Analogie, Casus und Regula

Wenn der eingangs zitierte Levi und viele andere das Fallrecht des Common Law als institutionalisierte Analogiebildung erklären, so rufen sie damit die alte Frage nach dem Verhältnis von casus und regula[1] in Erinnerung. Vom Fallrecht des klassischen Rom unterscheidet sich das Common Law dadurch, dass es explizit Präjudizien als verbindlich deklariert. Für das Common Law ist umstritten, ob die Präjudizienbindung durch Analogie oder durch die Übernahme einer im Präjudiz implizit enthaltenen Regel realisiert wird. Anhänger der Regeltheorie[2] nehmen an, dass man einem Präjudiz nur dadurch folgen kann, dass man die ratio decidendi, das holding des Präzedenzfalles, zur Regel abstrahiert und auf den neuen Fall anwendet. Die Analogiker dagegen sehen in der Anwendung eines Präjudizes die unmittelbare Übernahme der Rechtsfolge in einem hinreichend ähnlichen Fall.

Hier noch einmal das Levi-Zitat:

»The basic pattern of legal reasoning is reasoning by example. It is reasoning from case to case. It is a three-step process described by the doctrine of precedent in which a proposition descriptive of the first case is made into a rule of law and then applied to a next similar situation. The steps are these: similarity is seen between cases; next the rule of law inherent in the first case is announced; then the rule of law is made applicable to the second case.« (An Introduction to Legal Reasoning, University of Chicago Law Review 15, 1948, 501-574, S. 501f.)

Sieht man genauer hin, ist die Formulierung ambivalent. Einerseits wird dem Präjudiz eine Regel entnommen, die auf den neuen Fall angewendet wird. Andererseits ist der neue Fall ein »ähnlicher« Fall. Auf Ähnlichkeit kommt es aber nicht mehr an, wenn man eine Regel hat. So ist denn heftig umstritten, ob die Präjudizienbindung nur durch Fallvergleich oder durch die Übernahme einer im Präjudiz implizit enthaltenen Regel realisiert wird. Anhänger der Regeltheorie nehmen an, dass man einem Präjudiz nur dadurch folgen kann, dass man die ratio decidendi, das holding des Präzedenzfalles, zur Regel = Rechtsnorm abstrahiert und auf den neuen Fall anwendet. Mit einer Formulierung von Robert Alexy:

»Die Verwertung eines Präjudizes bedeutet die Verwertung der der präjudiziellen Entscheidung zugrunde liegenden Norm.« [3]

Das ist der Standpunkt der Analogieskeptiker, die keine reine oder originäre Analogie akzeptieren.

Die traditionelle Auffassung geht jedoch dahin, dass ein unmittelbarer Fallvergleich grundsätzlich möglich ist. Prüfstein ist das »nackte« Urteil, das heißt ein Urteil nur mit Tatbestand ohne Begründung. Auch ein »nacktes« Urteil taugt zum Präjudiz. Urteilsgründe braucht man nur, wenn der aktuelle und der Altfall nicht gleich erscheinen. Dann liegt es ähnlich wie bei einem Gesetz, dass sich von seinem Wortlaut her nicht zweifelsfrei anwenden lässt. Dann muss das Gesetz ausgelegt und analog muss das Präjudiz interpretiert werden. Es kommt also darauf an, ob die Fälle gleich oder nur ähnlich sind. Der Analogieskeptiker wird geltend machen: Schlechthin gleiche Fälle gibt es nicht. Keine zwei Objekte sind völlig gleich und ebenso wenig weisen zwei Objekte gar keine Ähnlichkeit auf. Er schließt daraus, dass die Unterscheidung zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit beliebig sei und die Analogie als selbständige Argumentation entsprechend wertlos. Analogiker wie z. B. Weinreb erwidern: Die Fähigkeit, Muster zu erkennen, und so zwischen passend und unpassend, gleich und ungleich zu unterscheiden, ist schon bei allen Wirbeltieren vorhanden.  Auch beim Menschen ist die Fähigkeit zur Mustererkennung eine angeborene Kompetenz. Sie wird an unendlich vielen Beispielen trainiert und befähigt zur Unterscheidung von gleich, ähnlich und verschieden. Psychologen sprechen vom mappping der zu vergleichenden Situationen. Dem mapping entspricht der Fallvergleich der Jurisprudenz.

Der Fallvergleich ist eine wie selbstverständlich geübte juristische Praxis, die allerdings methodisch wenig reflektiert wird. Daher sei hier noch einmal an die Kontroverse zwischen Fritjof Haft und Arthur Kaufmann erinnert. Für Haft war der Fallvergleich »die zentrale juristische Operation«.[4] Er wandte sich gegen die »Grundvorstellung, daß es dem Rechtsanwender vorgegebene Rechtsideen gebe, und daß diese in abstrakten Begriffen festgehalten werden könnten. … [Denn] Die Gerechtigkeit ist eine Sache des Einzelfalles. Der Einzelfall wird nicht an vorgegebenen Ideen gemessen. Er trägt die richtige Lösung allein in sich« (S. 156f). Über eine »bewußt gestaltete Vergleichsfalltechnik« erfährt man von Haft freilich nicht viel mehr, als dass es sich um »rhetorisches Problem« handelt (S. 160). Auch Arthur Kaufmann sah im Fallvergleich den zentralen Akt der Rechtsgewinnung, nämlich »die Gleichsetzung des zu entscheidenden Falles mit solchen Fällen, die der einschlägigen Norm sicher unterfallen, also eine Analogie«.[5] Der Fallvergleich erfolge im Lichte einer durch Abduktion gewonnenen Normhypothese. Kaufmann wandte sich damit ausdrücklich gegen die Auffassung von Haft, dass ein Fallvergleich ohne Norm oder Regel möglich sei, die als tertium comparationis dient.

Indessen verdient weder die Position Hafts noch diejenige Kaufmanns Zustimmung. Hafts Regelnihilismus ist nicht akzeptabel. Ohne Abstraktionen könnten wir uns nicht durch die Welt bewegen. Es geht immer nur um den Grad der Verallgemeinerung. Kaufmann stützte sich auf einen ungewöhnlich engen Subsumtionsbegriff, so dass er praktisch nicht mehr zwischen gleich und ähnlich, Subsumtion und Analogie unterscheiden konnte. Als subsumierbar unter ein Gesetz akzeptierte Kaufmann nur Zahlbegriffe. Jede andere Anwendung einer Regel fordert nach seiner Auflassung eine »Gleichsetzung«, die er als Analogie einordnete (S. 25). Subsumtion war für Kaufmann gleichbedeutend mit Deduktion. Damit verwendete er den Subsumtionsbegriff in dem engen Sinne, der in der formalen Logik maßgeblich ist. Juristen nutzen den Subsumtionsbegriff aber meistens in einem weiteren Sinne, der eine »kleine« Auslegung einschließt. Kaufmanns enger Subsumtionsbegriff hat einen (zu) weiten Analogiebegriff zur Folge, der die Realität der Musterkennung durch menschliche und künstliche Intelligenz verfehlt. Kognitive Neuroinformatik ist heute imstande, auch komplexe Verkehrssituationen eindeutig zu identifizieren.

Die Differenz zwischen Haft und Kaufmann verschwindet, wenn man den juristischen Begriff der Subsumtion als Kategorisierung im Sinne der kognitiven Psychologie versteht und zwischen gelingender und zweifelhafter Kategorisierung unterscheidet. Auch ohne (externen) Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich sind. Wäre es anders, gäbe es keine Kategorisierung und damit keine Begriffsbildung. Wenn die Objekte verschieden sind, kann man immer noch Ähnlichkeit konstatieren, wenn einzelne Merkmale übereinstimmen. Die Kategorie als kognitives (internes) Muster ist wohl Vergleichsmaßstab, aber noch keine (Rechts-)Norm. Erst wenn es darum geht, zwei Fälle trotz Verschiedenheit als ähnlich gleichzusetzen, braucht man einen weiteren Vergleichsmaßstab. Dann geht es nicht mehr um Ähnlichkeit an sich (ontische oder phänomenale Ähnlichkeit), sondern um relevante Ähnlichkeit.

Die juristischen Kategorien für Gleichheit liefern die Tatbestandmerkmale einer Norm. Wenn die Kategorisierung = Subsumtion misslingt, weil nicht alle, sondern nur einige Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, geht es nicht länger um Gleichheit, sondern um Gleichsetzung aufgrund von Ähnlichkeit. Die Ungleichsetzung entspricht dem distinguishing im Common Law. Black’s Law Dictionary (5. Aufl. 1979, S. 425) definiert: »To point out an essential difference.« Für Scott Brewer handelt es sich dabei um eine umgekehrte Analogie (disanalogy[6]).

Regeln müssen mit Gattungsbegriffen ausgedrückt werden, die ebensowenig scharf sind wie die kognitiven Muster des Vergleichens. Nicht nur im Alltag unterscheidet man zwischen gleich, ähnlich und verschieden. Auch künstliche Intelligenz kann Muster als gleich identifizieren und ähnliche herausfiltern. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir Personen, Gegenstände oder Örtlichkeiten, die wir einmal wahrgenommen haben, auch ohne Anlass wiedererkennen. Das gilt nicht nur für identische, sondern auch für gleiche Objekte unabhängig davon, ob Alltagsbegriffe oder Fachtermini als Kategorien dienen. Schwieriger als der Vergleich von kompakten Objekten ist der Vergleich von komplexeren Situationen, wie ihn der Fallvergleich fordert, der die Heranziehung eines Präjudizes rechtfertigen soll. Auch »Situationen« können nur mit Hilfe von Begriffen = Kategorien beschrieben werden. Situationen lassen sich verhältnismäßig einfach kategorisieren, wenn man nur auf einzelne perzeptiv prominente Merkmale abstellt, z. B. auf die Beteiligten (Mann, Frau, zwei, viele), auf den Streitgegenstand (Geld, Beziehung, Politik) oder den Orts- und Zeitbezug. Solche Kategorisierung dient im Vorfeld des Gerichtsprozesses für die Zuständigkeitsverteilung. Sie ist nicht von vornherein teleologisch, sondern – wenn man so will – ontologisch. Sie könnte auch für statistische Zwecke genutzt werden oder für die Zusammenstellung einer Stichprobe in der Sozialforschung. Aber singuläre Merkmale machen noch keinen »Fall«. Wenn es um den Tatbestand eines Präjudizes geht, wird es insofern schwierig, als der Fall keine schlechthin objektive Einheit bildet. Was als Fall definiert wird, ist ein interessengeleiteter Ausschnitt aus der Welt. In juristischem Zusammenhang erhält der Fall seine Konturen aus vorhandenen oder gewünschten Regeln, aus Urteilstatbeständen und Klagevorbringen. Immerhin ist der Altfall ist abgeschlossen. Man darf nicht mehr nach Umständen fragen, die dem Erstgericht nicht bekannt waren. Dagegen ist der neue Fall noch offen. Man kann immer noch nach ergänzenden Tatbestandselementen suchen, die einen Unterschied machen. Dennoch bleibt ein vorjuristischer, sozusagen ontologischer Fallvergleich möglich. Die Jurisprudenz würde auf ein wichtiges Element ihrer Urteilskraft verzichten, wenn sie sich nicht zutraute, zwischen Gleichheit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit zu differenzieren.

Es geht um die Frage, ob ein Gleichheitsurteil möglich ist, ohne dass man den Sinn und Zweck einer Regel bemühen muss. Unser Alltagsrealismus spricht für eine positive Antwort, ist aber wenig beweiskräftig, auch wenn die Epistemologie unter Berufung auf so prominente Autoren wie W. V. Quine einen naturalized turn verzeichnet (o. XXX). Zum Alltagsrealismus tritt der professionell geschulte Realitätssinn hinzu. Dem kann man, wie Brożek[7] und Schauer (S. 88)[8] von vornherein mit Skepsis begegnen. Doch wer mit dem Recht nicht grundsätzlich auf Kritikfuß lebt, wird die Herausbildung von professionellen kognitiven Mustern nicht als Defizit, sondern (mit Weinreb[9]) als Gewinn verbuchen.

»… the choice of which analogy to prefer is not like the flip of a coin. Just as her common sense, the accumulation of ordinary experience, tells Edna that it makes no difference how much cranberry juice costs or whether it is imported, a lawyer or judge relies on his knowledge and experience of law. The greater his experience in the particular area of law, the more likely is it that the analogy he chooses will be convincing to others (just like Edna’s advice [der darin bestand, sie solle den roten Saftflecken mit dem gleichen Mittel bekämpfen wie einen Rotweinflecken], to Mary would be more convincing if Edna had a degree in food chemistry). The choice is informed also by a broad understanding of what is relevant to the sort of decision being made – a matter of liability (Adams) or regulation or business or individual rights – and broader still, what generally ›counts‹ in law.«

Juristische Expertise bietet keine Garantie, aber eine gute Chance, sich bei Vergleichen (beim mapping oder distinguishing) auch Charakteristisches und Relevantes zu konzentrieren und Neben­säch­liches und Gleichgültiges auszuschalten. Es hilft, sich an die Relationstechnik (Gutachtentechnik) zu erinnern, die der Referendar in der Zivilstation beim Landgericht lernt. Dafür ist ein Tatbestand anzufertigen, der alle potenziell rechtlich relevanten Umstände aufführt, aber auch nur diese. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob die Umstände am Ende entscheidungsrelevant sind. Meist fällt es nicht schwer, eine Vielzahl von Umständen für irrelevant zu befinden. Ob der Kläger vor dem Vertragsschluss Rührei oder Müsli gefrühstückt hat ist dann ebenso unerheblich wie seine Haarfarbe.

In vielen Fällen liegt das Gleichheitsurteil auf der Hand. Wurde dem Käufer eines Audi mit Dieselmotor des Baujahrs 2008 Schadensersatz zugebilligt, weil der Motor des Typs EA189 mit einer so genannten Schummel-Software ausgerüstet war, so liegt der Fall des Käufers eines anderen Audi mit diesem Motor, der nunmehr seinerseits Ersatz fordert, gleich. Für das Gleichheitsurteil bedarf es keiner Regel, wiewohl man eine Regel formulieren könnte, die gleiche Fälle dieser Art, und nur diese erfasst. Die Begriffe dieser Regel wären vollständig konstituiert durch ihre frühere Anwendung. In dieser Regel erschöpft sich das holding des Präjudizes.

So klar ist das Gleichheitsurteil nicht immer, aber auch nicht ganz selten. Es gibt viele Standardsituationen. Eine Abtreibung ist eine Abtreibung, ist eine Abtreibung. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Variationen (früh – spät, nach Vergewaltigung, Gesundheitsgefahr für die Mutter, Wahrscheinlichkeit eines kranken Kindes).

Fällt die Kategorisierung von Fällen als gleich »analog« zur Kategorisierung qua Subsumtion zweifelhaft aus, dann allerdings muss ein weiterer Vergleichsmaßstab her. Aber da hilft keine einzelne Regel. Eine Regel deckt entweder nur den Altfall oder nur den Neufall. Für eine Analogie, welche ähnliche Fälle gleichstellt, benötigt man eine Norm, die beide Fälle einschließt. Erst eine weiter gefasste Norm kann herangezogen werden, um die verschiedenen Fälle als hinreichend ähnlich gleichzusetzen. Es stehen also drei Regeln zur Wahl. Dann gilt es zu begründen, welche Regel den Vorzug verdient. Zur Begründung einer Regel dienen in erster Linie ihr Zweck und als Kehrseite ihre Folgen. Damit setzt ein Wechselspiel von Fallvergleich, Regelbildung und Begründung ein. Das nackte holding ist ein theoretischer Grenzfall. Man geht davon aus, dass sich die Richter bei ihrem Urteil etwas gedacht haben, und das fließt bei der »hermeneutischen« Rekonstruktion[10] des Präjudizes ein. Die relevante Ähnlichkeit ergibt sich aus der Begründung der Norm. Aber es bleibt dabei, dass auch der unmittelbare (phänomenologische) Fallvergleich die Wahl der Regel mitbestimmt. Fallvergleich und teleologische Überlegungen wirken zusammen.[11] Die bloße Ähnlichkeit der Fälle gibt Anlass, auf den Zweck der im Präjudiz ausgedrückten Regel zurückzugehen, denn der Zweck kann die Gleichsetzung per Analogie stützen, weil er zeigt, welche Ähnlichkeit relevant ist. Auch wenn man nicht so weit geht, wie Fritjof Haft mit der Ansicht, der Einzefall trage die richtige Lösung allein in sich, so weckt doch der Fall eine starke Intuition, die sich nicht ganz unterdrücken lässt.


[1] Dazu 2015 drei Einträge auf Rsozblog.de: Casus und Regula; Die Hellenismuskontroverse; Das Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«.

[2] Zu diesen zählen u. a. Larry Alexander, Constrained by Precedent, Southern California Law Review 63, 1989, 1-64; Larry Alexander/Emily Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, 2008; Ronald M. Dworkin, In Praise of Theory, Arizona State Law Journal 29, 1997, 353-376, S. 371: »An analogy is a way of stating a conclusion, not a way of reaching one, and theory must do the real work.«; Melvin Aron Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 83f: »Reasoning by analogy differs from reasoning from precedent and principle only in form. … Cases are not determined in the common law simply by comparing similarities and differences.«; Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, 2003 [1978],  S. 161, 186; Richard A. Posner, Overcoming Law, 1995, S. 177, 519f; Kent Greenawalt, Law and Objectivity, 1992, S. 200; Peter Westen, On »Confusing Ideas«: Reply, Yale Law Journal 91, 1982, 153-1165, S. 1163: »One can never declare A to be legally similar to B without first formulating the legal rule of treatment by which they are rendered relevantly identical.«; Frederick F. Schauer, Playing by the Rules, A Philosophical Examination of Rule-Based Decision-Making in Law and Life, 1991; ders., Thinking Like a Lawyer, A New Introduction to Legal Reasoning, 2009 (S. 85ff).

[3] Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 336.

[4] Fritjof Haft, Falldenken statt Normdenken, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.), Der deutsche Sprachgebrauch, Bd. II, 1981, 153-161, S. 153.

[5] Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, 1999, S. VI.

[6] Scott Brewer, Exemplary Reasoning: Semantics, Pragmatics, and the Rational Force of Legal Argument by Analogy, Harvard Law Review 109, 1996, 923-1028, S. S. 936, 983, 1006.

[7] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[8] Frederick Schauer, Thinking Like a Lawyer. A New Introduction to Legal Reasoning, 2009, S.88.

[9] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 59f.

[10] Ralf Poscher, The Hermeneutics of Legal Precedent, SSRN 2022, 4042864.

[11] Weinreb S. 60ff.

 

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Das Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«

Der letzte Einrag zu casus und regula schloss mit Frage nach der verbindlichen Kraft von Juristenrecht in Rom.

Ähnlich wie heute in Deutschland hatten Urteile in Rom keine präjudizielle Wirkung. [1]Max Kaser, Das Urteil als Rechtsquelle im römischen Recht, in: ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 42-64; Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, … Continue reading. Aber das folgte eigentlich schon daraus, dass die Richter Laien waren und die rechtliche Beurteilung ihrer Fälle aus den Responsen und Consilien der Juristen bezogen. Letzlich war es die Autorität der Juristen, die ihren Entscheidungsvorschlägen Kraft verlieh. Diese Autorität bezogen sie aber aus ihrer Kennerschaft der Vorentscheidungen. Aus solcher Kennerschaft folgte eine gleichförmige und sichere Übung mit der Konsequenz, das »das Recht als solches weitgehend den Charakter allgemeiner Rechtssätze« [2]Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 45 Rn. 21. gewann. Anders sieht es Kaser, wenn er schreibt (S. 54f), zwar hätten die »römischen Juristen zum Zweck vereinfachter Darstellung aus vielfacher übereinstimmender Fallpraxis nicht selten gegenständlich meist eng begrenzte Regelsätze« gebildet. Doch diese Regeln hätten nur die Ergebnisse der Fallpraxis zusammengefasst, das heißt also sie hätten keine normative Geltung gehabt. Nun fällt es wohl leichter, im (neuen) Einzelfall von einer bloß induktiv aus (alten) Einzelfällen gewonnenen Regel abzuweichen, als von einem abstrakt verkündeten Gesetz, das mit dem Anspruch auf Befolgung daher kommt. Aber die faktische Folgebereitschaft ist mehr als ein Faktum. Modern gesprochen hört sie auf den Namen Rechtsprechungspositivismus. [3]Namensgebung angelehnt an Schlinks »Bundesverfassungsgerichtspositivismus«; vgl. Christoph Schönberger, Bundesverfassungsgerichtspositivismus – Zu einer Erfolgsformel Bernhard Schlinks, in: … Continue reading Auf Rom bezogen müsste sie Juristenpositivismus heißen.

Dem scheint das Paulus-Zitat im Wege zu stehen. Man kann versuchen, die übliche Lesart und damit das (römische) Regelproblem wegzuinterpretieren. Eine grober Versuch würde das Zitat für in sich unstimmig erklären, weil rerum narratio und causae coniectio sich auf die Sachlage beziehen und nicht auf die Rechtslage. Feiner hat es Richard Böhr versucht. [4]Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, 2002, 47ff. Er meint, ius und regula seien auch für Paulus keine Gegensätze gewesen, die regula vielmehr Bestandteil des ius. Deshalb gebe die Paulus-Stelle nichts dafür her, dass juristische Urteile nur induktiv aus der Beurteilung von Fällen gewonnen worden seien. Die Römer hätten praktisch zwei Wege gekannt, um regulae iuris zu gewinnen, nämlich induktiv aus mehreren Entscheidungen und durch Verallgemeinerung besonders überzeugender Einzelfallentscheidungen. Ohne solche Abstraktionen zur Regel könne man sich die Juristenarbeit nicht vorstellen.

Okko Behrends tritt auch hier wieder mit einer prägnanten These hervor: Die Lesart, die den Vorrang des Rechts vor der Regel betont, beruhe auf einer »romantisierenden Heroisierung« der klassischen römischen Jurisprudenz durch die Freirechtsschule, auf die die moderne Romanistik, insbesondere in der Person von Max Kaser, hereingefallen sei. [5]Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs-und Gestaltungsdenken, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, 1989, 34-80, S. 45-50. Zuvor habe man den Satz des Sabinus so verstanden, »daß eine einzelne Rechtsregel immer nur als Ausdruck des gesamten in Betracht kommenden Rechts gilt und daher, wo immer nötig, aus dem gesamten Recht zu korrigieren sei.« [6]Ebd. S. 49.

»Durch den Kunstgriff, das ›ius quod est‹ nicht mehr als die Gesamtheit der in Betracht kommenden Normen der Rechtsordnung, also als vorweg festliegendes Recht im allgemeinen Sinne zu verstehen, sondern auf das Recht des Einzelfalls, auf das Recht der entschiedenen Einzelfälle oder noch konsequenter auf das im Lebensverhältnis des zur Entscheidung stehenden Einzelfalls wirkende Recht zu beziehen, wurde dieser Ausspruch mit großer bis heute andauernder Wirkung zum Programmsatz einer als vorbildlich angesehenen induktiven, nur aus der Erfahrung schöpfenden, und intuitiven, den Umweg über abstrakte Begriffe verschmähenden Rechtsfindung, wie sie das Freirecht den Römern, dem klassischen Juristenvolk, beimaß.« (S. 49f.)

In der Tat scheint der von Paulus angeführte Satz des Sabinus zum Motto der Freirechtsschule geworden zu sein. Lombardi Vallauri meint:

»Wohl das beliebteste Zitat der Freirechtler ist der Spruch des Paulus: non ex regula jus sumatur, sed ex jure quod es regula fiat.« [7]Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, 1971, S. 106.

Lombardi Valluri gibt dazu keine Nachweise, und ich habe nicht weiter nachgeforscht. Okko Behrends verweist auf Eugen Ehrlich und zitiert in Fußnote 46 auf S. 49 aus »Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft«:

»Es beruhen nicht die Entscheidungen auf den Rechtsregeln, sondern die Rechtsregeln werden aus Entscheidungen gezogen. Das Recht, auf dem die Entscheidungen beruhen, ist das ius quod est.« [8]Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 11 – nicht wie von Behrends angegeben S. 3 –, wieder abgedruckt in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur … Continue reading.

Aber wenn Ehrlich sich hier auf Paulus/Sabinus bezieht, so kaum, um daraus unmittelbar eine Rechtfertigung für die freie Rechtsfindung abzuleiten. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ehrlich war ganz und gar nicht der Auffassung, die römischen Juristen hätten den Umweg zur Rechtsfindung über abstrakte Begriffe und Regeln verschmäht. Vielmehr betont er 1903 – und ebenso zehn Jahre später in dem Kapitel über »Die römische Jurisprudenz« in seiner »Grundlegung der Soziologie des Rechts« von 1913 (dort S. 197-217), dass die außerordentliche Leistung der Römer darin bestanden habe, aus vielen Einzelfallentscheidungen zu allgemeinen Regeln vorzustoßen. Mir scheint, dass Behrends die Differenz zwischen dem »lebenden Recht« und den »Entscheidungsnormen«, die den Kern der Rechtssoziologie Ehrlichs ausmachen, vernachlässigt hat. Bei der Suche nach der regula im römischen Recht geht es um die von Ehrlich so genannten Entscheidungsnormen, und Ehrlich bewundert die römischen Juristen gerade dafür, dass sie das lebende Recht so trefflich in Entscheidungsnormen umgesetzt haben. Und nebenbei erfährt man von Ehrlich beinahe noch mehr über die Regelbildung bei den Römern als in den bisher von mir herangezogenen Texten:

» … auf welchem Wege die Ansichten der Juristen zu einem Bestandteil des vor Gericht verbindlichen Rechts, des ius civile, wurden, … lehrt wohl ein Blick auf die uns erhaltene juristische Literatur. Der Jurist führt seine Ansicht meist sehr bescheiden ein: et puto, magis arbitror, sed magis sentio, aequius est, magis est; nur sehr selten kommen so kräftige Wendungen vor wie existimo constituendum. Daran knüpft die disputatio an, nicht mehr auf dem Forum, sondern in der Literatur: et magis placuit, sed magis visum est, et magis putat Pomponius … et ego puto, secundum Scaevolae sententiam quam puto veram, et magis admittit (Marcellus) tenere eum, et est aequissimum, oder auch mit einer Ablehnung: quae sententia vera non est et a multis notata est, nec utimur Servii sententia; bis sich schließlich die Regel festsetzt: maiores constituerunt, Cassii sententia utimur, Labeo scribit eoque jure utimur, et hoc et Julianus admittit eoque iure utimur, haec Quintus Mucius refert et vera sunt, abolita est enim quorundam veterum sententia. Erst wenn man von einer Regel, die von einem Juristen angesprochen wird, sagen konnte: eoque iure utimur hat sie sich endgültig durchgekämpft.« [9]Grundlegung S. 214f.

Nur auf einem höchst modern anmutenden Umweg rechtfertigt Ehrlich die »freie Rechtsfindung«, nämlich weil die zunächst bei den Römern anzutreffende und mit der Rezeption in die Neuzeit übernommene Idee der Lückenlosigkeit »nie etwas anderes gewesen [sei] als ein Scheingebilde der juristischen Technik« [10]1903 S. 6 = 1967 S. 176.

Ich glaube eher, dass die Paulus-Stelle so gemeint war, wie sie üblicherweise verstanden wird. Dann schließt sich aber die Frage an, ob es sich dabei nur um die affirmative Wiedergabe der Meinung des Sabinus handelt oder ob der Sabinus zugeschriebene Satz die römische Rechtspraxis zutreffend wiedergibt. Der Eindruck, das römische Recht sei reines Fallrecht, geprägt von Judiz oder Urteilskraft, geschaffen aus Intuition oder kraft natürlicher Vernunft (naturaliter ratione) in Verbindung mit der auctoritas der Juristen mag dadurch entstanden sein, dass die meisten überlieferten Fallbeurteilungen nicht mit Gründen versehen sind. Horak hat jedoch gezeigt, dass dieser Eindruck trügt. Tatsächlich haben die Römer so viele Begründungen geliefert, dass er sagen kann:

»Nicht arational und autoritär, wie Schulz glauben machen will, sondern sowohl rational als auch autoritär müssen wir uns die römische Jurisprudenz denken. Sie wird sich darin von unserer heutigen Jurisprudenz nicht allzusehr unterschieden haben, in der oft genug neben den Gründen das Ansehen eines Autors eine entscheidende Rolle spielt.« (S. 75f)

Danach scheint mir, dass man die Sache zwar nicht an der Vokabel regula festmachen darf, dass es aber in der Tat unvorstellbar ist, dass die römischen Juristen keine aus Erfahrung und Überlegung gebildeten Regeln im Kopf gehabt hätten.

Von der römischen unterscheidet sich die moderne Diskussion dadurch, dass meistens einschlägige ausformulierte Normen vorhanden sind. Das hat zur Folge, dass man sich (nur noch) darüber streitet, ob überhaupt vorgängige Regeln möglich sind, denen sich durch Subsumtion eine Entscheidung entnehmen lässt (lex ante casum), oder ob das, was als Rechtsanwendung erscheint, letztlich produktive Rechtserzeugung ist (lex in casu). [11]Zu diesem Gegensatz zwischen einer semantischen und einer konstruktivistischen Schule der Methodenlehre der Eintrag vom 6. Marz 2012 »Postmoderne Methodenlehre I«. Sehr groß ist der Fortschritt nicht. Um es mit dem Schlusswort von Horaks »Rationes Decidendi« zu sagen:

»Wenn die kleine Stichprobe indes nicht sehr trügt, dann zeigt sich, daß seit den Tagen der ausgehenden römischen Republik die Jurisprudenz zwar an Selbsterkenntnis und Selbstkritik ihren Methoden gegenüber sehr viel weiter gekommen ist, daß aber die juristische Praxis und zum Teil auch die Rechtslehre nicht wesentlich anders arbeiten, als es die römischen Juristen getan haben. Es ist zu bezweifeln, ob angesichts der unvermeidlichen Wertungen, ohne die die Jurisprudenz nicht zu existieren vermag, ein höherer Grad an Wissenschaftlichkeit erreicht werden kann. Die römische Jurisprudenz ist groß, weil sie diesen Standard an möglicher Wissenschaftlichkeit schon vor zweitausend Jahren erreicht hat.«

Nach einer langen Periode des Regelskeptizismus darf man heute wohl wieder sagen: Regeln haben Bedeutung und lassen sich anwenden, auch wenn jede Anwendung in irgendeiner, oft minimalen Weise auf die Regel zurückwirkt, indem sie die Regel festigt oder verändert. Nicht alle, aber viele Fälle fordern die Regel heraus, so dass sie im Zuge der Anwendung »übersetzt« wird. [12]Zur Universalität der Interpretationsfähigkeit aller Kommunikation vgl. die Einträge Travelling Models VII: »No transportation without transformation« und »Zur Konvergenz von … Continue reading So war es auch schon bei den Römern. Das moderne Regelverständnis wird jedoch durch einen Gesichspunkt mitbestimmt, der den Römern noch fremd war. Zentral für Kants Freiheitsphilosophie und Ethik ist die Idee, dass man sich sittliches Handeln immer so vorzustellen hat, dass es einer Regel folgt. In die Jurisprudenz findet diese Vorstellung über den Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit Eingang. Rechtsanwendungsgleichheit setzt die Bereitschaft voraus, auch neuartige Fälle, für die eine Regel fehlt, stets unter dem Gesichtspunkt einer für alle gleichartigen Fälle gültigen Regel zu entscheiden, mag diese Regel auch erst im konkreten Fall zum ersten Mal aufgestellt und als solche nicht einmal ausgesprochen werden. [13]Darauf baut unsere Darstellung der Methodenlehre (Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 604. 665f).

Luhmann hat sich an der Stelle, die Anlass der Überlegungen zu casus und regula war [14]Eintrag vom 20. August 2015: Casus und regula., dem sabinianischen Standpunkt vom Vorrang des Rechts vor der Regel angeschlossen. Damit folgt er kritiklos der freirechtlichen Okkupation des Paulus/Sabinus-Zitats, nach der die regula nicht mehr ist als ein unverbindlicher Entscheidungsvorschlag, dem kein darüber hinausgehender normativer Wert zukommt.

Dieser Ausgangspunkt ist zu brüchig für Luhmanns weitergehende These, im römischen Rechtsdenken habe die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung keiner sie legitimierenden Rechtsquelle bedurft. [15]Das Recht der Gesellschaft S. 523; Zitat am Beginn des Eintrags »Casus und Regula«. Sie lässt sich schwerlich halten. Zwar gab es in Rom keine abstrakte Rechtsquellenlehre, aber durchaus handfeste Vorstellungen von verbindlichen Rechtsquellen, die sich freilich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. [16]Abel Hendy Jones Greenidge, Introduction: Institutes of Roman Law, 1904; Max Kaser, Zur Problematik der römischen Rechtsquellenlehre [1978], wieder abgedruckt in ders., Römische Rechtsquellen und … Continue reading Das zeigt der so genannte Rechtsquellenkatalog des Gaius: Constant autem iura populi Romani ex legibus, plebiscitis, senatus consultis, constitutionibus principum, edictis eorum, qui ius edicendi habent, responsis prudentium. Rechtsquelle im soziologischen Sinne war anfangs vor allem die legitimierende Kraft der Tradition und die Autorität der Juristen, die sich ursprünglich aus dem Priesteramt ableitete. Später kamen Senat, Prätoren und Gerichtsmagistrate hinzu, in der Kaiserzeit dann selbstverständlich der Kaiser und die von ihm abgeleiteten Autoritäten, etwa der Juristen, die das Recht zu respondieren hatten. Und es gab auch innerhalb der Juristen reflektierende Überlegungen zur Rechtfertigung des Rechts. Dazu kursierten etwa Begriffe wie natura und aequitas, consuetudo und auctoritas, mos majorum und ius moribus introductum, voluntas populi oder gar tacitus consensus populi. Ohnehin passt Luhmanns Satz, »daß die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung (k)einer sie legitimierenden Rechtsquelle« bedurft hätte, nicht so ganz zu der von ihm in Fn. 70 auf S. 523 angeführten Paulus-Zitat »non ex regula ius sumatur«. Eine Regel, die es gar nicht gibt, braucht auch keine Legitimation. Doch dann verlagert sich das Legitimationsproblem auf die Entscheider.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Max Kaser, Das Urteil als Rechtsquelle im römischen Recht, in: ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 42-64; Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 72.
2 Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 45 Rn. 21.
3 Namensgebung angelehnt an Schlinks »Bundesverfassungsgerichtspositivismus«; vgl. Christoph Schönberger, Bundesverfassungsgerichtspositivismus – Zu einer Erfolgsformel Bernhard Schlinks, in: Freundesgabe für Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag, 2014, 41-49.
4 Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, 2002, 47ff.
5 Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs-und Gestaltungsdenken, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, 1989, 34-80, S. 45-50.
6 Ebd. S. 49.
7 Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, 1971, S. 106.
8 Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 11 – nicht wie von Behrends angegeben S. 3 –, wieder abgedruckt in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, 1967, S. 170-202, dort S. 180.
9 Grundlegung S. 214f.
10 1903 S. 6 = 1967 S. 176
11 Zu diesem Gegensatz zwischen einer semantischen und einer konstruktivistischen Schule der Methodenlehre der Eintrag vom 6. Marz 2012 »Postmoderne Methodenlehre I«.
12 Zur Universalität der Interpretationsfähigkeit aller Kommunikation vgl. die Einträge Travelling Models VII: »No transportation without transformation« und »Zur Konvergenz von Rezeptionsästhetik und Reader-Response-Theorie«.
13 Darauf baut unsere Darstellung der Methodenlehre (Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 604. 665f).
14 Eintrag vom 20. August 2015: Casus und regula.
15 Das Recht der Gesellschaft S. 523; Zitat am Beginn des Eintrags »Casus und Regula«.
16 Abel Hendy Jones Greenidge, Introduction: Institutes of Roman Law, 1904; Max Kaser, Zur Problematik der römischen Rechtsquellenlehre [1978], wieder abgedruckt in ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 9-41.

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Casus und regula: Die Hellenismuskontroverse

Dies ist eine Fortsetzung des Eintrags über »Casus und Regula« vom 20. 8. 2015.

»Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«, so lautet nach dem Paulus-Zitat des Pomponius die Position der Sabinianer. Dieser Satz trägt so viel Betonung, dass es eine Gegenposition gegeben haben muss. Die findet Peter Stein [1]Peter Stein, Interpretation and Legal Reasoning in Roman Law, Chicago-Kent Law Review 70, 1995, 1539-1556, S. 1553f. Grundlegend Steins Monographie Regulae Iuris, From Juristic Rules to Legal Maxims, … Continue reading bei Labeo:

»The late republican jurists, particularly Quintus Mucius Scaevola, tried to state the civil law in a series of definitiones, which were seen as summary descriptions of the law as revealed in practice. Labeo introduced a new word, regula, as an alternative to definitio. He took this word from grammatical language, where it had decidedly analogist overtones. A regula was something more than a definitio. It was a normative proposition which governed all situations which fell within its rationale. In contrast with definitio, which looked to the past, a regula looked to the future since its ratio was applicable to many cases which had not yet arisen.«

Danach scheint es, als habe Labeo das Konzept der regula eingeführt, die zwar ursprünglich an einem Einzelfall gewonnen wurde, die dann aber als allgemeine Norm Geltung hatte. Aber, so Nörr (S. 31):

»Es ist auffällig, daß es regulae gibt, die in die republikanische Zeit zurückreichen, daß der Ausdruck regula selbst aber in den Juristenschriften frühestens bei Sabinus (Paul. 50.17.1), also etwa in der Mitte des 1. Jahrh. n. Chr., bezeugt ist.«

In diesem Sinne betont Schmidlin [2]Bruno Schmidlin, Horoi, pithana und regulae – Zum Einfluß der Rhetorik und Dialektik auf die juristische Regelbildung, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der … Continue reading, dass regula in der frühen Prinzipatszeit noch gar kein technischer juristischer Begriff gewesen sei.

»In der Bedeutung der Einzelregeln scheinen sich die regulae erstmals in der Grammatik eingebürgert zu haben, und zwar offensichtlich in Anlehnung an den griechischen Terminus canon, der auch im Plural, canones, im Sinn von ›Einzelregeln‹ verwendet wird. Auch in dem methodologisch wenig gefestigten Vokabular der Juristen haftet dem Wort regula eine bildhafte Unbestimmtheit an. Noch Celsus bezeichnet die catonianische Regel ganz unbefangen bald als regula, bald als definitio, während der Jurist Maecenius sententia dafür verwendet.« [3]Schmidlin S. 117f.

An dieser Stelle zeigt sich schon, dass die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von casus und regula verfehlt war, denn sie beruht auf dem Vorurteil, die römischen Juristen hätten in der gleichen Weise von regula geredet wie der moderne Jurist von der Regel im Sinne einer Rechtsnorm. [4]Nörr, SZ 89,1972, S. 36; Richard Böhr, Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, Ein Beitrag zur rechtshistorischen Spruchregelforschung, 2002, 49f.

Versucht man nachzufassen, greift man in das Wespennest eines Gelehrtenstreits um den Einfluss hellenistischer Philosophie auf die Jurisprudenz der späten Republik und des frühen Prinzipats. An den Fronten stehen Peter Stein und Bruno Schmidlin mit einschlägigen Monographien und abseits Okko Behrends und sein Schüler Martin Avenarius.

Behrends und ihm folgend Avenarius vertreten die Ansicht, dass die vorklassische Tradition der veteres mit der Ermordung des Quintus Mucius Scaevola 82 v. Chr. endete und nunmehr Servius Sulpicius Rufus mit der ars juris eine neue wissenschaftliche Juristentradition begründete, die auf Definitionen und Subsumtion angelegt war. »In seiner ars juris wurde die ars im Sinne des hellenistischen Wissenschaftsbegriffs als τέχνη verstanden. Mit ihr schuf Servius das Recht als regelhafte Ordnung.« [5]Martin Avenarius, Der pseudo-ulpianische liber singularis regularum, 2005, S. 88. Davon seien dann die Prokulianer ausgegangen. Diese These vom Methodenwechsel wird allerdings wohl nicht allgemein akzeptiert. [6]Boudewijn Sirks in seiner Rezension des Buches von Avenarius, Gnomon 80, 2008, S. 325-330, S. 326.

Peter Stein veröffentlichte 1966 »Regulae Juris. From Juristic Rules to Legal Maxims« und verteidigte darin die zuvor insbesondere von Fritz Schulz begründete die Ansicht, die Römer hätten unter dem Einfluss platonischer Dialektik und aristotelischer Philosophie die Jurisprudenz zu einer »hellenistischen Fachwissenschaft« ausgebaut. [7]Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 45. Dagegen wandte sich insbesondere Bruno Schmidlin 1970 mit einer Arbeit »Die römischen Rechtsregeln (Versuch einer Typologie)«. [8]Dieter Nörr hat ihr 1972 einen großen Essay in der Savigny-Zeitschrift gewidmet. (Spruchregel und Generalisierung, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 89, 1972, 18-93).

Schulz (S. 44f) spricht von einer hellenistischen Periode der römischen Rechtswissenschaft beginnend mit dem Ende des Zweiten Punischen Krieges (201 v. Chr.) und endend mit der Aufrichtung des Prinzipats des Augustus (31 v. Chr.). Seine klare Position und Darstellung sei zitiert:

»Eine wesentliche Veränderung aber brachte die Übertragung der Dialektik auf die Rechtswissenschaft. Unter der dialektischen Methode verstand Platon kurz gesagt das Studium der Gattungen (genera und species). Die Gattungen sollen erkannt werden durch Trennung (differentia, διαίρεσις) auf der einen Seite und durch ›Synthese des Mannigfaltigen‹ (συναγωγή, σύνθεσις) auf der andern. Aus dem Studium der Gattungen sollen Prinzipien entwickelt werden, die für die verschiedenen Gattungen gelten und die das Verständnis der Einzelerscheinungen erschließen.« (S. 73)

Schulz weist dann darauf hin, dass die führenden Juristen mit der hellenistischen Philosophie vertraut waren, um fortzufahren: (S. 75)

»Die Verwertung der Dialektik in der Jurisprudenz führte zunächst, genau wie in den griechischen Philosophenschulen, zu einem planmäßigen Aufsuchen juristischer genera und species. Die technische Bezeichnung derartiger genetischer Trennungen ist seit Aristoteles ›διαίρεσις‹. Im Lateinischen wird das Wort wiedergegeben mit divisiones, distinctiones oder differentiae.

Nach einigen Beispielen heißt es weiter (S. 76):

»Genau den griechischen Vorbildern entsprechend arbeitet jetzt die römische Jurisprudenz. Pomponius berichtet [D.1,2,2,41]: Quintus Mucius Publii filius pontifex maximus ius civile primus constituit generatim in libros decem et octo redigendo.«

Generatim ist das Attribut, mit dem die dialektische Differenzierungsmethode gekennzeichnet wird. Sie dient den römischen Juristen dazu, System in die Kasuistik zu bringen, indem sie gleiche oder ähnliche Fälle zusammenfassen und Tatbestandselemente, die einen Unterschied machen sollen, als species davon abheben. Die Differenzierung – διαίρεσις – ist jedoch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Regel. »Es gilt jetzt, für die gefundenen genera und species Prinzipien zu entwickeln.« [9]Schulz S. 77. Der Prinzipienbegriff darf hier nicht im Sinne moderner Rechtstheorie verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um mehr oder weniger vollständige und mehr oder weniger bestimmte Rechtssätze. Prinzipien sind Grundsätze, die gemeinsam für ein genus gelten. Hier passt der von Karl Larenz geprägte Begriff der rechtssatzförmigen Prinzipien. [10]Zu diesen Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 284.

Daher kann Schulz fortfahren:

»Diese Prinzipien nennt die griechische Dialektik ὅροι oder κανόνες, die lateinische definitiones oder regulae. Die Übertragung der Dialektik zur Jurisprudenz führt also zur Aufstellung von regulae juris.« (S. 79)

Den Kern des Expertenstreits über die Differenz zwischen Prokulianern und Sabinianern bringt Wieacker (S. 439f) auf den Punkt, wenn er seine eigene Auffassung der von Peter Stein entgegenstellt:

»Danach scheint der weiteste klassische Begriff von regula: Juristenrecht, das durch eine abgeschlossene Diskussion als auctoritas festgestellt ist und daher der Beglaubigung durch Zitate und Argumente nicht mehr bedarf (regula tradita, vulgo dictum, definitio, constitutum). Natürlich liegt es im Wesen solcher Sätze, auf künftige Fälle unstreitig anwendbar zu sein, und die regula steht daher auch im Gegensatz zum jus singulare. [11]Verdunkelt wird der Gegensatz von Einzelfallentscheidung und Regel weiter durch das den Romanisten vertraute Begriffspaar jus commune und jus singulare. Das jus singulare unterscheidet sich vom jus … Continue reading Aber offenbar enthält regula keinen notwendigen Bezug auf eine durch wissenschaftliche Deduktion mit den Mitteln der Dialektik gewonnene Abstraktion oder Verallgemeinerung speziellerer Begriffe. Kürzer: Im Gegensatz zum Vf. [Peter Stein] glauben wir, daß bis zur nachklassischen Zeit regula mit dem Problem der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung durch ὅροι, γένη und εἶδη verhältnismäßig wenig zu tun gehabt hatte.«

Der Streit geht also darum, ob aus dem Einfluss aristotelischer Philosophie eine Regularjurisprudenz entstanden sei, die begonnen habe, das Recht nach genera und species zu ordnen. Noch einmal Wieacker (S. 442):

»Die klassische regula meinte mehr durch gefestigte Autorität unstreitig gewordenes Juristenrecht als zur Axiomatik hinstrebende Verallgemeinerung. Vollends an den Erfolg einer ›Wissenschaftlichen Revolution‹, die die römische Rechtstradition nach den Anweisungen der aristotelischen Wissenschaftslehre zu einem induktiv gewonnenen einheitlichen Ableitungs-zusammenhang umgestaltet hätte, glaubten wir weniger zuversichtlich als der Vf. [Stein].«

Diese von mir so genannte Hellenismuskontroverse hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der durch Theodor Viehweg ausgelösten Topik-Diskussion. Die betraf bekanntlich die Frage, ob man das zeitgenössische Recht in seiner wissenschaftlichen Verarbeitung als System begreifen könne oder ob es besser als rhetorisch-dialogisch-topische Veranstaltung zu charakterisieren sei. Auch Viehweg [12]Topik und Jurispudenz, 5. Aufl. 1974. sprach der römischen Jurisprudenz (und ebenso der modernen) Wissenschaftlichkeit im Sinne Aristotelischer Apodeiktik ab, sah in beiden aber ein anderes aristotelisches Konzept realisiert, nämlich die rhetorische Topik (Dialektik). So ist es kein Zufall, dass Franz Horak am Rande der Hellenismuskontroverse eine ebenso scharfe wie scharfsinnige Viehweg-Kritik formuliert hat. [13]Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, 45-64. In beiden Fällen sagt man heute: Pauschalurteile sind überholt. Die Dinge sind komplex und die eine wie die andere Vorstellung ist hilfreich, um sie zu verstehen. [14]So für die Hellenismuskontroverse Schmidlin 1976, 102, und für die Topikkontroverse Agnes Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtstheorie, Eine Untersuchung zu Rezeption und Relevanz der … Continue reading

Peter Stein und andere gehen wohl in der Tat zu weit, wenn sie bei den Römern die aristotelische Wissenschaftslehre (Apodeiktik) finden. Deren Kennzeichen besteht ja darin, dass sie eine evidente Prämisse an den Anfang setzt, aus der dann durch Deduktion weitere wahre Sätze abgeleitet werden. Davon kann aber im römischen Recht keine Rede sein. Andererseits waren die führenden Juristen mit dem Hellenismus vertraut und daher ist es

»unwahrscheinlich, daß Juristen wie Mucius Scaevola, Servius Sulpicius, Cascellius,. Trebatius, Labeo, deren dialektische Bildung von den Zeitgenossen bezeugt wird, ihr erlerntes Denken vor der Tür der Jurisprudenz ablegten, um nach Art der altväterlichen Kautelarjurisprudenz zu respondieren. … Nur gilt es, sich über das Ausmaß und die Art des Einflusses klar zu werden.« (Schmidlin 1976, 104.)

Schmidlin endet (1976 S. 127):

»Darum erfaßt regula iuris nicht nur Spruchregeln, sondern überhaupt alles, was normative Funktion übernehmen kann und dem funktionalen Sinn einer Rechtsregelung entspricht. Aber auch in den libri regularum vermischen sich die kasuistischen Leitsätze, Definitionen und Worterklärungen. Ihre methodologisch scharf gefaßten Urbilder in den horoi und pithana verschwimmen. Der Vermittlerdienst der dialektischen Aussagenlehre ist abgeschlossen, die regulae haben sich der juristischen Kasuistik assimiliert.«

Letztlich ist es wohl zutreffend, wenn James Gordley [15]James Gordley, The Jurists: A Critical History, Oxford 2013 S. 13. sagt, die Hellenismusthese

»obscure the unique contribution that the Roman jurists made, which was not to borrow from Greek philosophy, but rather to found an intellectual tradition of their own that approached problems in a different way. … Roman legal concepts were not abstract in the same way as those of Greek Philosophy. For the most part, they were taken from ordinary experience.«

Es wäre indessen zu eng, die Auffassungen römischer Juristen zum Verhältnis von Norm und Fall nur aus dem Gegensatz von Prokulianern und Sabinianern herauslesen zu wollen. Die römische Jurisprudenz ist älter. Und sie ist aus Entscheidungen geboren.

»In jeder Entscheidung ist unausgesprochen (undeclaredly) auch schon ein Prinzip für folgende Entscheidungen gegenwärtig. Mit dieser unauffälligen Feststellung des Vf. [Stein] ist schon die erste Wegkreuzung überschritten, an der sich entschied, ob es bei der irrationalen Spontaneität der Rechtsorakel, Gottesurteile oder des Medizinmannes bleiben sollte, der Sackgasse primitiver Kulturen, von der es keinen Weg in den Aufbau höherer und dauernder Gesellschaften gibt; oder ob die Entscheidung auf Vorwegnahme einer dauernden Regel menschlichen Zusammenlebens angelegt sein soll. Sich für diesen Weg entschieden zu haben, der den Weg in die nachmalige Größe des römischen Rechts eröffnete, ist ersichtlich das unermeßliche Verdienst der Pontifikaljurisprudenz.«

So Wieacker in seiner Rezension des eingangs erwähnten Buches von Peter Stein. [16]Franz Wieacker, (Rezension von) Peter Stein, Regulae Iuris. From Juristic Rules to Legal Maxims. University Press, Edinburgh 1966, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. … Continue reading Was Wieacker hier anspricht, ist die implizite Regelhaftigkeit von Entscheidungen.

Auf die erste Stufe impliziter Regelhaftigkeit folgt seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. die nächste, auf der römischen Juristen begannen, »neben der rein kasuistischen Fallbehandlung … das allgemeine Ergebnis der zahllosen Einzelentscheidungen zusammenfassend, abstrakte Rechtsregeln (regulae juris) aufzustellen«. [17]Waldstein/Rainer S. 151. »Generalisierende Rechtssätze [vom Typ nemo sibi causam possessionis ipse mutare potest] formulierten die Römer in großer Zahl.« [18]Böhr 2002, S. 2. Für diesen Vorgang hat Paul Jörs [19]Paul Jörs, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der Republik, I: Bis auf die Catonen. Berlin, 1888, S. 295ff. als Gegenbegriff zur Kasuistik die Bezeichung Regularjurisprudenz eingeführt. Ob diese Benennung angemessen ist, wird allerdings wiederum bestritten. Fritz Schulz meinte, sie müsse verschwinden und durch den Ausdruck »dialektische Jurisprudenz« ersetzt werden. (S. 80) Nörr (S. 19) hat andere Einwände gegen Jörs‘ Begriffsschöpfung:

»Das Wort regula sei der Juristensprache dieser Epoche noch fremd. Was Jörs unter regulae verstehe, sei unsicher. Soweit er damit die die Entscheidung tragenden Prinzipien meine, sei der Ausdruck zu weit, da jede rationale Jurisprudenz von der Verwendung solcher Prinzipien bestimmt sei. Soweit es um die Prägung von juristischen Sentenzen gehe, könne die von Jörs gemeinte Epoche vielleicht besonders produktiv gewesen sein; doch reiche einerseits diese Art der Regelbildung nicht zur Charakterisierung der Epoche aus, zum anderen sei die Verwendung von regulae auch in den folgenden Epochen der römischen Rechtswissenschaft bekannt und gewinne gerade in der Spät- und Nachklassik besondere Bedeutung.«

Man ist sich mindestens einig, dass die Juristen der späten Republik das Zivilrecht in einer Reihe von definitiones festzuhalten versuchten, die als zusammenfassende Beschreibungen der Rechtspraxis gedacht waren. Dazu kamen Abstraktionen wie die Einteilung von Sachen in corporales und incorporales (Gai. inst. 2, 14 = D 1, 8, 1, 1.). Diebstahlsobjekt war bei Scaevola nicht länger ein Pferd, sondern eine Sache. Es wurden verschiedene Formen des Besitzes unterschieden. Aber bei solchen Unterscheidungen mit Hilfe von Begriffen und Gegenbegriffen, Mengen und Teilmengen handelt es sich auf den ersten Blick nur um Differenzierungen, die heute als Schemata der Alltagslogik [20]Manfred Kienpointner, Alltagslogik, 1992, 250 ff. (Definitionsschemata, Genus-Spezies-Schemata, Ganzes-Teil-Schemata, Vergleichsschemata, Gegensatzschemata, Kausalschemata). gelten. Die Bildung unterschiedlicher species erfolgte jedoch im Hinblick darauf, dass sie jeweils unterschiedlichen Regeln gehorchen. Die Regel versteckt sich dabei hinter den Begriffen. [21]Dazu Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, S. 56 Fn. 42: »Normative Begriffe lassen sich ja als Komplexe von Forderungen … Continue reading Ähnlich liegt es mit Rechtsinstituten. Ein Beispiel wäre die Definition der Dienstbarkeit als einer Duldungspflicht. [22]Pomponius, D 8,1,15,1 (33 ad Sab.): Servitutium non ea natura est, ut aliquid faciat quis, …, sed ut aliquid patiatur aut non faciat. Die Definition begründet nur eine unvollständige Rechtsnorm, aus der erst im Rahmen einer lex contractus Verhaltenspflichten resultieren.

Wenn man sich bei der Suche nach abstrakten Normen im klassischen römischen Recht nicht auf den Ausdruck regula kapriziert, bleibt die Suche nicht erfolglos. Aber hinsichtlich der Frage, ob ob die zahlreich überlieferten regulae als Rechtsquelle normative Bedeutung hatten, eiert die Einschätzung ähnlich herum wie die moderne Diskussion um die Rechtsqualität von Richterrecht. Von der regula wird immer wieder gesagt, sie sei ein »Konzentrat kasuistischer Rechtserfahrungen«, man könne sie mit den Leitsätzen moderner Entscheidungssammlungen vergleichen (z. B. Schmidlin 1976, 118). Noch den zaghaften Versuch Schmidlins, jedenfalls die regulae iuris civilis als »echte« Normen von den einfachen regulae als bloßen Prinzipien oder Rechtsgrundsätzen zu unterscheiden, hat Nörr (S. 38f.) verworfen. [23]Anders wiederum Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte 1988, S. 593, der die Begriffsbildungen und Rechtsregeln der veteres als »ihrem Inhalt nach normativ (›präskriptiv‹)« bezeichnet und … Continue reading

[Schluss folgt bald.]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Peter Stein, Interpretation and Legal Reasoning in Roman Law, Chicago-Kent Law Review 70, 1995, 1539-1556, S. 1553f. Grundlegend Steins Monographie Regulae Iuris, From Juristic Rules to Legal Maxims, Edinburgh 1966; vgl. auch ders., Interpretation and Legal Reasoning in Roman Law, Chicago-Kent Law Review 70, 1995, 1539-1556.
2 Bruno Schmidlin, Horoi, pithana und regulae – Zum Einfluß der Rhetorik und Dialektik auf die juristische Regelbildung, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, 1976, 101-130.
3 Schmidlin S. 117f.
4 Nörr, SZ 89,1972, S. 36; Richard Böhr, Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, Ein Beitrag zur rechtshistorischen Spruchregelforschung, 2002, 49f.
5 Martin Avenarius, Der pseudo-ulpianische liber singularis regularum, 2005, S. 88.
6 Boudewijn Sirks in seiner Rezension des Buches von Avenarius, Gnomon 80, 2008, S. 325-330, S. 326.
7 Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 45.
8 Dieter Nörr hat ihr 1972 einen großen Essay in der Savigny-Zeitschrift gewidmet. (Spruchregel und Generalisierung, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 89, 1972, 18-93).
9 Schulz S. 77.
10 Zu diesen Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 284.
11 Verdunkelt wird der Gegensatz von Einzelfallentscheidung und Regel weiter durch das den Romanisten vertraute Begriffspaar jus commune und jus singulare. Das jus singulare unterscheidet sich vom jus commune nicht, wie es gelegentlich den Anschein hat, dadurch, dass ersterem der Regelcharakter fehlt, sondern dass es sich nicht in das allgemeinere System des letzteren einfügt.
12 Topik und Jurispudenz, 5. Aufl. 1974.
13 Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, 45-64.
14 So für die Hellenismuskontroverse Schmidlin 1976, 102, und für die Topikkontroverse Agnes Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtstheorie, Eine Untersuchung zu Rezeption und Relevanz der Rechtstheorie Theodor Viehwegs, 2010. Launhardt wird allerdings der Kritik von Viehwegs Lehre durch Horak nicht gerecht.
15 James Gordley, The Jurists: A Critical History, Oxford 2013 S. 13.
16 Franz Wieacker, (Rezension von) Peter Stein, Regulae Iuris. From Juristic Rules to Legal Maxims. University Press, Edinburgh 1966, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung, 434-443.
17 Waldstein/Rainer S. 151.
18 Böhr 2002, S. 2.
19 Paul Jörs, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der Republik, I: Bis auf die Catonen. Berlin, 1888, S. 295ff.
20 Manfred Kienpointner, Alltagslogik, 1992, 250 ff. (Definitionsschemata, Genus-Spezies-Schemata, Ganzes-Teil-Schemata, Vergleichsschemata, Gegensatzschemata, Kausalschemata).
21 Dazu Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, S. 56 Fn. 42: »Normative Begriffe lassen sich ja als Komplexe von Forderungen darstellen; sie verlangen bestimmte Handlungen und verbieten andere.«
22 Pomponius, D 8,1,15,1 (33 ad Sab.): Servitutium non ea natura est, ut aliquid faciat quis, …, sed ut aliquid patiatur aut non faciat.
23 Anders wiederum Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte 1988, S. 593, der die Begriffsbildungen und Rechtsregeln der veteres als »ihrem Inhalt nach normativ (›präskriptiv‹)« bezeichnet und fortfährt: »Erst in der ausgehenden Republik erscheinen als regulae und definitiones auch deskriptive Bestimmungen von Sach- und Rechtsbegriffen, die also (wie die meisten modernen ›Legaldefinitionen‹) bloße Rechtsfolgeverweisungen sind.«

Ähnliche Themen

Casus und Regula

Das Verhältnis von Casus und Regula, von Einzelfallenscheidung und Norm, ist ein uraltes Thema, das ebensowenig an Aktualität verloren hat wie es einer Lösung näher gekommen ist. Heute taucht das Problem besonders in folgenden Zusammenhängen auf:

  • in der Rechtsquellenlehre als Frage nach der Allgemeinheit des Gesetzes,
  • in der Methodenlehre als Forderung regelbewussten Entscheidens,
  • in der Kritik der von der Rechtsprechung nicht zuletzt des Bundesverfassungsgerichts geforderten Abwägung aller Umstände des Einzelfalls,
  • in der Vorstellung von Rechtsprinzipien, die an Stelle von Regeln juristische Entscheidungen leiten könnten,
  • in der Position des Regelskeptizismus, der besagt, dass Begriffe und folglich auch Regeln keine Bedeutung an sich haben, sondern ihre Bedeutung nur aus Summe der erinnerten oder vorgestellten Anwendungsfälle beziehen,
  • in der These von der Verschleifung von Regel und Entscheidung
  • bei der Suche nach einem theoretischen Verständnis von Abstraktion.

Es handelt sich bei der Frage nach dem Verhältnis von Regel und Fall wohl um ein Henne-Ei-Problem. Aber ich habe ein Vor-Urteil zugunsten der regula als Henne, und um mich dessen zu vergewissern, wollte ich eine Spur verfolgen die – einmal wieder – Niklas Luhmann gelegt hat. In »Recht der Gesellschaft« (S. 523) ist zu lesen:

»Für das römische und das mittelalterliche Rechtsdenken war ja die Regel nur eine brevis rerum narratio gewesen. Das in der Sache selbst liegende ius, das für gerecht befundene Recht war entscheidend. Daher konnte auch nicht davon die Rede sein, daß die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung einer sie legitimierenden Rechtsquelle bedürfe.«

Vorab will ich bekennen, dass ich mit meiner Spurensuche gescheitert bin. Aber auch das ist ein Ergebnis, das für das Sachproblem, also das Verhältnis von Regel und Fall, nicht irrelevant zu sein scheint. Deshalb soll hier von einigen Begegnungen auf der Suche berichtet werden. Denn immerhin, zwei Ergebnisse scheinen mir bemerkenwert. Erstens: Die Suche führt einmal wieder zur Konvergenzen zwischen unverbundenen wissenschaftlichen Dikussionssträngen. Zweitens: Das Luhmann-Zitat enthält zwei Sachaussagen. Die erste verneint den Regelcharakter römischen Rechts. Die zweite baut darauf auf und bestreitet die Existenz von legitimierenden Rechtsquellen. Beide Aussagen scheinen mir nicht haltbar zu sein.

Luhmann bezieht sich auf die berühmte Digestenstelle D. 50,17,1

Paulus libro sexto decimo ad Plautium. Regula est, quae rem quae est breviter enarrat. Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat. Per regulam igitur brevis rerum narratio traditur, et, ut ait Sabinus, quasi causae coniectio est, quae simul cum in aliquo vitiata est, perdit officium suum.
[Eine Regel ist die kurze Wiedergabe der Rechtslage. Das Recht wird nicht der Regel entnommen, sondern die Regel dem Recht, wie es ist. Eine Regel gibt wird also in kurzer Form die Rechtslage wieder. Sie bildet, wie Sabinus sagt, gleichsam eine Zusammenfassung der Gründe. Ist die Regel insoweit irgendwie fehlerhaft, verliert sie ihre Verbindlichkeit.]

Sie steht an der Spitze der justinianischen Regelsammlung D. 50, 17 De diversis regulis iuris antiqui. Dieser Text führt in die Prinzipatszeit zu den Rechtsschulen der Prokulianer und Sabinianer [1]Detlef Liebs, Rechtsschulen und Rechtsunterricht im Prinzipat, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der … Continue reading und ihrem (angeblichen?) Methodenstreit über den Vorrang von casus oder regula und er führt weiter in eine große Kontroverse unter Romanisten über den Einfluss griechischer Philosophie auf römische Juristen.

Die Prokulianer haben ihren Namen zwar von Sempronius Proculus, ihr Gründer war jedoch M. Antistius Labeo (54 v.Chr. – 10 oder 11 n.Chr.). [2]Paul Jörs, Antistius 34, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Band I, 2, 1894, Sp. 2548–2557 [http://de.wikisource.org/wiki/RE:Antistius_34]. Auch die Sabinianer tragen diesen Namen nicht nach ihrem Schulhaupt C. Ateius Capito, sondern nach Masurius Sabinus. Die Prokulianer gelten als die eher fortschrittlichen Reformer, die Sabinianer als eher konservativ. Das hat zunächst mit ihrer unterschiedlichen Einstellung zum Prinzipat zu tun. Labeo blieb der Gesinnung nach Republikaner, während Capito unter Augustus politische Karriere machte. [3]Vgl. dazu etwa Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 199ff.; Dieter Nörr, Pomponius oder »Zum Geschichtsverständnis der römischen Juristen«, in: Hildegard Temporini/Wolfgang … Continue reading Immerhin brachte es auch Labeo zum Praetor. Von der Sache her ist die Einschätzung Labeos als eher fortschrittlich überraschend, denn im Vergleich zu den Prokulianern erscheint er eher als formalistischer Begriffsjurist. Jedenfalls war er äußerst produktiv. Sextus Pomponius, der etwa 200 Jahre später die Geschichte des Römischen Recht aufzeichnete, berichtet (D. 1.2.2.47), Labeo habe das Konsulat abgelehnt, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen. Er soll 400 Buchrollen hinterlassen haben. Fögen hat nachgezählt:

»Seine Werke sollten so einflußreich werden wie die keines anderen der älteren Juristen: 563 Mal kommt Labeo in den Digesten zu Wort …. Sein Konkurrent Ateius Capito schafft es auf nicht mehr als sechs Erwähnungen.« [4]Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 202.

Eine lange Liste von sachlichen Meinungsverschiedenheiten zu einzelnen Rechtsfragen hat Liebs zusammengestellt. [5]Liebs aaO. hat sie S. 243ff. Dass es einen »Methodenstreit« gegeben hätte, ist dagegen nicht so sicher. Bei Waldstein/Rainer [6]Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 227. heißt es: »Die Kontroversen zwischen den beiden Schulen bezogen sich nur auf Einzelfragen, nicht auf Unterschiede in der juristischen Arbeitsweise oder im Denken.« Dagegen konstatiert Michael von Albrecht [7]Geschichte der römischen Literatur, 2012, S. 748 Fn. 5 einen deutlichen Unterschied:

»Die Sabinianer oder Cassianer stellen wissenschaftliches Denken (das in Rom notwendigerweise zuweilen an Stoisches erinnert) überwiegend in den Dienst der Ordnung des gesamten Rechts und der Bewahrung der Tradition; sie schreiben also vielfach Gesamtdarstellungen. Die Leistung der Proculianer (bei denen man neben stoischem auch peripatetischen Einfluß vermutet hat) liegt in der präzisen und logischen, auch vor Innovationen nicht zurückscheuenden Behandlung des Einzelfalles; ihre Schriften sind meist kasuistisch. Der Gegensatz verblaßt im 2. Jh.«

Okko Behrends ordnet das Rechtsdenken der Prokulianer als »institutionell« ein im Unterschied zu den »prinzipiell« verfahrenden Sabinianern. Institutionelles Rechtsdenken geht von Rechtsfiguren (Instituten) aus, die durch Gesetz oder Juristenarbeit entstanden sind mit der Folge, dass »die Berechtigungen und Haftungen, die aus ihnen fließen, als Rechtsfolgen fest und genau eingeplant sind. Sie sind juristische Klassenbegriffe, die entsprechend ihrer juristisch-technischen Fassung über Berechtigungen und Verpflichtungen genau Auskunft geben« (S. 16). Ein Prinzip dagegen wie Treu und Glauben (bona fides) das »sowohl im römischen Recht als auch gegenwärtig das schlechthin Bedeutendste ist und den präzisen Rechtsinstituten am schärfsten entgegengesetzt ist«, ist ein offenes Wertprinzip, das anleitet, die Entscheidung über Rechts und Pflichten nach den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu treffen. Hier schimmern immerhin unterschiedliche Auffassungen von dem Verhältnis von casus und regula durch. Später spricht Behrends spricht von zwei »geistigen Traditionen«:

» … die eine Tradition, die über die Sabinianer auf die veteres zurückgeht [denkt] sich ein umfassendes, alles ergreifendes und umfassend interpretierbares Recht (ein ius quod est) und mahnt daher: non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat, während die andere Tradition, die über die Prokulianer und Labeo auf Servius Sulpicius zurückgeht, sich das Recht als eine vom Menschen geschaffene, nicht erschöpfende, sondern gegenüber dem ungeregelten factum amtsrechtlich ergänzungsbedürftige, aber doch abschließend definierte Ordnung denkt und daher sagen kann: cum ius finitum et possit esse et debeat. [8]Es handelt sich um eine Sentenz des Prokulianers Neraz D. 22,6,2. Gleich ob man aber nun mit den Formalisten das Recht für eine jeweils abgeschlossene Ordnung von subsumtionsfähigen Regeln hält oder mit der Tradition der veteres für eine Summe von konkretisierungsfähigen und -bedürftigen Prinzipien, immer kann ich das Recht nur kennen, wenn ich die jeweilige Rechtstradition durchdringe.« [9]Okko Behrends, Der Kommentar in der römischen Rechtsliteratur (1995), in: ders., Institut und Prinzip, Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden … Continue reading

Worum es dabei letztlich ging, ist für Juristen oder gar Soziologen, die mit dem römischen Recht nicht wirklich vertraut sind, schwierig nachzuvollziehen, zumal sich nicht einmal die Experten einig sind. Ihre und meine Schwierigkeiten rühren daher, dass man sich die außerordentliche Leistung der römischen Jurisprudenz ohne Methode eigentlich nicht vorstellen kann, die Römer selbst ihre Methoden aber so gut wie gar nicht explizit reflektiert haben, so dass man auf Rekonstruktionen [10]Wie etwa von Max Kaser, Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, Ausgewählte, zum Teil grundlegend erneuerte Abhandlungen, Wien 1986. angewiesen ist.

[Fortsetzung folgt – wahrscheinlich.]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Detlef Liebs, Rechtsschulen und Rechtsunterricht im Prinzipat, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, Berlin [etc.] 1976, S. 197-286; Heinrich Vogt, Die sogenannten Rechtsschulen der Proculianer und der Sabinianer oder Cassianer, in: Dieter Nörr/Dieter Simon (Hg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Kunkel, Frankfurt a.M 1984, S. 515-521.These: Die beiden Rechtsschulen hat es real gegeben (Heinrich Vogt, Die sogenannten Rechtsschulen der Proculianer und der Sabinianer oder Cassianer, in: Dieter Nörr/Dieter Simon (Hg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Kunkel, 1984, 515-521).
2 Paul Jörs, Antistius 34, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Band I, 2, 1894, Sp. 2548–2557 [http://de.wikisource.org/wiki/RE:Antistius_34].
3 Vgl. dazu etwa Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 199ff.; Dieter Nörr, Pomponius oder »Zum Geschichtsverständnis der römischen Juristen«, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, 1976, S. 497-604, S. 573f.
4 Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 202.
5 Liebs aaO. hat sie S. 243ff.
6 Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 227.
7 Geschichte der römischen Literatur, 2012, S. 748 Fn. 5
8 Es handelt sich um eine Sentenz des Prokulianers Neraz D. 22,6,2.
9 Okko Behrends, Der Kommentar in der römischen Rechtsliteratur (1995), in: ders., Institut und Prinzip, Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden republikanischen Konzeptionen in den kaiserzeitlichen Rechtsschulen: ausgewählte Aufsätze, 2004, 225-266, S. 263.
10 Wie etwa von Max Kaser, Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, Ausgewählte, zum Teil grundlegend erneuerte Abhandlungen, Wien 1986.

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