Gerechtigkeit breitgetreten?

Unter dem Namen »Justitia Amplificata« – er weckt bei mir die Assoziation an getretenen Quark [1]Im Lexikon (Stowasser) wird amplificare etwas freundlicher mit »vermehren, vergrößern, erweitern« übersetzt. – meldet sich eine neue »Kolleg-Forschergruppe« an der Universität Frankfurt a. M. Immerhin ist es ihr gelungen, zur Eröffnungsveranstaltung am 4. Mai Ronald Dworkin als Redner zu gewinnen (Thema: Political Justice and Human Rights).
Die Gruppe wird von Prof. Stefan Gosepath und Prof. Rainer Forst geleitet. Beide gehören zu dem Exzellenzcluster »Normative Orders«, von dem im letzten Posting die Rede war. Wenn ich mir ihre Publikationslisten ansehe, habe ich den Eindruck, dass mir da Einiges entgangen sein könnte. Anscheinend gibt es zwischen Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und der Politischen Wissenschaft (nur für mich?) doch eine Fächergrenze. So schnell kann ich da nicht nachsehen, denn außer dem Artikel »Equality« von Gosepath in der Stanford Encyclopedia of Philosophy sind im Internet anscheinend keine Texte der Genannten zugänglich.
Die Forschergruppe will ein internationales Forum der wissenschaftlichen Diskussion des Begriffs der Gerechtigkeit bieten. Hinzukommen sollen Fragen der Umsetzungsmöglichkeit von Gerechtigkeitstheorien in der Praxis und nach der Erweiterbarkeit dieser Theorien auf soziale und politische Kontexte jenseits des Staates. Die letztere Frage scheint mir die interessantere zu sein. Sie war unter der Überschrift »Drittwirkung der Grundrechte« ein großes Thema der Jurisprudenz, und sie ist unter dem Titel »Corporate Social Responsibility« ein heißes Thema der Rechtssoziologie.
Nachtrag vom 8. 5. 2010: In der FAZ vom 6. Mai S. 29 berichtet Patrick Bahners unter der Überschrift »Würdeschutz durch Zwang?« über den Vortrag von Ronald Dworkin, »des berühmtesten Rechtsphilosophen der Welt«. Bahners weist darauf hin, dass amplificatio ein Begriff aus der Rhetorik ist. Er bezeichnet »die Kunst, einen Gedanken, der schon ausgesprochen ist, im Licht neuer Gesichtspunkte oder Beispiele hin und her zu wenden, bis ihn mutmaßlich jeder verstanden hat«. Wer weitere Aufklärung sucht, findet sie im Handbuch der literarischen Rhetorik von Heinrich Lausberg, 3. Aufl. 1990, in § 259 und passim. Wenn die wissenschaftliche Rechts- und Staatphilosophie gelegentlich den Eindruck erwecke, ihr Schicksal sei das Breittreten, so bezeuge die Frankfurter Namenswahl immerhin einen »Sinn für die Ambivalenzen der reflexiven Modernisierung des Wissenschaftssystems oder, schmal gesagt: für Ironie«. Das nenne ich Metaironie. Zwischen den Zeilen lese ich: Den Vortrag muss man nicht gehört haben, es sei denn, um einen großen Rhetor zu bewundern.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Im Lexikon (Stowasser) wird amplificare etwas freundlicher mit »vermehren, vergrößern, erweitern« übersetzt.

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