte globale Sektoren und in eine Vielzahl globaler Kulturen.« [6]2001, 6.

Der »kulturelle Polyzentrismus« der Regionalkulturen passt nicht recht in das Begriffsgerüst der Systemtheorie. Kulturelle Vielfalt wird in der Regel nicht als Fragmentierung, sondern als pluralistisch apostrophiert. Etwas ausführlicher erläutert Teubner sein Fragmentierungskonzept im Zusammenhang mit der Gerechtigkeitsdiskussion: [7]Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29, 2008, 9-36, S. 12. Von Durkheim über Weber, Adorno und Wittgenstein bis hin zu Foucault und Lyotard ist soziologische Analyse immer Analyse von gesellschaftlicher Fragmentierung, wenn irgendwelche schwer vereinbaren oder gar konfliktträchtigen Gegensätze thematisiert werden. Dabei erhält das Phänomen als »Polykontexturalität« noch einen anderen Namen. Damit wird »Fragmentierung« zur kritischen Version sozialer Differenzierung. Zurück zur doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft. Sieht man genauer hin, entspricht der zweiten Fragmentierung in unterschiedliche Regionalkulturen auch eine zusätzliche Fragmentierung des Weltrechts, nämlich diejenige »zwischen dem formalen Recht der Moderne und den gesellschaftlich eingebetteten Rechtsordnungen indigener Gesellschaften«. [8]Gunther Teubner/Korth, Peter, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative … Continue reading
Auf die Systemtheorie verweist die Rede von den funktional differenzierten globalen Sektoren, denn mit diesen Sektoren sind die Funktionssysteme der Weltgesellschaft gemeint. Solche Funktionssysteme lassen sich aber nicht einfach beobachten wie reale Gegenstände – und ein realer Gegenstand ist auch das Recht in seiner Fragmentierung.
Systemtheoretische Texte zeigen oft eine gewisse Zwittrigkeit, weil aus den Formulierungen nicht immer klar wird, ob mit dem »System« ein realer Gegenstand gemeint ist oder ob das »System« nur ein Modell oder eine Abstraktion bildet. Eigentlich kann nur das letztere der Fall sein. Andernfalls müsste man jeden realen Gegenstand exklusiv einem bestimmten System zuordnen können. Das funktioniert selbst dann nicht, wenn man nur Kommunikationen als reale Gegenstände zulässt. Ihre Zuordnung erfolgt über den Sinn, und der ist oft mehrdeutig. Vielleicht werden indigene Systemtheoretiker diese Alternative zurückweisen. Aber damit irritieren sie ihre Umwelt, so wie Teubner und Fischer-Lescano mich irritiert haben, indem sie in Bezug auf soziale Systeme in gleicher Weise von Fragmentierung reden wie im Hinblick auf konkrete Rechtsphänomene.
Was da fragmentiert ist, kann nicht das Rechtssystem als solches sein, denn das ist per definitionem, nämlich durch die Ausrichtung auf seinen einzigartigen binären Code, ein und dasselbe. Eine Fragmentierung kann nur die Strukturen des Systems betreffen. Sie lässt sich vielleicht an den Organisationen ablesen, die sich innerhalb des Rechtssystems zum Vollzug seiner Operationen und zur Implementation seines Funktionsprimats bilden. [9]Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 841. Organisationen des Rechtssystems sind vor allem die Gerichte. Organisationen sind ihrerseits Systeme. [10]Ebenda 826 ff. Auch was diese Subsysteme betrifft, changieren systemtheoretische Texte hinsichtlich der Frage, ob die Organisation als »Typus sozialer Systeme« [11]Ebenda S. 826. gemeint ist, oder ob es um konkrete Organisationen geht. Auf der Ebene der Subsysteme ist die begriffliche Unschärfe allerdings seltener schädlich, weil meistens die Art der gemeinten Organisationen soweit spezifiziert wird, dass der theoretische Begriff sich ohne weitere Operationalisierung als Beobachtungsbegriff eignet.
Auf Weltebene wird für Fischer-Lescano und Teubner die Systemdifferenzierung zur Erscheinungsform der Fragmentierung. Fragmentiert ist die Weltgesellschaft allein schon deshalb, weil sie in sich die bekannten Funktionssysteme ausbildet. Eigentlich war es bisher nicht üblich, die Gliederung der Gesellschaft in Funktionssysteme als Fragmentierung zu bezeichnen. Gebräuchlich war stattdessen der Begriff der Differenzierung. Die Erinnerung an die Begriffsjurisprudenz legt die Frage nahe, ob wir es hier mit dem sogenannten Inversionsverfahren [12]Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 71. zu tun haben. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, denn mit der Auswechslung der Begriffe ändern sich ohne Ankündigung auch die Inhalte. Die geschlossenen Funktionssysteme der Weltgesellschaft zeichnen sich nämlich durch Eigenrationalitätsmaximierung und Expansionsdrang aus.

»Durch ihre operative Schließung erzeugen die globalen Funktionssysteme eigene Freiheitsgrade für eine extreme Steigerung ihrer je eigenen Rationalität, die sie ohne Rücksicht auf ihre natürlichen und humanen Umwelten ausschöpfen. Sie tun dies, so lange es geht, also so lange ihre Umwelten dies noch tolerieren.« [13]2006, 27.

Es wird also unterstellt, dass die Funktionssysteme notwendig expansiv und damit aggressiv sind. Der Expansionsdrang der Systeme ist die Ursache aller Fragmentierung.

»… die fragmentierten operativ geschlossenen Funktionssysteme der Weltgesellschaft [setzen] in ihrem Expansionsdrang die eigentlichen Ursachen für die Probleme der Weltgesellschaft und sie bedienen sich zugleich des Weltrechts zur normativen Absicherung ihrer hochgezüchteten Bereichslogiken. Die Rechtsfragmentierung resultiert also letztlich aus der Eigenrationalitätsmaximierung unterschiedlicher Sozialsysteme.« [14]2006, 28 f.

Das ist aber alles andere als selbstverständlich. [15]Die Autoren berufen sich (S. 28 Fn. 15) dafür auf Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 1088 ff. Die Fundstelle ist aber nicht ergiebig. S. 802 redet Luhmann von den Folgeproblemen der … Continue reading Selbstverständlich ist weder, dass Eigenrationalitätsmaximierung mit Expansionsdrang einhergeht. Noch ist selbstverständlich, dass alle Funktionssysteme Expansionsdrang zeigen. Die eigentlich interessante Frage, welche Funktionssysteme gerade expandieren und welche vielleicht auf dem Rückzug sind, wird damit ausgespart. Die Antwort müsste aus Beobachtungen realer Gegenstände abgeleitet werden. Tatsächlich werden aber umgekehrt aus postulierten Eigenschaften der Systeme (Eigenrationalitätsmaximierung + Expansionsdrang = Fragmentierung) reale Konsequenzen abgeleitet, nämlich die unvermeidliche Fragmentierung des Rechts. Das darf man wohl Begriffssoziologie nennen.

Nachtrag Mai 2011: In seiner Eröffnungsrede zum DGS-Kongress 2010 in Frankfurt a. M. findet Soeffner »eine ganze Reihe gegenwärtig beliebter Begriffsschimären« und meint, in Anlehnung an Mephisto ließe sich sagen: »Es glaubt der Mensch, wenn er Begriffe hört, es müsse sich die Welt nach dem Begriffe richten.« [16]Hans-Georg Soeffner, Die Zukunft der Soziologie, 35. Kongresses der DGS in Frankfurt am Main am 11. Oktober 2010, Soziologie 40, 2011, 137-150, S. 144. Auf der nächsten Seite folgt die schöne Formulierung vom »Begriffsprekariat, in dem wir uns bewegen«. Soeffners Beispiele sind allerdings andere als die Begrifflichkeiten der Systemtheorie.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt a.M. 2006.
2 2006, 8.
3 Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, Wiesbaden 2007, 37-61, hier zitiert nach der Internetfassung.
4 2006, 25.
5 2006, 24.
6 2001, 6.
7 Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29, 2008, 9-36, S. 12.
8 Gunther Teubner/Korth, Peter, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, Baden-Baden 2009, S. 137-168.
9 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 841.
10 Ebenda 826 ff.
11 Ebenda S. 826.
12 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 71.
13 2006, 27.
14 2006, 28 f.
15 Die Autoren berufen sich (S. 28 Fn. 15) dafür auf Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 1088 ff. Die Fundstelle ist aber nicht ergiebig. S. 802 redet Luhmann von den Folgeproblemen der funktionalen Differenzierung. Die sind in der Tat erheblich, begründen aber keinen Expansionsdrang.
16 Hans-Georg Soeffner, Die Zukunft der Soziologie, 35. Kongresses der DGS in Frankfurt am Main am 11. Oktober 2010, Soziologie 40, 2011, 137-150, S. 144.

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