Kara Ben Nemsi und der vertikale Pluralismus

Kultureller Pluralismus ist angesagt. Er verlangt den Verzicht auf alles hegemoniale Gehabe oder, positiv formuliert, die Gleichschätzung aller Kulturen. Dabei kommt uns immer wieder die Vergangenheit in die Quere, in der kulturelle Überlegenheitsmuster eher die Regel als die Ausnahme waren. So stellt sich dann die Frage, ob man die Vergangenheit nach ihren eigenen Maßstäben oder nach heutigem Verständnis beurteilen soll. Natürlich, es kommt auf den Zeitabstand und den Verwendungszusammenhang des Urteils an. Der Historiker sollte die Athener nicht schelten, weil sie Sklavenhalter und wohl auch Päderasten waren. Der moralisierende Zeitgenosse dagegen darf der alten Bundesrepublik durchaus ihren freundlichen Umgang mit alten Nazis oder ihr feindlichen Umgang mit Homosexuellen vorwerfen. Aktuell stehen Kirche, Wissenschaft und Öffentlichkeit vor der Frage, wie sie mit dem Antisemitismus Luthers umgehen solllen.[1]

Auf der Suche nach Lektüre für einen Enkel bin ich auf ein Regal mit Bänden von Karl May gestoßen. Herausgegriffen habe ich den Band »Von Bagdad nach Stambul« – und ihn dann selbst (wieder-)gelesen. Karl May war ein Hochstapler, aber er hat niemanden geschädigt, sondern ein Millionenpublikum erfreut. Man mag seine Abenteuerromane für Trivialliteratur oder gar für Schund halten. Aber als solche waren sie großartig. Sie stillten das unendliche Unterhaltungsbedürfnis der Menschen, bevor es Kino und Fernsehen, Computerspiele und Youtube gab.

Die Abenteuer Kara Ben Nemsis auf dem Weg von »Bagdad nach Stambul« spielen in einer islamischen Umgebung, die in Hadschi Halef Omar ihren wichtigsten Repräsentanten findet. Natürlich stellt sich da die Frage nach dem Islambild, das Karl May mit seinen Orient-Romanen vermittelt. Die Recherche führt schnell zu einem Band von Inge Hofmann und Anton Vorbichler, Das Islam-Bild bei Karl May und der islamo-christliche Dialog, der 1979 in Wien erschienen ist.[2] Darin wird Karl May »die Verketzerung des Islam« vorgeworfen (S. 2). Die Karl-May-Lektüre, so erfährt man, vermittelt »ein Bild vom Islam und von den Muslimen, das geeignet ist, die Atmosphäre des Dialogs hoffnungslos zu vergiften.« (S. 3) So gehe etwa die Irrmeinung, der Islam habe der Frau abgesprochen, eine Seele zu haben, auf die Karl-May-Lektüre zurück. Hofmann/Vorbichler (S. 17) zitieren aus Bd. 34 der Gesammelten Werke Karl Mays mit autobiographischen Texten (»Ich«):

»Und über die Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenland, dem es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, machte mir allerlei schwere Gedanken. … Ich nahm mir vor,  … dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients zu wecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man versichert mir heute, dies nicht etwa bei nur wenigen, sondern bei Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, es zu glauben.«

Hofmann/Vorbichler kommentieren:

»Es wäre sehr schön gewesen, wenn das den Tatsachen entsprochen hätte!«

Deshalb prüfen sie nun die Islam-Darstellung Karl Mays auf ihre Korrektheit mit dem Ergebnis, dass sie durchgehend unhaltbar sei. Eigentlich hat Wolf-Dieter Bach längst das Notwendige zu der Kritik von Hofmann/Vorbichler gesagt[3]:

»Die gestrenge Frage, ob der Herr Puntila samt seinem Knecht typisch finnische Menschen seien, wäre so sinnvoll wie der Versuch, die Stellung des Glücksschweins im zoologischen System zu bestimmen. Und Brecht war Realist!

Auch Karl May sollte nicht an der ethnologischen und kultursoziologischen Stimmigkeit seiner Romane gemessen werden, wie dies die Autoren Hofmann und Vorbichler in ihrer Arbeit tun. Defoes Freitag, Coopers Chingachgook, Melvilles Queequeg sind allesamt keine getreuen Abschilderungen völkerkundlicher Realität. Der Orient, den Voltaire in »Zadig« beschrieb, hat nie existiert er ist genau so wenig authentisch nach wissenschaftlichem Maßstab wie jenes Morgenland, das Orientalen selbst uns schildern: Firdusi etwa, oder die Erzähler von Tausend-und-einer-Nacht. Und selbst ein als Tatsachenbericht sich ausweisendes Orientbuch eines historisch geschulten modernen Europäers wie »Die sieben Säulen der Weisheit« von T. E. Lawrence besteht eine genaue Realitätsprüfung nicht. Orient verführt zur Phantasie.

Kurzum: es ist eine Kinderei, May den Vorwurf zu machen, sein Bild vom Islam sei falsch und verzerrt. Gar keine Frage, daß es dies ist! Aber derlei selbst ohne Vorwurf festzustellen hieße nicht mehr, als der Literatur zu bescheinigen, daß sie sich nur selten peinlich genau an die Vorlagen dieser Welt hält – eine Binsenweisheit, kein Blatt Papier wert. «

Für Einzelheiten kann ich auf die Darstellung von Svenja Bach, Karl Mays Islambild und der Einfluss auf seine Leser (2010) verweisen, auch wenn die apologetische Tendenz der Arbeit nicht zu verkennen ist.[4]

Karl Mays Roman »Von Bagdad nach Stambul«, der in einer Gesamtauflage von 1,5 Millionen verbreitet wurde, ist 1892 erstmals als Buchausgabe erschienen, heute also über 125 Jahre alt. Nach dem Maßstab seiner Zeit war Karl May kein Scharfmacher, sondern eher Versöhner und Pazifist. Auf mich wirkt der Text auch heute noch eher islamophil als islamophob, so wenn er seinen Helden Kara Ben Nemsi bei der Bestattung eines Mohammed Emin mit erhobenen Händen die 75. Sure (Die Auferstehung) beten lässt oder wenn er ihm an anderer Stelle in den Mund legt:

»Allah ist überall, wo der Mensch den Glauben an ihn im Herzen trägt. Er wohnt in den Städten, und er blickt auf die Hammada; er wacht über den Wassern, und er rauscht durch das Dunkel des Urwaldes; er schafft im Innern der Erden und in den hohen Lüften; er regiert den leuchtenden Käfer und die blitzenden Sonnen; du hörst ihn im Jubel der Luft und in dem Rufe des Schmerzes; sein Auge glänzt aus der Thräne der Freude und schimmert aus dem Tropfen, mit welchem das Leid die Wange befeuchtet. Ich war in Städten, wo Millionen wohnen, und ich war in der Wüste, von jeder Wohnung weit entfernt, aber niemals habe ich gefürchtet, allein zu sein, denn ich wußte, daß Gottes Hand mich hielt.«

Auch über die Charakterisierung der Türken kann man sich in Zeiten Erdogans kaum noch aufregen, wenn es (S. 392) über den »kranken Mann am Bosporus« heißt:

» Der Türke ist ein Mensch, und einen Menschen macht man nicht damit gesund, daß die Nachbarn sich um sein Lager stellen und mit Säbeln ein Stück nach dem andern von seinem Leibe hacken, sie, die sie Christen sind. Einen kranken Mann macht man nicht tot, sondern man macht ihn gesund, denn er hat ein ebenso heiliges Recht, zu leben, wie jeder andere. Man entzieht seinem Körper die Krankheitsstoffe, welche ihm schädlich sind, und reicht ihm dagegen das Mittel, welches ihn heilt und wieder zu einem leistungsfähigen Menschen macht. Der Türke war einst ein zwar rauher, aber wackerer Nomade, ein ehrlicher, gutmütiger Geselle, der gern einem jeden gönnte, was ihm gehörte, sich aber auch etwas. Da wurde seine einfache Seele umsponnen von dem gefährlichen Gewebe islamitischer Schwärmereien und Eroberungsgelüste[5]; er verlor die Klarheit seines ja sonst schon ungeübten Urteils, wollte sich gern zurecht finden und wickelte sich nur umso tiefer in Wirrungen hinein. Da wurde der bärbeißige Geselle zornig, zornig gegen sich und andere; er wollte sich einmal Gewißheit schaffen, wollte sehen, ob es wahr sei, daß das Wort des Propheten auf der Spitze der Schwerter über den Erdkreis schreiten werde.«

Entscheidend ist, dass Karl May in seinem Orientzyklus nur den Informationsstand wiedergab, den er aus seinen unbenannten, aber zum großen Teil akademischen Quellen übernahm. Durch Karl May ist der Orientalismus breitenwirksam geworden, den Edward W. Said[6] in kritischer Absicht in erster Linie der akademischen Orientalistik vorgehalten hat. Das rechtfertigt aber keine Kritik an Karl May. Hier ist vertikaler Pluralismus angesagt. Der Pluralismus-Imperativ geriete mit sich selbst in Widerspruch, wenn er Karl May nicht nach den Maßstäben seiner Zeit beurteilte.

Davon abgesehen: Die Suche nach einem richtigen Islambild erweist sich auch für die Gegenwart als schwierig. Es gibt auch heute nicht das eine korrekte Islambild, und schon gar kein verbindliches. Den Maßstab, den Hofmann/Vorbichler anlegen, entnehmen sie einer Lehrbuch-Darstellung[7]. Die üblichen Lehrbuchdarstellungen zeigen einen idealisierten und abstrahierten Islam. Einen etwas realistischeren Eindruck bekommt man vielleicht aus der Lektüre des »Handbuchs Islam« von Ahmad A. Reidegeld oder aus Büchern des Juristen Jasmin Pacic.[8] Mein Eindruck war der einer totalitären Gesetzesreligion. Totalitär heißt hier, dass die Religion die Lebensführung ihrer Gläubigen vom Aufwachen bis zum Einschlafen in den Griff nimmt. Der Lehrbuch-Islam und erst recht der von Bassam Tibi und Mouhanad Khorchide geben kaum ein Bild von dem real existierenden Islam.

Der zentrale Vorwurf von Hofmann/Vorbichler lautet, Karl May habe durchgehend die Überlegenheit des christlichen Glaubens über den Islam zum Ausdruck gebracht, und sie versteigen sich zu der Behauptung:

»Ja – eben darum ging es Karl May: der Islam sollte vernichtet werden, sollte ausgelöscht werden, und dazu war jedes Mittel recht.« (S. 242)

Das Christentum, das Karl May in der Gestalt seiner Helden Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand vor sich her trägt, ist eher penetrant. Doch kann man es einem Gläubigen vorhalten, dass er seine eigene Religion für die überlegene oder gar für die einzig richtige hält? Die Theologen aller Religionen haben lange damit gerungen, ihren Absolutheitsanspruch soweit zu reduzieren, dass ein interreligiöser Dialog möglich ist und jedenfalls im politischen Raum der Grundsatz der Gleichberechtigung gelten kann.[9] Aber einen Romanhelden kann man nicht auf politische Korrektheit verpflichten. Und das Lesepublikum, auch das jugendliche, darf man nicht für so töricht halten, dass es einen Roman für bare Münze nimmt.

Die Ironie der Geschichte: Hofmann/Vorbichler zitieren den Bericht über einem zum Islam konvertierten Christen, der angibt, seine ersten Kenntnisse über den Islam Karl May (radiallahu anhu) zu verdanken.

[1] Die weitere Aktualität des Themas zeigt der Artikel von Arnold Bartetzky Die Tyrannei der Beleidigten in der FAZ vom 24. 8. 2016.

[2] Als Band 4 einer Reihe »Beiträge zur Afrikanistik« im Verlag Afro-Pub, als verfielfältigtes Manuskript ohne ISBN.

[3] Mit Mohammed an May vorbei. Zur Kritik I. Hofmanns und A. Vorbichlers an Karl Mays Islam-Phantasien,

[4] Sie ist als Sonderheft 142 der Karl-May-Gesellschaft erschienen.

[5] In dem im Internet verfügbaren Text heißt es »islamitischer Phantastereien, Lügen und Widersprüche«.

[6] Orientalism: Western Conceptions of the Orient, London 1978.

[7] Smail Balić, Ruf vom Minarett, Weltislam heute – Renaissance oder Rückfall? ; eine Selbstdarstellung, ein 1963. Ich habe nur die 3., überarb. Auflage von 1984 zur Hand.

[8] Fiqh ul-`Ibadat. Rechtsbestimmungen über die gottesdienstlichen Handlungen im Islam, Bd. I Reinheit, Gebet, Fasten, 2009; Islamisches Ehe- und Familienrecht, 2010.

[9] Als wissenschaftliches Standardwerk einer pluralistischen Religionstheologie gilt anscheinend Perry Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005. Ich habe nur die ausführliche Rezensionsabhandlung von Ulrich Winkler in der Salzburger Theologischen Zeitschrift 10, 2006, 290-318, gelesen. Was den muslimischen Standpunkt betrifft, habe ich keine zitierwürdige Stellungnahme gefunden. Als Basis dienen wohl Sure 2 »Al-Baqara« (190-194, 256), Sure 3 »Al-‘Imran« (62ff), Sure 9 (85), »At-Tauba«, Sure 16 »An-Nahl« (103-106) und die kurze Sure 109, insbsondere mit ihrem letzten Vers: »Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion.« Daraus lässt sich wohl allenfalls ein diskriminierender Inklusivismus entnehmen. Die eigene Lektüre des Koran führt aber nicht sehr weit, denn es wird dem Leser mit Sicherheit entgegengehalten, um den Koran zu verstehen, müsse er die arabische Sprache kennen (vgl. Sure 16, 103) und mit den Meinungen der Korangelehrten vertraut sein.

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