Burri über soziologische Bildforschung

»Soziologie«, das Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, das für alle Mitglieder im Jahresbeitrag eingeschlossen ist, hat sich zu einer stattlichen Soziologie-Zeitschrift gemausert. Da vermutlich nicht alle Leser dieses Blogs Mitglieder der DGS sind, will ich auf einen Aufsatz hinweisen, der in Heft 1, 2009 von »Soziologie« erschienen ist: Regula Valérie Burri, Aktuelle Perspektiven soziologischer Bildforschung. Zum Visual Turn in der Soziologie (S. 24-39). Obwohl ich eigentlich glaubte, mit der Thematik vertraut zu sein, habe ich den Artikel mit Gewinn gelesen. Es setzt neue Akzente und zitiert andere Literatur. Mich irritiert ein bißchen der Akzent auf der konstruktivistischen Wissenschafts- und Technikforschung.
Burri selbst hat 2008 ein Buch mit dem Titel »Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder« veröffentlicht, das mir bisher entgangen war. Auf der Verlagsseite gibt es eine Leseprobe mit großen Teilen des Aufsatzes.
Den Aufsatz habe ich als Legal McLuhanite natürlich daraufhin gelesen, was Burri über das Recht zu sagen weiß. Das ist so wenig, dass ich es hier wörtlich zitieren kann:

Während die oben beschriebene Perspektive auf die Bilder in der Wissenschaft die Entstehung wissenschaftlicher Evidenz in den Vordergrund rückt, haben sich die kulturwissenschaftlichen Ansätze in der Wissenschaftsforschung zunächst mit der Rolle visueller Repräsentationen bei der Bildung juristischer Evidenz beschäftigt, indem sie die Verwendung wissenschaftlich-technischer Bilder in der Expertenkultur der Rechtsprechung rekonstruieren. Diese Ansätze gehen davon aus, dass die Zulassung von Bildern als Beweismittel in Gerichtsprozessen als Gradmesser für die gesellschaftliche Durchsetzung und kulturelle Akzeptanz des wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs visueller Repräsentationen interpretiert werden kann.

Als Beleg werden zwei ältere Arbeiten von Golan und Gugerli zitiert. [1]T. Golan, The Authority of Shadows: The Legal Embrace of the X-Ray, Historical Reflections 24, 1998, 437-458, und D. Gugerli, Soziotechnische Evidenzen. Der »pictorial turn« als Chance für die … Continue reading Die Arbeit von Tal Golan ist mir nicht zugänglich. [2]Serendipity: Auf der Suche habe ich eine schöne Arbeit von Ramón Reichert, Erotisch-voyeuristische Visualisierungstechniken im Röntgenfilm, gefunden, die Golan zitiert: … Continue reading In meiner Kopiensammlung fand sich jedoch von demselben Autor eine jüngere Arbeit, die anscheinend den Inhalt der älteren einschließt. [3]Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, 2002, S. 171-210. Darin erzählt Golan, wie sich Fotografien und vor allem Röntgenbilder erst langsam als Beweismittel durchsetzten. Bei Fotografien ging es zunächst um Probleme, die wir in Deutschland unter dem Stichwort »Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme« einordnen würden. Bei den Röntgenbildern kam die Abwehr der Ärzte hinzu, die fürchteten, solche Bilder könnten Haftpflichtprozesse auslösen. Außerdem gab es anfangs Zweifel an der Echtheit solcher Bilder und Probleme wegen ihrer Interpretationsbedürftigkeit, die erst mit der Professionalisierung der Radiologie ganz ausgeräumt werden konnten. Das ist ein hübsches Stück Rechtsgeschichte ohne eine Spur soziologischer Theorie.

Meniskusschaden im MRT
Meniskusschaden im MRT

Der Aufsatz von Gugerli ist im Internet zugänglich. Hier wird die Geschichte des anfänglichen Widerstands gegen die Akzeptanz von Röntgenbildern und Magnetresonanztomographiebildern als Beweismittel mit wissenssoziologischem Vokabular aufgewertet. Aber auch hier kann ich weder eine Hypothese noch ihre Einbettung in soziologische Theorie entdecken. Ich würde das Stück als ein – fraglos berichtenswertes– Kapitel Technik- und Rechtsgeschichte einordnen. Die visuelle Rechtskommunikation ist Burri weitgehend entgangen. Das ist keine Kritik an ihrem Buch, denn das hatte ein anderes Thema. Aber ein Übersichtsaufsatz über soziologische Bildforschung bleibt auf diese Weise lückenhaft.
Der kulturwissenschaftliche Staubsauger, den Burri benutzt, packt nur, was lose auf der Oberfläche liegt. Das ist auch anderen schon so gegangen, etwa mit dem Sammelband »Bildregime des Rechts«. [4]So der Titel eines Tagungsbandes, hrsg. von Cornelia Vismann, Thomas Weitin und Jean Baptiste Joly, Akademie Schloss Solitude, 2007. Kulturwissenschaftler sind anscheinend nicht bereit, sich näher auf den Objektbereich, über den sie reden wollen, einzulassen. Deshalb geben sie sich schon zufrieden, wenn sie »Überschneidungen zwischen den Bilderwelten und den Welten des Gesetzes« entdeckt haben. Die finden sie leicht im forensischen Bildgebrauch – daher ja auch die Beispiele Burris – , in der Kunst, im Urheber- und im Medienrecht. So entgeht ihnen, dass das Recht als Kommunikationssystem selbst auf Speicher- und Verbreitungsmedien angewiesen ist und an den Bildern nicht mehr vorbeikommt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 T. Golan, The Authority of Shadows: The Legal Embrace of the X-Ray, Historical Reflections 24, 1998, 437-458, und D. Gugerli, Soziotechnische Evidenzen. Der »pictorial turn« als Chance für die Geschichtswissenschaft, Traverse 3, 1999, 131-158.
2 Serendipity: Auf der Suche habe ich eine schöne Arbeit von Ramón Reichert, Erotisch-voyeuristische Visualisierungstechniken im Röntgenfilm, gefunden, die Golan zitiert: http://www.zeitenblicke.de/2008/3/reichert/index_html#d57e77.
3 Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, 2002, S. 171-210.
4 So der Titel eines Tagungsbandes, hrsg. von Cornelia Vismann, Thomas Weitin und Jean Baptiste Joly, Akademie Schloss Solitude, 2007.

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