Implizites Wissen II: Kultur

Der Eintrag vom 3. Januar hatte implizit nur das implizite Wissen der Individuen zum Thema. Der Begriff wird jedoch auch für kollektive Wissensbestände verwendet. Ein Beispiel gibt Thomas Vesting in einem Beitrag [1]Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Zur Notwendigkeit der Neubewertung der symbolischen Dimension des Verfassungsrechts, in: Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), … Continue reading »Zur Notwendigkeit der Neubewertung der symbolischen Dimension des Verfassungsrechts«. Seine These ist, dass die vielbeschworene Einheit der Verfassung als von Experten gemanagte Rechtsinstitution verlorengegangen sei und nur als eine weitgehend implizite symbolische noch erhalten werden könne. Die symbolische Einheit der Verfassung wird als kollektives Phänomen ganz analog zu der immer prekären postmodernen Identität des Individuums vorgestellt. »Die symbolische Dimension der Verfassung wäre dann als Notwendigkeit eines kollektiv geteilten Glaubens an die ›Einheit‹ der Verfassung zu bestimmen, an die Vorstellung der Verfassung als eines gemeinsamen Bandes das sich artikulieren und in Szene setzen muss.« (S. 81) Für die symbolische Einheit der Verfassung sei zwar die laufende Expertenarbeit unentbehrlich. Aber sie müsse getragen werden von einem überindividuell verankerten Glauben, der durch die »Verfassungspoesie« der Medien verstärkt zu einer impliziten kulturellen Praxis werde. Dabei erweist Vesting sich als Heraklitäer: Es gibt nichts, was man festhalten könnte. Die Identitätsbildung ist das stets vorläufige, schwammige Ergebnis einer ständigen Sinnsuche mit Blick in Vergangenheit und Zukunft. Die Einheit der Verfassung ist nicht bloß eine explizit narrative, sondern steckt unausgesprochen im kollektiven Gedächtnis. »In die Verfassung ist ein auch über die unmittelbare Körperlichkeit der Schrifturkunde hinausgehendes ›symbolisches Kapital‹ eingetragen, das ›mitlaufen‹ muss und das letztlich – als eine Art precommitment, als implizites Wissen – in den Lebensformen einer Gesellschaft einen Widerhall finden muss.« (S. 87). In einer Formulierung Tenbrucks: »Obschon also alle Kultur durch symbolische Bedeutungen konstituiert wird, stecken diese vielfach implizit im Tun und dessen Gegenständen.« [2]Friedrich H. Tenbruck, Die Aufgaben der Kultursoziologie [1979 in KZfSS], Annali di Sociologia 1, 1985, 45-70, S. 49.

Das ist, wie gesagt, nur ein Beispiel. Der Begriff der Kultur ist bekanntlich höchst vielfältig. Oft steht er für das Unausgesprochene oder gar für das Unaussprechliche einer gesellschaftlichen Konstellation. Die Berufung auf eine besondere Kultur oder auch Rechtskultur wird dann zur »salvatorischen Klausel« [3]Tenbruck S. 58., mit der implizites Wissen, das man vermutet, aber nicht greifen kann, gerettet werden soll.



Anmerkungen

Anmerkungen
1 Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Zur Notwendigkeit der Neubewertung der symbolischen Dimension des Verfassungsrechts, in: Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen 2011, S. 71-93., in: Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen 2011, S. 71-93.
2 Friedrich H. Tenbruck, Die Aufgaben der Kultursoziologie [1979 in KZfSS], Annali di Sociologia 1, 1985, 45-70, S. 49.
3 Tenbruck S. 58.

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